Deutsches Heer - Zweites Deutsches Kaiserreich Eckhard Karlitzky Aufsätze und Aufsatz-Fragmente
Deutsches Heer - Zweites Deutsches KaiserreichEckhard KarlitzkyAufsätze und Aufsatz-Fragmente

Krieg 1914 Linker Heeresflügel

 

Aufsatz 1 Teil E Krieg und Niederlage

 

Der linke deutsche Heeresflügel südlich und südöstlich von Metz in Lothringen und im Elsaß

      Ausführliche Darstellung

 

Ausgangsthese:

Die Niederlage der Mittelmächte trat innerhalb der ersten sieben Kriegswochen ein.

 

Kampfabschnitt 1: Schlacht von Saarburg und Mörchingen (20. bis 22. August 1914)    

 

1.

In den Aufmarschanweisungen für das deutsche Heer, die bei Kriegsbeginn 1914 gültig waren, hieß es:

 

„Den Schutz der linken Flanke der Hauptkräfte des Heeres sollen neben den Festungen Diedenhofen und Metz die südöstlich Metz aufmarschierenden Heeresteile übernehmen.“

(Reichsarchiv, Der Weltkrieg Band I Der Feldzugsplan  für den Westen, Seite 64)

 

Auf deutscher Seite wurden eingesetzt:

 

  • Die 6. Armee enthielt die drei bayerischen Armeekorps, das XXI. deutsche Armee-korps und das I. bayer. Reservekorps. Sie marschierte im Raum zwischen der Festung Metz und den Vogesen auf. Ihr rechter Flügel war durch die Festung Metz gedeckt. Ein Zurückweichen vor einem französischen Angriff bis zurück zur Saar war in Aussicht genommen. Oberbefehlshaber war Kronprinz Rupprecht von Bayern, Generalstabchef Krafft von Dellmensingen.
  • Die  7. Armee formierte sich zunächst im  Elsaß.  Sie bestand aus dem XV. Armee-korps in Straßburg,  dem XIV. badischen Armeekorps und dem XIV. Reserve-korps. Die erste Aufgabe der beiden Armeekorps war es, den französischen Vorstoß in das obere Elsaß, den Sundgau, abzuwehren. Dort sollten sie aber nicht bleiben, sondern im Anschluss an den linken Flügel der 6. Armee verwendet werden. Oberbefehls-haber war  Josias v. Heeringen, Generalstabchef v. Hänisch.

 

v. Moltke entschied sich außerdem dafür, die sechseinhalb sogenannten Ersatz-Divisionen auf dem linken Heeresflügel zu verwenden. Die Bezeichnung als Divisionen ist irreführend.   Die Einheiten bestanden aus gemischten Ersatz-Brigaden, insgesamt 19 an der Zahl. Diese enthielten je 4 bis 6 Ersatz-Bataillone (teilweise mit je einem Ersatz-Maschinengewehrzug), einer Kavallerie-Ersatz-Abteilung, zwei Artillerie-Ersatz-Abteilungen (je zwei Kanonen-batterien), einer Pionier-Ersatz-Kompanie und einer Train-Ersatz-Abteilung. Die Einheiten besaßen keine Verkehrstruppen, Sanitätsformationen, Munitions-, Verpflegungs- und Nachschub-Kolonnen. Für einen Fronteinsatz waren sie nicht geeignet, wurden aber gleichwohl eingesetzt. Denn andere Truppen standen nicht zur Verfügung.

 

Außerdem gab es Landwehreinheiten. Das Reichsarchiv schreibt („Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, Textband, Organisation und Stärke des deutschen Kriegsheeres bei Ausbruch des Weltkrieges, Seite 215).

(Zitat)

„Doch ließen die völlig unzulängliche Ausstattung … mit Artillerie, das vollständige Fehlen von technischen Formationen, Munitions-Kolonnen und Trains eine Verwendung im Kampfe nur in sehr beschränktem Maße zu.“ (Zitat Ende)

 

 

Unter Einrechnung der Ersatzdivisionen teilt das Reichsarchiv die beiderseitigen Truppen-stärken während der Schlacht von Saarburg und Mörchingen wie folgt mit:

 

Deutsche 6. und 7. Armee          

328 Bataillone      143 Eskadrons 1766 Geschütze

 

Französische 1. und 2. Armee

420 Bataillone      161 Eskadrons 1648 Geschütze

 

2.

v. Moltke rechnete mit einem Hauptangriff des französischen Heeres gegen das Elsaß und gegen Lothringen (die sogenannten deutschen Reichslande). Da Frankreich seine im Frankfurter Frieden von 1871 abgetretenen Provinzen wieder haben wollte, so mußte es, dies war die Überzeugung v. Moltkes, schon um des nationalen Prestiges willen dort angreifen. Für den Aufmarsch der deutschen Truppen in den Reichslanden erteilte v. Moltke daher besonders eingehende Weisungen. Die deutsche OHL widmete den Kämpfen, die dort alsbald nach der beiderseitigen Mobilmachung am 2. August 1914 ausbrachen, ihre beson-dere Aufmerksamkeit.

 

Das französische Heer umfaßte fünf Armeen. v. Moltke hielt einen Angriff von drei dieser Armeen in Lothringen für wahrscheinlich. Darum zog er den deutschen linken Heeresflügel südlich von Metz zusammen. Das betraf zunächst die 6. Armee, zugleich wurde das das XIV. badische Armeekorps, das zur 7. Armee gehörte, aus dem Oberelsaß nordwärts nach Lothringen zum Anschluss an die 6. Armee beordert, um deren linke Flanke zu decken. Südlich davon schloss sich das XV. Straßburger Armeekorps an. Die 7. Armee hatte gemeinsam mit der 6. Armee zu operieren und wurde dieser unterstellt. Der südlichste Teil des Elsaß, der Sundgau, mußte nun mangels anderweitiger Truppen durch Landwehr verteidigt werden. Sie erlitt hohe Verluste.

 

Wie v. Moltke erwartete, griff die 1. französische Armee im Elsaß an, hatte aber nur teil-weise Erfolg. Das VII. französische Armeekorps stieß bereits am 7. August 1914 von Belfort aus in den Sundgau vor. Es wurde in einer Frontalschlacht vom XIV. und XV. Armeekorps zurückgeschlagen. Es entbrannten Kämpfe um die Vogesenpässe. Nachdem die beiden Armeekorps nach Lothringen und ins untere Elsaß verlegt worden waren, hatte die französische Armee in einem zweiten Anlauf dort mehr Erfolg. Es gelang ihr, Mülhausen wieder einzunehmen. Der Landwehr verhinderte jedoch einen Durchbruch der französischen Truppen in Richtung Straßburg. Ein französischer Angriff gegen die Breusch-Stellung am 14. August brachte den dortigen deutschen Truppen schwere Verluste. Aus der Sicht v. Moltkes war dies aber nur ein Neben-kriegsschauplatz, durch den man sich nicht ablenken lassen durfte, solange es sich nicht um einen Angriff französischer Hauptkräfte handelte.

 

Die 2. französische Armee ging über die Reichsgrenze in das deutsche Lothringen vor. War dies der erwartete französische Hauptangriff? In einem solchen Falle sollte die 6. Armee weiträumig nach Osten auf deutsches Gebiet ausweichen. Sie sollte sich nicht schlagen lassen. Das Reichsarchiv führt hierzu aus (Der Weltkrieg, Band 1, Die Ereignisse in den Deutschen Reichslanden bis zum 19. August Seite 204 unten):

 

(Zitat)

„Im Laufe des 16. August vollzog sich in der Auffassung der leitenden Stellen über die Lage eine neue, grundlegende Änderung. Am Vormittag trafen beim Armee-Oberkommando 6 Nachrichten aus dem Großen Hauptquartier ein, nach denen der Feind gegenüber der 6. und 7. Armee nicht  mehr so stark angenommen wurde als bisher, und es fraglich schien, ob er mit seinen Hauptkräften in Lothringen die Entscheidung suchen und in die ihm gestellte Falle hineingehen würde. …“ (Zitat Ende)

 

Die “zögernde tastende Art (wie die 2. französische Armee vorging, der Aufsatzverfasser) erweckte nicht den Eindruck einer großen, entscheidungssuchenden Offensive“ – schreibt das Reichsarchiv (Der Weltkrieg, Band 1, Die Ereignisse in den Deutschen Reichslanden bis zum 19. August Seite 205 unten). Auf Seite 208 heißt es dann in den Ausführungen des Reichsarchivs:

 

(Zitat)

Um Mitternacht des 17. zum 18. August traf der Abteilungschef in der Obersten Heeres-leitung, Oberstleutnant v. Dommes, in St. Avold ein. Im Auftrage des Generalobersten v. Moltke trug er dem Kronprinzen Rupprecht und dessen Generalstabchef die Anschauung der Obersten Heeresleitung vor. Diese ging dahin, daß zwar nicht mit einem Angriff der französischen Hauptkräfte, wohl aber mit dem Vorgehen erheblicher Teilkräfte nach Lothringen hinein zu rechnen wäre. Es wurde empfohlen … zunächst in Richtung auf die Saar und die Vogesen auszuweichen und demnächst den eingedrungenen Feind durch Angriff auf die Flügel entscheidend zu schlagen…“ (Zitat Ende)

 

Den Weisungen des Generalstabchefs v. Moltke entsprechend, zog sich die 6. Armee vor dem französischen Angriff hinter die Reichsgrenze zurück, stellenweise bis zu 40 Kilometer. Der Zeitpunkt des deutschen Gegenangriffs wurde der 6. Armee freigestellt. Dies teilte der Generalquartiermeister v. Stein deren Oberkommando mit. Die 6. Armee erhielt Handlungsfreiheit. Sie trug die Verantwortung für ihr Handeln. Auf die Ausführungen des Reichsarchivs in seinem Werk „Der Weltkrieg, Band 1, Die Ereignisse in den deutschen Reichslanden bis zum 19. August Seite 210/211“ wird hingewiesen.

 

Den Gedanken eines Zurückweichens bis hinter die Saar, wie von der OHL angedacht, gab das Oberkommando der 6. Armee als zu risikoreich auf. Kronprinz Rupprecht entschied sich, den Rückzug früher einzustellen und einen Gegenangriff zu führen. Als Zeitpunkt hatte er den 18. August ins Auge gefaßt, entschied sich dann aber für eine Verschiebung bis zum 20. August. Der Grund war, dass die 7. Armee Zeit für die Vorbereitung ihres Angriffs brauchte.  Eine Umfassung des Gegenrs durch Einheiten der 7. Armee, die südlich der 6. Armee an diese Anschloß, war beabsichtigt. Die Absicht, über den rechten Flügel der 6. Armee die französischen Truppen zu umfassen, wurde als undurchführbar verworfen. 

 

3.

Ab dem 20. August 1914 traten beide deutsche Armeen zum Gegenangriff an. Der 6. Armee gelang ein Überraschungsangriff. Sie warf die 2. französische Armee in einer dreitägigen Schlacht hinter die Reichsgrenze zurück. Diese erlitt hohe Verluste. Der Versuch, mit der 7. Armee die Flanke der 2. französischen Armee zu gewinnen, scheiterte. Die 7. Armee hatte in den unendlichen Waldgebieten der Vogesen schwere  und verlustreiche Kämpfe zu bestehen. Der Höhenzug des Donon blieb bis zum Abend des 21. August in französischer Hand. Die von den Oberkommandos der 6. und 7. Armee mit dem linken Flügel angestrebte Umfassung der französischen Armee scheiterte am hartnäckigen Widerstand des Gegners.

 

Die Kämpfe werden als „Schlacht von Saarburg und Mörchingen“ bezeichnet. Das Reichs-archiv handelt sie unter der Überschrift „Die Schlacht in Lothringen“ ab (Der Weltkrieg 1914 – 1918, Band I, Vierter Teil. Die Grenzschlachten, Zweites Kapitel). Über das Ergebnis der Schlacht schreibt es an späterer Stelle unter der Überschrift „Die Verfolgung“ (Fünfter Teil. Die Verfolgung. Drittes Kapitel Seite 568):

 

(Zitat)

„Die ersten großen Kämpfe in den Reichslanden waren am 22. August zu einem gewissen Abschluss gelangt. Der rechte Flügel der deutschen 6. Armee stand vor den französischen Befestigungen auf dem Grand Couronné und bei Nancy.  In der Mitte der Schlachtfront befand sich der geschlagene Gegner zu beiden Seiten des Sperrforts Manonviller im Rückzuge… Auf dem linken Flügel in den Vogesen hatten die Franzosen zwar endlich den Donon geräumt und den Col de Ste. Marie aufgeben müssen; sie hielten aber noch immer in hartnäckigem Widerstande den Vormarsch der deutschen Truppen auf…“

(Zitat Ende)

 

Der deutsche Gegenangriff war erfolgreich gewesen. Er hatte seinen Zweck, französische Kräfte zu binden, erfüllt. Es war Zeit gewonnen worden, die der rechte Heeresflügel für seinen weiten Vormarsch durch Belgien hindurch brauchte.

 

Anlass zur Kritik besteht insoweit, als v. Moltke die Ersatzdivisionen auf dem linken Heeresflügel einsetzte. Es handelte sich um insgesamt 86 Infanterie-Bataillone. Im Frieden war das nicht vorgesehen gewesen. Es war angedacht, die Ersatzdivisionen im Osten einzusetzen, oder in Belgien zur Rückensicherung des Schwenkungsflügels. Die einzige verfügbare Reserve wurde an falscher Stelle verwendet.

 

Wie es auf und mit dem linken Heeresflügel weiter gehen sollte, war die Frage.

 

 

 

Kampfabschnitt 2: Der Befehl zum Angriff nach Französisch-Lothringen

                                 (Angriff in die Pforte von Charmes -  Trouée de Charmes)

 

Wie sollte es mit dem linken Heeresflügel ab dem 23. August 1914  weitergehen? Wenn der sogenannte Schlieffenplan ausgeführt werden sollte, so ist die Antwort eindeutig. Man mußte dem linken Heeresflügel Truppeneinheiten entnehmen und sie durch die Festung Metz hindurch dem nördlichen Teil des Heeres, der fünf Armeen umfaßte, zuführen. In der Schwächung des linken Heeresflügels lag ein Risiko, das man in Kauf nehmen mußte. Der einstige deutsche Generalstabchef v. Schlieffen hielt einen französischen Angriff im Elsass und in Lothringen für unbedenklich. Sollten die Franzosen auch den Rhein erreichen, so würden sie sich schleunigst wieder zurückziehen, wenn die deutschen Armeen des rechten Heeresflügels vor Paris stünden.

 

Denkbare Aufgaben für zusätzliche Truppen gab es nördlich von Metz genügend:

 

  • Die 5. Armee marschierte zwischen Metz und Diedenhofen auf. In ihrem Vormarsch nach Frankreich hatte sie die Festung Verdun zu umgehen. Sie mußte ihre linke Flanke  sichern und dazu brauchte sie eine Verstärkung. (Tatsächlich forderte die Oberste Heeresleitung am 24. August eine Verstärkung beim Oberkommando der 6. Armee an!). Eine solche Verstärkung hätte der Heeresmitte in ihren schweren und verlustreichen Kämpfen, die sie in starker zahlenmäßiger Unterlegenheit zu bestehen hatte, kurzfristig Entlastung gebracht. Das wäre auch dem rechten Heeresflügel zugute gekommen.

 

  • Man konnte Truppen zur Flankensicherung des rechten Heeresflügels gegen Antwerpen und die Kanalhäfen vorführen. Das hätte diesem wieder seine ursprüngliche Stärke zurückgegeben. Für das britische Expeditionskorps war es wünschenswert, seinen Nachschub auf kürzestem Wege zu erhalten. Ein Ausweichen auf Kanalhäfen, die weiter westlich lagen, hätte eine Erschwernis bedeutet. Aus britischer Sicht ist es verwunderlich, dass die Sicht preußischer Generalstabsoffiziere nicht einmal bis zum Rande des Festlands reichte.

 

Das Oberkommando der 6. Armee erwartete, dass die Oberste Heeresleitung im Sinne des Schlieffenplans entscheiden werde. Das Reichsarchiv schreibt dazu (Der Weltkrieg, Band 1, Fünfter Teil. Die Verfolgung. Drittes Kapitel):

(Zitat)

(Reichsarchiv, aaO, Seite 568:))

„Das Oberkommando der 6. Armee glaubte den Feind vor der elsaß-lothringischen Front so geschwächt, daß von ihm für die nächste Operationszeit eine ernstliche Gefahr für die linke Flanke der deutschen Schwenkungsfront nicht mehr zu befürchten war. Die deutsche Kampfkraft hatte sich der französischen überlegen gezeigt, und man durfte hoffen, fortan in den Reichslanden mit wesentlich geringeren Kräften auszukommen. Die wichtigste der in den Aufmarschanweisungen festgelegten Aufgaben, Schutz der linken Flanke der Hauptkräfte, war erfüllt. Kronprinz Rupprecht beabsichtigte, die Verfolgung nur noch bis zur Meurthe fortzusetzen. Die Oberste Heeresleitung mußte dann über die 6. und 7. Armee weiter verfügen. Das Armee-Oberkommando 6 rechnete im Sinn der Aufmarschanweisung mit einer Verschiebung von Teilen der 6. Armee hinter den linken Flügel der Schwen-kungsfront. Dadurch konnte nach seiner Ansicht auch am schnellsten jede Gefahr für den inneren Flügel der 5. Armee

(Reichsarchiv, aaO, Seite 569:)

beseitigt werden. Es bestand der dringende Wunsch, vor dem Erreichen der Meurthe Klarheit über die weiteren Absichten der Obersten Heeresleitung zu gewinnen, um die Truppen rechtzeitig mit weiteren Weisungen versehen zu können. Der 21. und der Vormittag des 22. August vergingen indessen, ohne dass sich die Oberste Heeresleitung über ihre künftigen Pläne geäußert hätte.                                                                                            

Nach seinen Mitteilungen fragte der Chef des Generalstabes, General v. Krafft, daher in den ersten Nachmittagsstunden des 22. August durch Fernsprecher bei dem Chef der Operationsabteilung, Oberstleutnant Tappen, an. Er brachte dabei die Erwartung zum Ausdruck daß nun wohl „der dritte Fall der Aufmarschanweisungen“ in Betracht käme – gemeint war damit das Herausziehen von Kräften aus Lothringen zu Verschiebung über Metz an den Schwenkungsflügel heran –.

Nach kurzer Unterbrechung des Gesprächs, während der von Oberstleutnant Tappen die Entscheidung des Generalobersten v. Moltke eingeholt wurde, erging zum größten Erstaunen des Generals v. Krafft der Befehl: „Verfolgung Richtung Épinal“, übermittelt mit der Begründung: „In den Vogesen stecken noch starke französische Kräfte; die sollen abgeschnitten werden“. Damit endete das Gespräch, das eine neue folgenschwere Operation einleitete….

      (Hervorhebung durch den Aufsatzverfasser)

 

(Reichsarchiv, aaO, Seite 570:)

Mit dem kurzen, fernmündlichen Bescheid des Oberstleutnants Tappen über die zukünftigen Aufgaben des deutschen Südflügels wollte sich der Kronprinz von Bayern nicht begnügen. Er bat um 9:15 Uhr abends um baldige Mitteilung, „was die Oberste Heeresleitung nach dringend nötiger kurzer Ruhe für die Armee befehlen wird“. Bald darauf ging aus der Operationsabteilung durch Fernsprecher die vorläufige Weisung ein: „Ungesäumtes Zurückwerfen des Gegners in südlicher Richtung unter Abdrängung von Épinal dringend erwünscht“. Es ist nicht mit Sicherheit festzustellen, wodurch diese Abweichung von der wenige Stunden vorher geäußerten Absicht einer „Verfolgung Richtung Épinal“ verursacht worden ist…

(Reichsarchiv, aaO, Seite 571:)

Kronprinz Rupprecht erklärte sich mit diesen Vorschlägen, wenn auch mit innerem Widerstreben, einverstanden. Es waren inzwischen bei ihm die erbetenen Befehle der Obersten Heeresleitung eingetroffen, in denen die Forderung, den Feind von Épinal in südlicher Richtung abzudrängen, wiederholt wurde. Auf ausgiebige Sicherung gegen Nancy war hingewiesen, die schnelle Wiederaufnahme des Vormarsches als besonders bedeutungsvoll bezeichnet….

 

… Die Aussichten auf Erfolg waren daher von vornherein nicht allzu günstig.“

     (Ende des Zitats)

 

Mit Bestimmtheit läßt sich sagen, dass es Generalstabchef v. Moltke war, der den Befehl zur Weiterführung des Angriffs über sein ursprüngliches Ziel hinaus erteilte. Wer behaupten will, bei dem Vorstoß der 6. Armee nach Französisch-Lothringen ab dem 23. August 1914 habe es sich um eine Eigenmächtigkeit des Kronprinzen Rupprecht gehandelt, möge den Widerspruch zu den Ausführungen des Reichsarchivs erklären, Dies ist der Grund, weshalb das Zitat hier so ausführlich wiedergegeben wird.

 

Dem Aufsatzverfasser sei an dieser Stelle eine Vorweg-Anmerkung gestattet: Der Ausdruck, dass der Gegner „abgedrängt“ werden soll, kehrt in den Anweisungen der OHL vom 5. September 1914 wieder. In ihnen heißt es,  das französische Heer von Paris „abzudrängen“, sei nicht gelungen. Die Zielsetzung der OHL bestand nicht darin, feindliche Einheiten zu vernichten, sondern in einem bloßen „abdrängen“, das dann irgendwie zur Niederlage des Gegners führen sollte.

 

 

Kampfabschnitt 2 Die Schlacht in der Pforte von Charmes (Trouée de Charmes)

                                     (23. bis 27. August 1914)

 

Als Pforte von Charmes (Trouée de Charmes) bezeichnet man eine Senke an der oberen Mosel, die zwischen den französischen Festungen Épinal und Toul liegt. Die Senke selbst war von Befestigungen frei. Durch die Nachbarschaft der beiden erwähnten Festungen war ein Vorstoß in die Senke ein Selbstmord-Unternehmen, da es sich um eine der stärksten Verteidigungsstellungen Frankreichs handelte. Der Zugang in die Senke wurde durch das Sperrfort Manonviller geschützt. v. Moltke befahl am Abend des 22. August 1914 einen Angriff gegen die Pforte von Charmes und hielt bis zum 9. September 1914 daran fest.

 

Das Reichsarchiv verwendet den Ausdruck „Schlacht in der Pforte von Charmes“ nicht. Bei ihm wird die Schlacht unter der Überschrift „Die Kämpfe des linken deutschen Flügels bis zum 27. August“ abgehandelt  (Der Weltkrieg 1914 – 1918, Band I, Fünfter Teil. Die Verfolgung. Drittes Kapitel). In der französischen und britischen Literatur ist der Ausdruck gebräuchlich (Bataille de la trouée de Charmes und Battle of the trouée de Charmes). Er bringt zum Ausdruck, dass es sich um eine eigenständige Schlacht handelt. Sie endete mit einem Sieg der 2. französischen Armee und einer schweren Niederlage der 6. deutschen Armee. Der Angriff hätte niemals unternommen werden dürfen. Er war eine Fehl-entscheidung des Generalstabchefs v. Moltke. Das Reichsarchiv schildert die Kämpfe eingehend, vermeidet aber den Ausdruck „Niederlage“. Dafür mag es einstmals Gründe gegeben haben. Einhundert Jahre später sind keine Gründe mehr gegeben, dieses Unwort zu vermeiden.

 

1.

In seinem Werk „Der Weltkrieg 1914 bis 1918 Band 1 teilt das Reichsarchiv die Kämpfe in der Zeit vom 20. bis 25./27. August 1914 in zwei Teile auf:

 

Die Grenzschlachten (im Westen)

darunter „Die Schlacht in Lothringen“ – vorstehend als Kampfabschnitt 1 dargestellt

und

Die Verfolgung (im Westen)

darunter „die Kämpfe des deutschen linken Flügels bis zum 27. August“ – Kampfabschnitt 2 in der Darstellung dieses Aufsatzes

 

Ohne das Reichsarchiv kritisieren zu wollen – denn eine zusammenfassende  Darstellung der Kämpfe war ungemein schwierig -, muß gesagt werden, dass diese Darstellung zu Fehlinter-pretationen geführt hat. Es liegt nahe, entsprechend der vom Reichsarchiv gewählten Überschrift für die Kämpfe ab dem 23. August 1914 von einer „Verfolgung“ zu sprechen. Das ist jedoch irrig.

 

Bereits die Formulierung des Moltke’schen Angriffsbefehls am Abend des 22. August 1914 „Abdrängen von Épinal“ (anstatt ursprünglich „Verfolgung“) deutet darauf hin, dass es sich dabei nicht um eine bloße Verfolgung des bei der 6. Armee geschlagenen Gegners handelte. In den nächsten Tagen stellte sich heraus, dass es v. Moltke in Wahrheit um einen Durch-bruch zwischen den Festungen Épinal und Toul zur oberen Mosel ging. Der vorstehend wiedergegebene Befehl, die französischen Truppen zurückzuwerfen, war als Einleitung zu diesem Durchbruch gedacht. So sagte es ein Generalstabsoffizier der OHL, der am Abend des 25. August 1914 im Hauptquartier der 6. Armee erschien (Reichsarchiv, Der Weltkrieg, Band 1, Die Verfolgung, Seite 592/593).

 

Mit der ursprünglichen Aufgabenstellung des linken Heeresflügels hatte das nichts mehr zu tun. Die Entscheidung sollte, so der ursprüngliche Feldzugsplan, auf dem rechten Heeresflügel in Belgien und Nordfrankreich gesucht werden. Der linke Heeresflügel sollte diese Operation absichern. Mit dem Sieg in der Schlacht von Saarburg und Mörchingen war diese Aufgabe erfolgreich erledigt. Die Truppen des linken Heeresflügels wurden zu anderweitiger Verwendung frei. v. Moltke gab dem linken Heeresflügel nunmehr ein gänzlich anderes Ziel. Festzuhalten ist, dass die geänderte Zielvorgabe bereits am Abend des 22. August 1914 erfolgte.

 

Trotz der Niederlage durch den französischen Gegenangriff (25. bis 27. August 1914) hielt v. Moltke unbeirrt bis zum 9. September 1914 an dem Durchbruchs-Ziel zur oberen Mosel fest. Es findet sich in späteren Anweisungen der OHL immer wieder und wird zum eigentlichen Ziel oder Ersatzziel, nachdem der ursprüngliche Feldzugsplan als gescheitert angesehen wurde. Die Aussichten, dies zu erreichen, waren gleich Null. Die OHL litt an einem Realitätsverlust. v. Moltke war starrsinnig und nicht fähig, sich sein Scheitern einzugestehen.

 

Der frühere Generalstabchef v. Schlieffen hatte an der Westfront eine Wechselwirkung gesehen: einem starken rechten Heeresflügel stand ein schwacher linker Flügel gegenüber. Mit dem starken rechten Heeresflügel sollte die Entscheidung gesucht werden. v. Moltke wollte auf beiden Flügeln der Westfront schlagen. Dazu reichten die Kräfte nicht aus. Das deutsche Heer war seinem Gegner – dem französischen Heer mit britischem Expeditions-korps und belgischer Armee – bei der Infanterie zahlenmäßig weit unterlegen. Besonders deutlich trat die Unterlegenheit bei der Heeresmitte hervor. Wer gewinnen wollte, mußte sich auf  e  i n e n  Schwerpunkt beschränken. Voraussetzung für einen Sieg war die Einsicht in die eigene Unterlegenheit und die dadurch beschränkten Möglichkeiten. An dieser fehlte es bei v. Moltke. Hinzu trat eine Überschätzung der eigenen Erfolge, die zu dem Wahn führte, es gelte nur noch, einem bereits geschlagenen Gegner den Rest zu geben.

 

v. Moltke wollte auf beiden Heeresflügeln schlagen – und scheiterte auf beiden.


2.

Das Reichsarchiv hat die Ereignisse, die vom 20. bis zum 25. August 1914 auf dem linken deutschen Heeresflügel stattfanden, auf einer Karte 4 dargestellt, die es dem I. Band seines Werkes über den 1. Weltkrieg beigab. Die Unterscheidung zwischen  dem Angriff vom 20. August und seiner späteren Fortführung nach Französisch-Lothringen hinein am 23. August 1914 wird optisch sichtbar gemacht und zugleich die Richtung der beiderseitigen Angriffe. Blickt man auf die Karte, so stellt  man  fest:

 

Der Angriff vom 23. August 1914 zielte in den Raum zwischen den französischen Festungen Épinal und Toul. Im System der französischen Ostfestungen war dort eine Lücke gelassen, die einen potentiellen Gegner zu einem Angriff  verleiten konnte. Das war die Pforte von Charmes. Jedoch gab es an der Grenze das Sperrfort Manonviller. Es konnte die Vormarschstraßen in die Lücke zwischen den Festungen unter Feuer nehmen. Die Eroberung brauchte Zeit, da zuerst schwerste Artillerie herbeigeschafft werden mußte, und gelang erst am 27. August 1914 (Kapitulation des Sperrforts).

 

Östlich von Toul und seiner Festung liegt die Stadt Nancy. Nach Osten waren umfangreiche Befestigungsanlagen bis an die Grenze Frankreichs vorgeschoben. Sie begrenzten den Raum, der den deutschen Truppen für ihren Angriff zur Verfügung stand. Eine Entfaltung war diesen nicht möglich. Gerhard Tappen, der Leiter der Operationsabteilung in der Obersten Heeresleitung, forderte von der 6. Armee eine Flankensicherung. Dies entsprach der Schulmeinung, war aber unter den gegebenen örtlichen Verhältnisses nicht ausführbar. Die französischen Artilleriestellungen waren schlichtweg zu stark.

 

3.

Die Truppen der 6. und 7. Armee kamen mit ihrem Angriff ab dem 23. August nur mühsam und unter schweren Verlusten vorwärts. Sie konnten nur sehr beengt und auf schmalem Raum vorwärtsgehen. Das Feuer der Artillerie des französischen Sperrforts Manonviller erwies sich als sehr wirksam. Die französische Armee verstand sich darauf, ihre Einheiten geordnet zurückzuziehen und den deutschen Armeen schwere Nachhutgefechte zu liefern. Das Reichsarchiv teilt mit (Der Weltkrieg, Band 1, Fünfter Teil. Die Verfolgung. Drittes Kapitel Seite 583):

(Zitat)

„In einem Bericht vom 24. August an Generaloberst v. Moltke legte der Chef des General-stabes der 6. Armee ausführlich die Lage dar. Der Gegner wäre zwar geschlagen und hätte schwere Einbuße erlitten, es stünden ihm aber noch starke, frische Kräfte zur Verfügung, so daß die beiden deutschen Armeen in Lothringen für eine großzügige Verfolgung noch keinesfalls freie Bahn vor sich fänden. Vielmehr müßten sich die Korps in unaufhörlichen Kämpfen langsam vorwärtsringen. Die Infanterie wäre am Ende ihrer Kräfte. Die Heeres-kavallerie wäre gerade zur entscheidenden Stunde völlig zusammengebrochen gewesen, so daß ihr Ruhe gewährt werden müßte…

 

Die Oberste Heeresleitung vertrat nach einer Mitteilung des jetzigen Generalleutnants Tappen die Auffassung, daß, wenngleich sich die Hoffnung auf eine Vernichtung des geschlagenen Gegners nicht zu erfüllen schien, doch mit Sicherheit wenigstens eine Fesselung der gegenüberstehenden feindlichen Kräfte zu erreichen wäre. Je mehr der Feind auch hier zermürbt und geschlagen wurde, umso günstiger mußte sich die beginnende Verfolgung des rechten deutschen Heeresflügels und damit die Gesamtlage gestalten.“

(Ende des Zitats)

 

Hier deutet sich der Gedanke einer „Zermürbungsstrategie“ an. Der Gegner soll bis zum Weißbluten gebracht werden. Das gelang nicht. Stattdessen wurde die eigene Truppe zugrunde gerichtet, da sie unter den für sie denkbar ungünstigsten Bedingungen zu kämpfen hatte. Tappen begriff nicht, dass man die eigenen Einheiten dort einsetzen muss, wo sie erfolgreich kämpfen können. Der Gegner war nicht zu „fesseln“, sondern zu schlagen – wenn man gewinnen wollte. Die Stärke des deutschen Heeres war der Bewegungskrieg. Nur in einem solchen konnte es den Krieg gewinnen. Der Angriff in eine Festungsfront hinein war unbedingt zu vermeiden. In Wahrheit war diese „Strategie“ ein Offenbarungseid. Tappen fiel nichts anderes ein. Seine Behauptungen sind nicht schlüssig. Der französische General-stabchef konnte Truppen von seiner Festungsfront abziehen, ohne daß die 6. und 7. Armee dies verhindern konnten – und das tat er auch.

 

4.

Am 25. August 1914 begann die 2. französische Armee einen Gegenangriff. Er brachte die deutschen Truppen in schwerste Bedrängnis und zwang sie zum Zurückgehen. Das Reichs-archiv berichtet, wie sich die Lage bis zum 26. August 1914 entwickelte (Der Weltkrieg, Band 1,  Die Verfolgung. Drittes Kapitel Seite 594). Ein Auszug sei hier wiedergegeben:

(Zitat)

„Der Hauptangriff der Franzosen richtete sich an diesem Tage gegen das durch die ununter-brochenen Anstrengungen und verlustreichen Kämpfe bei ungenügender Verpflegung schwer erschöpfte II. bayerische Armeekorps. Die Infanterie hatte bis zu drei Viertel ihres Bestandes eingebüßt. Auf den Rückschlag des 25. August war eine unruhige Nacht gefolgt. Gegen-seitige Beschießungen zeugten von der Nervosität, die um sich gegriffen hatte. Von seinen nach Norden laufenden Verbindungen war das Korps durch die Zurückverlegung der Front nördlich Lunéville völlig abgeschnitten. Der Nachschub an Verpflegung und Munition stockte.

 

Vom frühen Morgen an lag schweres feindliches Artilleriefeuer auf der ganzen Front, das die an Zahl und Kaliber unterlegene eigene Artillerie, die überdies Mangel an Munition litt, nur schwach erwidern konnte. Umfassungsversuche des Feindes … gegen den rechten Flügel der 4. Infanterie-Division wurden … abgewehrt. Allein nach stundenlanger mit unverminderter Kraft fortgesetzter Beschießung begann gegen 10:30 Uhr vormittags die gesamte Front zu wanken und musste schließlich unter dem Feuer der feindlichen Artillerie zurückgenommen werden. Der Feind folgte nicht….

 

(26. August 1914)

(Seite 599:)

„…Um 8:50 Uhr abends gab die Oberste Heeresleitung auf einen durch Fernspruch übermittelten Antrag des Kronprinzen Rupprecht, von der weiteren Verfolgung befreit zu werden, ihr Einverständnis, daß von einem Vorwärtsschreiten nach Süden Abstand genommen werden könne, wenn der rechte Flügel der 6.  Armee gestärkt werden müsste.

 

Nunmehr konnte Kronprinz Rupprecht die Anweisung geben, dass die beiden Armeen sich in den gegenwärtig erreichten Stellungen verteidigen sollten. Vor allem war es notwendig, den im Bereich des II. bayerischen Armeekorps noch immer drohenden Durchbruch zu verhindern. Nach Meldung seines Kommandierenden Generals war es nicht mehr imstande, am nächsten Tage „einen ernstlich erneuerten Durchbruchsversuch des Feindes aus eigener Kraft“ abzuwehren…“                                                                                          

(Seite 603:)

„Nach dem Verlauf des Vormittags des 27. August schien der vor zwei Tagen begonnene Gegenstoß des Feindes sein Ende erreicht oder zum mindesten sich erschöpft zu haben. Die deutschen Linien hatten sich geschlossen, die Stellungen waren befestigt, an den gefährdeten Punkten standen Reserven bereit. Der Fall von Manonviller im Rücken der Armeen war in kürzester Zeit zu erwarten. Das Armee-Oberkommando 6 gab mittags in einer Meldung an die Oberste Heeresleitung seiner Überzeugung Ausdruck, dass die Krise überwunden sei. Damit hatte sich in Lothringen, nachdem der Vormarsch der deutschen Armeen zum Stehen gekommen und der Gegenstoß des Feindes abgewehrt war, eine Gleichgewichtslage gebildet.

Starke französische Kräfte waren hier gefesselt, die vor dem entscheidenden rechten deutschen Heeresflügel nicht zur Stelle sein konnten.“

(Ende des Zitats)

 

Hier sieht sich der Aufsatzverfasser zu einer Anmerkung veranlaßt:

Dass der französische Generalstabchef keine Truppen abziehen konnte, ist eine Unterstellung des Reichsarchivs. Sie wird an späterer Stelle vom Reichsarchiv nicht aufrechterhalten. In den von ihm zitierten Anweisungen der Obersten Heeresleitung vom 5. September 1914 heißt es:

(Zitat)

„Meldungen und sichere Agentennachrichten lassen ferner den Schluß zu, daß der Feind aus der Linie Toul – Belfort Truppen nach Westen befördert…“ (Zitat Ende)

 

Die hier angesprochenen Meldungen usw. liefen bei der OHL schon ab Anfang September 1914 ein. Sie hätten v. Moltke zum Handeln veranlassen müssen.

 

 

 

 

Kampfabschnitt 3 Deutsche Angriffe gegenüber Nancy - Epinal

                                    (Anfang September bis zum 9. September 1914)

 

Der Angriff des linken deutschen Heeresflügels ab dem 23. August 1914 bis zum 27. August 1914 hatte mit einer Niederlage und schweren Verlusten geendet. Ein positives Ergebnis bestand in der Wegnahme des Sperrforts Manonviller. Sie hätte sich auch in einem örtlich begrenzten Angriff erreichen lassen. Wie sollte es weitergehen? Darüber entbrannte ein Meinungsstreit, es kam zu einem mehrtägigen Hin und Her und schließlich zu einer verlustreichen Schein-Lösung, die nicht durchgehalten wurde – der Schlacht auf dem Grand Couronné und der „Position de Nancy“.

 

1.

Das Reichsarchiv zeigt auf, dass ab 28. August 1914 ein Meinungsgegensatz zwischen dem Oberkommando der 6. Armee und der Obersten Heeresleitung (OHL) bestand:

 

  • Das Oberkommando der 6. Armee wollte den Soldaten mehrere Tage Ruhe gönnen, den Nachschub regeln und die Kampffähigkeit der Verbände wieder herstellen. Die von der OHL geforderte „äußerste Erschöpfung“ der Soldaten war eingetreten, der Erfolg nicht. Die Kampfhandlungen waren auf das Unvermeidbare zu beschränken. Auch das Oberkommando der 7. Armee wollte mehrere Tage Ruhe halten.

 

  • Die OHL war nicht damit einverstanden, dass die beiden  Armeen Ruhe hielten. Sie befahl am Abend des 27. August 1914 (Reicharchiv, Der Weltkrieg 1914-1918 Band 3 Der Marne-Feldzug, zitiert aus Seite 9):

 

„Die 6. Armee mit 7. Armee .. hat zunächst im Anschluss an Metz ein Vordringen des Gegners in Lothringen und das obere Elsass abzuwehren. Die Festung Metz wird der 6. Armee unterstellt. Geht der Gegner zurück, so überschreitet die 6. Armee … die Mosel zwischen Toul und Épinal und nimmt die allgemeine Richtung auf Neufchateau. Der Armee fällt dann der Schutz der linken Flanke des Heeres zu. Nancy und Toul sind abzuschließen, gegen Épinal ist ausreichend zu sichern...

 

Die 7. Armee bleibt zunächst der 6. Armee unterstellt, Geht diese über die Mosel vor so wird die 7. Armee selbständig. Die Festung Straßburg und die Oberrhein-Befestigungen mit den zugehörigen Truppen bleiben ihr unterstellt. Die Armee verhindert dann ein Vorbrechen des Gegners zwischen Épinal und der Schweizer Grenze…“

(Ende des Zitats)

 

Die OHL litt unter Realitätsverlust. Sie erwartete einen Rückzug des Gegners; die 6. Armee sollte dann nachstoßen über die Mosel. Offenbar hatte die OHL die Niederlage vom 25. – 27. August nicht zur Kenntnis genommen oder nicht begriffen. Nach der soeben eingetretenen Niederlage der 6. Armee war nicht mehr daran zu denken, dass sie mit einem erneuten Angriff in die Pforte von Charmes einen Sieg davontragen könnte. Die Hoffnung, dass andere deutsche Armeen ihr von Norden her westwärts der Festung Toul den Weg dafür freimachen würden, war unbestimmt und fragwürdig.

 

War man in der OHL nicht  zu einer selbstkritischen Analyse und Bewertung der Kampfhand-lungen in der Lage?

 

2.

Die Absicht der beiden Armee-Oberkommandos, den Soldaten ab dem 28. August Ruhe zu gewähren, ließ sich nur in einzelnen Abschnitten der langen Front verwirklichen. „Dazu war die Fühlung mit dem Feinde bisher noch zu eng, der Angriffsgeist und die Widerstandskraft der Franzosen noch zu wenig gebrochen“ – so das Reichsarchiv.

 

In den Tagen nach dem 28. August gab es zwischen den Armee-Oberkommandos 6 und 7 und der Obersten Heeresleitung, vertreten durch Gerhard Tappen, den Leiter der Operations-abteilung, Auseinandersetzungen, wann und wie der neuerliche Angriff  auf die Pforte von Charmes durchgeführt werden sollte. Für die Armee-Oberkommandos hatte zunächst die Wieder-herstellung der eigenen Kampffähigkeit Vorrang. Dazu brauchten die Truppen Ruhetage. Gleichwohl wurde der Angriff vorbereitet und ab 3. September 1914 Schritt für Schritt durchgeführt. Die Sachkompetenz für die Kampfhandlungen lag bei den Armee-Ober-kommandos. Tappen hatte von den Bedingungen, unter denen die beiden Armeen kämpfen mussten, und der anzuwendenden Taktik keine Ahnung. Von dem furchtbaren Artillerie-feuer, das von den Festungen Épinal und Toul sowie den Befestigungen östlich von Nancy auf den Höhen des Grand Couronné ausging, hatte er keine Vorstellung.

 

Das Reichsarchiv berichtet (aaO Band III Seite 183), dass Tappen am 29. August 1914 in sein Privattagebuch (!) eintrug:

      (Zitat)

„Die Langsamkeit im Vorwärtskommen der 6. Armee ist wenig angenehm. Sie muss fest zufassen, damit sie entweder einen starken Gegner fesselt, oder wenn der Gegner nur schwach ist, muss sie schnell über die obere Mosel hinüber. Der Gegner hat sonst Zeit hinter seinen Befestigungen gegen die linke Flanke der 5. Armee zu marschieren, hoffentlich geht es endlich dort mehr vorwärts.“ (Zitat Ende)

 

Das Reichsarchiv schreibt weiter:

(Zitat)

„Ein am Nachmittag geführtes Ferngespräch des Oberstleutnants Tappen mit Generalmajor von Krafft bewies, dass das Armee-Oberkommando 6 den Zeitpunkt für den Beginn des Vorgehens gegen die obere Mosel noch nicht für gekommen hielt, da die wesentlichste Voraussetzung dafür, die Schwächung des Feindes gegenüber der 6. und 7. Armee, bisher zu fehlen schien.“ (Zitat Ende)

 

Die Wirklichkeit richtete sich nicht nach den Wünschen von Tappen. Ein „festes  Zufassen“ der 6. Armee erforderte einen Angriff; der war, wenn überhaupt, nur nach sorgfältiger Vorbereitung möglich. Kronprinz Rupprecht war gegen jedes übereilte Vorgehen, weil dies nur zu Verlusten führte, aber keinen Erfolg brachte. Sein Generalstabchef v. Krafft glaubte nicht, dass ein erneuter Vorstoß in die Pforte von Charmes Erfolg haben würde. Der Kampf der beiden Armeen in Lothringen und in den Vogesen war kein Bewegungskrieg. Bei der 7. Armee sollte ein Waldgelände durchstoßen werden, was „nur in langwierigem und verlustreichem Kleinkriege ausführbar“ war.  Über die Ansichten des Oberbefehlshabers der 7. Armee, Josias v. Heeringen, schreibt das Reichsarchiv (aaO Band III Seite 179):

            (Zitat)

„Nach der Überzeugung des Generalobersten v. Heeringen war der weitere Angriff belagerungsmäßig als Kampf um vorgeschobene Stellungen der Festung Épinal zu führen.“ (Zitat Ende)

 

Der Generalstabchef  der 6. Armee, v. Krafft, glaubte auch nicht daran, dass die 6. Armee den Gegner daran hindern könne, Truppen vor ihrer Front abzuziehen. Das Reichsarchiv schreibt (aaO Band III Seite 292):

(Zitat)

„General von Krafft unterließ es nicht, im Großen Hauptquartier seine Meinung über die Aussichten zu äußern, den französischen Südflügel in Lothringen festzuhalten. Er schreibt darüber in seinem Tagebuch: „Ich habe dann auch betont, dass das, was uns nun aufgetragen wurde – mindestens eine feindliche Kraft festzuhalten, die an Stärke unseren beiden Armeen gleichkommt – nicht unter allen Umständen ausgeführt werden könnte.

Wenn der Feind wirklich abziehen will, dann kann ihn an den Festungen kein Gott daran hindern. Denn wir stoßen uns überall an den Befestigungen. Der Feind kann die befestigten Abschnitte mit unterlegener Kraft immer so lange halten, bis die Hauptkräfte weg sind. Das wurde im Großen Hauptquartier auch zugegeben.“

(Zitat Ende)

 

3.

Als Alternative zu einem neuerlichen Angriff in der Pforte von Charmes bot es sich an, Teile der 6. Armee und der 7. Armee aus der Front herauszuziehen und sie durch die Festung Metz hindurch nach Norden zu verschieben, um der 5. Armee unmittelbar und schnell Unter-stützung zu bringen. Diese Alternative wurde am 31. August 1914 in einer Besprechung im Großen Hauptquartier in Luxemburg erörtert. Für die 6. Armee sprach Major v. Xylander, für die OHL der Generalquartiermeister v. Stein – welcher der Stell-vertreter des Generalstabchefs war – und Gerhard Tappen als Leiter der Operationsabteilung. Als Weisung Nr. 7 wurde dem Major v. Xylander diktiert:

     

(Zitat)

„Wenn bei der 6. Armee die Ansicht besteht, dass der Angriff nicht in kurzer Zeit erfolgreich über die obere Mosel führt, so ist zu erwägen, ob es nicht zweckmäßig ist, zunächst einen Teil der Armee aus den erreichten Stellungen herauszuziehen und in nördlicher Richtung über Metz zum Anschluss an die fünfte Armee einzusetzen. Der Rest der 6. und 7. Armee müßte dann natürlich später auch zurückgenommen werden.“ (Zitat Ende)

 

Diese Alternative war aus militärischer Sicht die einzig sinnvolle und sie war angesichts der militärischen Gesamtlage unbedingt geboten. Sie wurde aber nicht verwirklicht. Zuständig für die Anordnung war die OHL, nicht das Armee-Oberkommando 6. Ihm wurde die Entscheidung – und damit die Verantwortung – zugeschoben – vielleicht aber auch ein Ausweg aufgezeigt, wie eine Fehlentscheidung vermieden werden konnte. Die OHL, hier in der Person des Generalquartiermeisters v. Stein,  wollte die Entscheidung nicht selbst treffen. Anzumerken hat der Aufsatzverfasser, dass das Oberkommando der 5. Armee bei der OHL wiederholt, aber erfolglos hinsichtlich einer Deckung seiner linken Flanke durch Truppen des linken Heeres-flügels vorstellig geworden war. Die militärischen Notwendigkeiten lagen klar zutage.

 

 Die Darlegungen des Reichsarchivs erwecken den Eindruck, dass hier ein „Schwarzer-Peter-Spiel“  getrieben wurde. Wer will,  kann ein Machtspiel zwischen der OHL und dem Armee-Oberkommando 6 sehen. Die OHL – der Abteilungsleiter Gerhard Tappen und die beiden führenden Offiziere, v. Moltke und sein Stellvertreter v. Stein, wollten nicht eingestehen – oder sahen nicht! -, dass der am 22. August durch den Generalstabchef befohlene Angriff zu einer Niederlage geführt hatte. Sie hielten an der Fortsetzung des Angriffs durch die Pforte von Charmes fest. Eine Truppenverlegung durch Metz hindurch nach Norden mit anschließender Zurücknahme der 6. und der 7. Armee in eine Verteidigungsstellung konnte als Eingeständnis einer vorangegangenen Niederlage aufgefaßt werden. Also sollte dies das Armee-Oberkommando 6 befehlen – oder aber den aussichtslos gewordenen Angriff fortsetzen. Das letztere war der eigentliche Wunsch der OHL.

 

Kronprinz Rupprecht als Oberbefehlshaber der 6. Armee war nicht bereit, sich den schwarzen Peter zuschieben zu lassen, d.h. eine Verantwortung für die Niederlage zu übernehmen. Daher hielt er an der Durchführung des ihm erteilten Angriffsbefehls fest. Ihm ist zuzugeben, dass die Beurteilung, was aus Sicht der Gesamtoperationen des Heeres  vorzugswürdig war, allein bei der OHL lag. Festzuhalten bleibt indessen, dass der Angriff wider besseres Wissen weitergeführt wurde, weil niemand bereit war, das Scheitern des bisherigen Angriffs zuzugestehen.

 

Es kam zu einem Kompromiß. Die OHL akzeptierte stillschweigend, dass das Armee-Ober-kommando 6 nicht sofort angreifen wollte. Dieses fand für den Angriff eine vertretbare Lösung. Vor dem eigentlichen Vorstoß zur Mosel sollten zunächst die Befestigungen auf dem Grand Couronné und die Position de Nancy angegriffen werden. Die erforderliche Artillerie stand nach dem Fall des Sperrforts Manonviller zur Verfügung. Daß die erforderliche Artillerie-Munition nicht zur Verfügung stand, erfuhr das Oberkommando der 6. Armee aber erst am Abend des 6. September 1914.

 

War der Grand Couronné erobert, konnte man an einen Vorstoß durch die Pforte von Charmes über die Mosel denken. Dann war eine Sicherung  der rechten Flanke des Vorstoßes leicht durchzuführen. Als Selbstzweck war der Angriff auf den Grand Couronné nicht sinnvoll. Denn weiter nach Westen lag die Festung Toul, die man nicht einnehmen konnte. Den Artillerieaufmarsch gegen den Grand Couronné und die Position de Nancy begann das Armee-Oberkommando 6  bereits Ende August 1914 in die Wege zu leiten.

 

      4.   

Die OHL – also der Generalstabchef v. Moltke – maß dem Angriff der 6. Armee auf den Grand Couronné und die Position de Nancy offenbar hohe Bedeutung bei. Das zeigt sich darin, dass er am 3. September 1914 die Hauptreserve Metz – auch als 33. Reserve-Division bezeichnet– anwies, diesen Angriff von Norden her zu unterstützen (Reichsarchiv, Der Weltkrieg, Band 3, die deutsche OHL am 3. und 4. September, Seite 306). Das stand im Widerspruch zu der Absicht der OHL, nach welchen diese Division am Angriff des V. Armeekorps gegen die Maas-Forts südlich von Verdun teilzunehmen hatte. Das Reichsarchiv spricht von einem „Hilfsmittel“, mit welchem dem deutschen Südflügel – also dem linken Heeresflügel – der Angriff auf die befestigte Stellung von Nancy erleichtert werden sollte.

 

Die 33. Reserve-Division hatte bis zum 1. September 1914  im Anschluss an den linken Flügel der 5. Armee gekämpft und sodann die Aufgabe, die Festung Verdun nach Osten abzuschließen. Diese Aufgabe übernahm ab dem 2. September 1914 das V. Armeekorps. Es wurde von der OHL eigens zu diesem Zwecke in den Raum östlich von Verdun überführt und nach einer vorübergehenden Unterbrechung wieder der 5. Armee zur Verfügung gestellt (Reichsarchiv, Der Weltkrieg, Band 3, Die deutsche OHL vom 31. August bis 2. September, Seite 226 letzter Absatz von unten). Die 33. Reserve-Division hatte sich mit allem ihr zugeteilten Geschützmaterial zur Verfügung der OHL in Metz bereitzustellen. Ein Befehl des Oberkommandos der 5. Armee vom 1. September 1914 (Reichsarchiv, Der Weltkrieg, Band 3, Der Kampf an der Maas und Aisne Seite 103 unten) setzte die Weisung der OHL um.

 

 Das Vorgehen der 33. Ersatz-Division nach Süden erfolgte ab dem 5. September 1914. Nachdem der allgemeine Rückzugsbefehl erteilt war, wurde der Vormarsch abgebrochen und die Division in eine Verteidigungsstellung zurückgenommen.

 

Im Ergebnis ging die Verstärkung des linken Heeresflügels zu Lasten der Heeresmitte.

 

5.

Der Angriff der 6. und 7. Armee gegen den Grand Couronné und die Position de Nancy machte nur langsame Fortschritte und fand ein vorzeitiges Ende. v. Moltke ordnete am 5. September die Herausziehung von zwei Armeekorps aus dem linken Heeresflügel zum Abtransport nach Belgien an. Es war anzunehmen, dass dann der Angriff nicht mehr weiter-geführt werden konnte. Ausgesprochen wurde dies zunächst nicht – der deutsche Angriff lief weiter, weil kein Gegenbefehl vorlag. Der französische Widerstand versteifte sich.

 

Die Ausführungen des Reichsarchivs (Der Weltkrieg, Band 4, Der Marne-Feldzug – Die Schlacht Seite 145) vermitteln den Eindruck eines handlungsunfähigen Generalstabchefs und einer chaotischen Entwicklung in der Obersten Heeresleitung.

 

Verwirrend an den Ausführungen des Reichsarchivs ist es, dass die Vorgänge beim linken Heeresflügel unter der Überschrift „Marneschlacht“ dargestellt werden. Ein militärischer Zusammenhang mit den Vorgängen auf dem rechten Heeresflügel besteht jedoch nicht. Warum das Reichsarchiv diese Darstellungsform wählte, ist nicht ersichtlich.

 

Es waren Vorgänge in Belgien, deretwegen v. Moltke eine Verstärkung der dortigen deutschen Truppen für erforderlich hielt. Das Reichsarchiv schreibt (Der Weltkrieg, Band 4, Die deutsche OHL während der Marneschlacht Seite 130):

(Zitat)

„Bei der Bewertung der über den Feind in jenen Tagen vorliegenden Meldungen, insbesondere der Agenturnachrichten, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß der Chef der Nachrichtenabteilung, Oberstleutnant Hentsch, das Opfer feindlicher Irreführung geworden ist.“

(Zitat Ende)

 

Am nächsten Tage stellte sich die Lage in Belgien als wohl nicht so gefahrdrohend heraus; v. Moltke blieb jedoch pessimistisch. Er sollte recht behalten: am 9. September 1914 unternahm das belgische Heer aus Antwerpen heraus einen Ausfall, der zur Unterbrechung einer Eisen-bahnlinie führte, die der Versorgung der deutschen Westfront diente. Die Verstärkungen vom linken Heeresflügel kamen gerade rechtzeitig, um diesen Ausfall zurückzuschlagen. Zudem führte der Rückzug, den die 1. und 2. Armee – der rechte Heeresflügel – antraten, zu einer Vergrößerung der Lücke, die zwischen den beiden Armeen bestand. Die Verstärkung durch das XV. Armeekorps vom linken Heeresflügel erwies sich als notwendig. 

 

6.

Die OHL, vertreten durch Gerhard Tappen als Leiter der Operationsabteilung, legte ein widersprüchliches Verhalten an den Tag. Am 5. September 1914 traf bei der 6. Armee ein erneuter Befehl ein, sobald als möglich zum Angriff gegen die Mosel zwischen Toul und Épinal unter Sicherung gegen diese Festungen vorzugehen. Aber bereits gegen Mittag dieses Tages fragte Tappen durch Fernsprecher an, ob es möglich sei, je ein Armeekorps aus der Front der 6. und der 7. Armee zum Abtransport nach Belgien herauszuziehen.

 

Der Oberbefehlshaber der 7. Armee, Josias v. Heeringen, erklärte sich bereit, das ihm unterstellte XV. Straßburger Armeekorps aus der Front herauszuziehen. Dies geschah am 6. September und am Morgen des 8. September 1914 begann die Einladung an der Strecke Avricourt – Saarburg. Darüber hinaus wurde das Oberkommando der 7. Armee mit General v. Heeringen nach Belgien verlegt. Dort sollte eine neue 7. Armee gebildet werden.

Das Reichsarchiv berichtet (Der Weltkrieg, Band 4, Die deutsche OHL während der Marne-schlacht, Seite 143):

      (Zitat)

„Am 7. September trat der bisherige Oberbefehlshaber der 7. Armee, v. Heeringen, seine Fahrt nach Belgien an. In Luxemburg meldete er sich bei v. Moltke. Dieser machte auf ihn „einen bedrückten, leidenden, ja pessimistischen Eindruck...“ Zu einer Aussprache, „wie man sich eine solche mit einem das Große Hauptquartier passierenden Armee-Oberbefehlshaber denken sollte“, sei es überhaupt nicht recht gekommen.“

(Zitat Ende)

 

Für die 6. Armee weigerte sich Kronprinz Rupprecht, ein Armeekorps herzugeben. Denn das lief darauf hinaus, den Angriff auf den Grand Couronné einzustellen und den Rückzug anzutreten. Dafür wollte   e r   die Verantwortung nicht übernehmen. Immerhin stellte Kronprinz Rupprecht eine Kavallerie-Division für Belgien zur Verfügung. Die Weigerung half dem Kronprinzen nicht. Die OHL setzte ihren Willen durch.

 

Am Nachmittag des 7. September 1914 teilte Gerhard Tappen dem Oberkommando der 6. Armee mit,

(Zitat)

„daß das von der 6. Armee abzugebende Korps bereits am 10. September bei Mörchingen – Bensdorf (nördlich Dieuze) eingeladen werden solle“ (Zitat Ende)

      (Reichsarchiv Der Weltkrieg, Band 4, Die Schlacht am 8. und 9. September… Seite 155)

 

Für die Abgabe kam aufgrund der Verhältnisse an der Front nur das I. bayerische Armeekorps in Betracht. Das Armee-Oberkommando 6 gab daher den Befehl, dieses durch das XXI. und durch Teile des XIV. Armeekorps abzulösen.

 

Bei der Abgabe eines einzigen Armeekorps durch die 6. Armee blieb es nicht. Am 8. September traf beim Oberkommando Major v. Redern mit einem Befehl der OHL ein, der … folgendes besagte (Reichsarchiv, Der Weltkrieg, Band 4, Die Schlacht am 8. und 9. September… Seite 156):

 

(Zitat)

„Da mit einem baldigen Eingreifen der 4. und 5. Armee in Richtung Neufchateau -  Mirecourt nicht zu rechnen ist, und da ein schnelles Vorgehen der 6. Armee über die obere Mosel mit eigener Kraft fraglich erscheint, ist weiteres Herausziehen starker Teile der 6. Armee beabsichtigt. Vorbereitungen hierfür sind sogleich zu treffen. Die der Armee durch die Kriegsgliederung nicht zugeteilte schwere Artillerie, insbesondere die aus Metz herausgezogene, ist baldigst für andere Verwendung freizumachen.“

(Zitat Ende) 

 

Dieser Befehl enthielt – wahrscheinlich erstmalig – eine wirklichkeitsnahe Einschätzung der Sachlage durch die OHL. Die Angriffsziele, die v. Moltke den Armeen bestimmt hatte, waren nicht erreichbar. Warum wurde das nicht früher erkannt?

 

Mit dem Befehl war die Entscheidung gefallen. Der Angriff auf die Position de Nancy und den Grand Couronné war einzustellen und die 6. Armee in eine Verteidigungsstellung zurückzuführen. Aber der Befehl der OHL, den Angriff endgültig einzustellen, folgte erst am 9. September 1914.

 

Die Schwierigkeiten des Rückzugs waren beträchtlich, vor allem, was den Rücktransport der schweren Artillerie anging.

 

 

7.

Parallel zu den Erörterungen, Armeekorps aus dem linken Heeresflügel herauszuziehen, fanden solche zu seiner Munitionsversorgung statt. Eine Verfügung des Feldmunitionschefs forderte größte Sparsamkeit im Munitionsverbrauch, besonders der Mörsermunition. Am Abend des 6. September traf dieser persönlich im Oberkommando der 6. Armee ein. Er wollte feststellen, ob ein Freimachen von schweren Geschützen und besonders von Mörsermunition möglich sei. Das machte aber die Aufgabe des Angriffs notwendig. Der  Generalstabchef der 6. Armee, v. Krafft formulierte in seinem Tagebuch den Protest des Armee-Oberkommandos wie folgt:

     

(Zitat)

„Soeben haben wir unsere Direktiven ausgegeben, die den Truppen die Angriffsziele bezeichnen, und auf das rasche Vorwärtskommen zur Wegnahme des Grand Mont und Stützpunktes St. Nicolas gedrungen. Unsere Truppen haben schon in den Kämpfen um die vorgeschobenen Stellungen erhebliche Verluste gehabt. Und das soll alles nun wieder geändert und aufgegeben werden! Wozu haben wir die schwere Artillerie bekommen, wenn wir die Munition dafür nicht erhalten können? Auf diese Weise müssen wir jeden Kredit bei unseren Untergebenen verlieren. Das Aufgeben des Angriffs ist ein schwerer moralischer Rückschlag, für den   w i r    die Verantwortung nicht übernehmen können. Es müsste also bestimmt gesagt werden, dass das Große Hauptquartier so befohlen hat, wenn es unabwendbar sein sollte.“ (Zitat Ende)

Reichsarchiv, Der Weltkrieg, Band 4, Marneschlacht, Fortsetzung des Angriffs des linken deutschen Heeresflügels gegenüber Nancy – Épinal bis zum 9. September, Seite 152

 

Am 8. September ging dem Armee-Oberkommando 6 eine Benachrichtigung des Feld-munitionschefs zu, wonach der Armee eine große Anzahl von Munitionszügen für die schwere Artillerie entzogen wurde. Es wurde immer fraglicher, ob eine Fortsetzung des Angriffs noch durchführbar war.

 

Am 9. September 1914 fand das Trauerspiel eines planlosen Hin und Her ein Ende. Der Oberbefehlshaber der 6. Armee, Kronprinz Rupprecht, und die OHL kamen unabhängig voneinander zu dem Schluss, dass der Angriff auf den Grand Couronné endgültig einzustellen war, Armeekorps aus der Front herauszunehmen und die verbleibenden Armeekorps in eine Verteidigungsstellung zurückzunehmen waren. Es wurde deutlich, dass die OHL mit Rücksicht auf die Gesamtlage handelte und die Verantwortung für den Rückzug zu übernehmen hatte. Alle bisherigen Opfer an Menschenleben waren vergeblich gewesen, die Munition sinnlos vergeudet worden.

 

Zusätzlich zu den bisher herausgezogenen zwei Armeekorps wurden drei weitere Armee-korps aus der Front herausgezogen. Die verbleibenden Armeekorps bezogen eine Verteidigungsstellung auf deutschem Gebiet, dem Delmer Rücken. Der Rückzug wurde am 15. September 1914 abgeschlossen. Es folgte ein Stellungskrieg. Bis zum Waffenstillstand am 9. November 1918 änderte sich der Frontverlauf nur geringfügig, obwohl es zeitweise zu erbitterten und verlustreichen Kämpfen kam.

 

8.

Am 9. September, an demselben Tage, an dem die endgültige Einstellung des Angriffs des linken Heeresflügels auf die Position de Nancy und den Grand Couronné erfolgte, fielen auf dem rechten Heeresflügel östlich und südöstlich von Paris Entscheidungen, die eigenen Armeen zurückzunehmen.

 

Die Oberbefehlshaber der 1. und der 2. deutschen Armee kamen unabhängig voneinander zu dem Entschluss, ihren Armeen den Rückzug zu befehlen. Der Generalstabchef v. Moltke wußte davon nichts – hat es aber veranlaßt, ob willentlich oder nicht, ist offen.

 

Das Zusammentreffen der Rückzugs-Entscheidungen auf dem linken und dem rechten Heeresflügel ist ein ausschließlich zeitliches. Ein sachlicher Zusammenhang besteht nicht.

 

Richtig ist, dass ein früheres Herausziehen von Armeekorps aus dem linken Heeresflügel die Rückzüge der 1. und der 2. Armee hätte vermeiden können. Das Eintreffen von Armeekorps aus dem linken Flügel kam zu spät. Während der sogenannten Marneschlacht  war das XV. Armeekorps auf dem Weg nach Belgien, das I. bayerische Armeekorps war in Metz angehalten worden. Für die Kämpfe waren sie nicht verfügbar.

 

Im geschichtlichen Rückblick ist deutlich, dass bei der Befehlsausgabe in der OHL am 1. September 1914 an die 6. Armee – als dem Major v. Xylander Befehle diktiert wurden -  die letzte Gelegenheit vertan wurde, die deutsche Niederlage zu vermeiden. Die Alter-native für eine richtige Entscheidung wurde erkannt, aber nicht gewählt. Die OHL wich bewußt von ihrem ursprünglichen Feldzugsplan ab.

 

Generalstabchef v. Moltke ist auf dem linken Heeresflügel gescheitert. Es ist sein ganz persönliches Scheitern und einer seiner originären Beiträge zur deutschen Niederlage. Der Durchbruch zur Mosel, auf dem er eigensinnig bestand, war ein unerreichbares Ziel. Dafür wurden Menschen sinnlos geopfert und materielle Ressourcen vergeudet. An anderer Stelle hätte sich mit rechtzeitigen Verstärkungen aus dem linken Heeresflügel wesentlich mehr erreichen lassen. Die befohlenen Zielsetzungen für die Armeen der Heeresmitte waren ebenfalls unrealistisch. Sie wurden nicht zurück-genommen, sondern mit dem allgemeinen Rückzug hinfällig.

 

Die Verantwortung für die deutsche Niederlage liegt bei dem Generalstabchef v. Moltke und dem Leiter der Operationsabteilung, Gerhard Tappen.

 

 

 

Druckversion | Sitemap
© Eckhard Karlitzky