Deutsches Heer - Zweites Deutsches Kaiserreich Eckhard Karlitzky Aufsätze und Aufsatz-Fragmente
Deutsches Heer - Zweites Deutsches KaiserreichEckhard KarlitzkyAufsätze und Aufsatz-Fragmente

Die Denkschrift des Generalstabchefs v.  Moltke vom 21.12.1912

Teil II - Rüstungsprogramm zur Rettung des Reiches -

 

                                                                                                                     1) Einleitung

                                         

    1.1 Gegenstand und Bedeutung des Teils II der Denkschrift

     

Teil II der Denkschrift ist ein Rüstungsprogramm des Generalstabs. Es konnte die militärische Rettung des Reiches bringen, wäre es bis zum 1.10.1913 vollständig umgesetzt worden, wie es der Generalstabchef wollte. Es wurde aber in einem entscheidenden Punkt nicht umgesetzt, nämlich in der geforderten Verstärkung des Heeres um 3 Armeekorps. Diese hätte ausgereicht, um den Rückzug von der Marne am 9. September 1914 zu vermeiden und wahrscheinlich auch, um den Krieg zu gewinnen.

 

In Teil II der Denkschrift wird auf zwei bis drei Schreibmaschinenseiten oder Buchseiten ein umfassendes Rüstungsprogramm skizziert. In ihm werden alle Bereiche des Heeresorganismus und der Landes-verteidigung angesprochen, in denen Verstärkungen notwendig waren. Es beschränkte sich auf eine Skizzierung, da der  Inhalt der einzelnen Forderungen als bekannt vorausgesetzt werden durfte. Er war im Regelfalle bereits Gegenstand eines - bisweilen umfangreichen - Schriftwechsels zwischen militärischen Fachbehörden - den Inspek-teuren und General-Inspekteuren -, Generalstab und Kriegsministe-rium gewesen und ergab sich aus diesem.

 

Für den heutigen Leser ist der Inhalt des Rüstungsprogramms nicht ohne weiteres verständlich, es sei denn, er besitzt die Kenntnis der militärischen Einzelheiten.

 

Auch die Zielsetzungen des Rüstungsprogramms waren umfassend: innere Stärkung des Heeres, Verjüngung, technische Modernisierung, Erhöhung der Anzahl der Kampfverbände, Ausbau der Reserve- und Landwehreinheiten, Verbesserung der materiellen Ausstattung des Heeres, Ausbau von Festungen. Der Kriegsminister bezeichnete das Programm als "ein weit ausschauendes".

 

Es wäre die größte Personalverstärkung des Heeres in der Geschichte des Zweiten Kaiserreichs geworden.  Was die geforderte Anzahl der Kampfverbände (Divisionen und Armeekorps) anbelangt, so blieb diese aber hinter derjenigen der Heeresreform von 1893 zurück. Die geforderten zusätzlichen Kampfverbände waren generalstabsmäßig errechnet, um die zahlenmäßige Überlegenheit des militärischen Gegners zu vermindern und gaben an, was mindestens notwendig war, um im Kriegsfall zu einem Erfolg zu gelangen.

 

Die Forderung der Denkschrift nach einer tatsächlichen Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht schlug sich in ihr

 

nicht

 

in einer Forderung nach einer entsprechenden Erhöhung der Anzahl der Bataillone und Regimenter nieder.

 

Die letzte umfangreiche Vermehrung an Verbänden hatte in den Zeit-räumen vom 1.4.1894 bis 31.3.1899 und vom 1.4.1899 bis 31.03.1904 stattgefunden. Zu einem Abschluß der Heeresvermehrung kam es in den genannten Zeiträumen nicht. Weitere Erhöhungen zu deren Ausbau gab es erst wieder 8 Jahre später, im Heeresgesetz ab 1.4.1912, das in seinen Zielsetzungen aber nicht über eine teilweise Lückenschließung in der bestehenden bzw. vorgegebenen Heeres-organisation hinausging. Die in Teil II der Denkschrift geforderten Erhöhungen ab 1.10.1913 hätten den Ausbau des bestehenden Orga-nisationsrahmens abgeschlossen und wären nur mit einem zusätz-lichen Armeekorps darüber hinausgegangen.

 

Der Generalstabchef wollte das Programm zum 1.10.1913 umgesetzt haben. Realistisch war eine Umsetzung innerhalb von 3 Jahren; bei dem beabsichtigten Festungsausbau war wohl eher mit einem Zeitraum von 5 Jahren zu rechnen. Das Programm hätte  innerhalb von 5 - 10 Jahren zu einer Neustrukturierung oder Restrukturierung des Heeres geführt - und eben dies  war beabsichtigt.

                                         

    1.2 Das Heeresgesetz 1913

     

Das Rüstungsprogramm war die Initialzündung für eine Heeresvorlage des preußischen Kriegsministers. In den ersten Wochen des Jahres 1913 fanden Besprechungen zwischen Generalstab und Kriegs-ministerium unter Einbeziehung des Kaisers und des Reichskanzlers statt. Der Generalstabchef konnte namentlich seine Forderung nach 3 neuen Armeekorps nicht durchsetzen. Dem Kaiser gegenüber machte er einen Rückzieher.

 

Die Heeresvorlage des Kriegsministers übernahm der Reichskanzler und legte sie Anfang April 1913 dem Gesetzgeber zur Beschluß-fassung vor. Zur Jahresmitte 1913 wurde dann das Heeresgesetz 1913 vom Reichstag verabschiedet (Reichsgesetzblatt 1913 Seite 496).  Die Gesamtzahl der "Gemeinen, Gefreiten und Obergefreiten" sollte bzw. durfte bis zum 31.3.1916 auf 661.478 steigen. Das entsprach einer Erhöhung um über 117.000 Mann. Hinzu kamen etwa 4.000 Offiziere und 15.000 Unteroffiziere, für die neue Planstellen im Reichshaus-haltsplan zu schaffen waren.

 

Die geltenden Bewilligungen für die (Grund-)Einheiten des Heeres wurden im Heeresgesetz geändert wie folgt:

 

bei der Infanterie                         651 in 669 Bataillone

bei der Kavallerie                         516 in 550 Eskadrons

bei der Fußartillerie                        48 in 55 Bataillone

bei den Pionieren                           33 in 44 Bataillone

bei den Verkehrstruppen                18 in 31 Bataillone

bei dem Train                                 25 in 26 Bataillone

 

Die bewilligten Bataillone wurden bis Kriegsausbruch nicht sämtlich aufgestellt und auch die Personalverstärkung wurde vor Ausbruch des Weltkrieges nicht vollständig umgesetzt. Bei den Mannschaften ergab sich dies vor allem aus der zweijährigen Dauer der Wehrpflicht: Von der beabsichtigten Verstärkung wurde zum 1.10.1913 ein erster Jahrgang einberufen, zum 1.10.1914 hätte der zweite Jahrgang folgen sollen. Das Reichsarchiv teilt die tatsächlich vorhandene Friedensstärke des Heeres vor Kriegsausbruch wie folgt mit:

 

Offiziere (ohne Sanitätsoffiziere,

Ob. Beamte usw.)                                29.000

Unteroffiziere und Mann                   725.000

 

Da fehlen noch mehr als 1.000 Offiziere und sicherlich auch ein großer Teil der Unteroffiziere.

 

Es ging jedoch keineswegs nur um Personalverstärkungen, sondern ebensosehr um die materielle Ausstatttung des Heeres. In seiner Begründung der Heeresvorlage vor dem Reichstag (133. Sitzung vom 7. April 1913 Protokolle Seite 4517) führte der preußische Kriegsminister v.  Heeringen aus:

 

(es) " ergibt sich auch die Notwendigkeit einer schnelleren und ausrei-chenden Ausstattung mit materiellen Streitmitteln. Es  sind das im allgemeinen keine Neuforderungen, sondern meistens Fortsetzungen von Maßnahmen, die zum Teil schon Jahre lang ... angestrebt wurden.

 

Es ist ein weit verbreiteter Irrtum ..., daß eine Verstärkung der Armee im wesentlichen nur in einer ziffernmäßigen Vermehrung erfolgen müsse.

 

Nein, auch die Ausstattung mit guten Waffen, die Organisation und auch der Ausbau unseres Festungssystems ist besonders wichtig..."

 

Der Irrtum von dem v. Heeringen hier spricht, ist auch heute noch weit verbreitet. Es wird noch immer behauptet, bei der Heeresreform 1913 sei es allein um eine ziffernmäßige Vermehrung des Heeres gegangen.

 

 

                                        

    1.3 Die Kosten des Heeresgesetzes 1913

     

Das Heeresgesetz 1913 machte einen Nachtrag zum Reichshaushalt 1913 erforderlich (Reichsgesetzblatt 1913 Seite 499 f.). Darin werden ausgewiesen

 

a. Fortdauernde Ausgaben

 

Verwaltung des Reichsheeres

(Im Gesetz sind mehrere Einzelpositionen

aufgeführt; der Aufsatzverfasser gibt nur

ihre Gesamtsumme wieder)                                        49.065.490 Mark 

Allgemeine Finanzverwaltung

An Bayern, Quoten von den Militärausgaben                 4.709.968 Mark

 

b. Einmalige Ausgaben

 

Verwaltung des Reichsheeres

a) Preußen usw.              300.128.247 Mark

b) Sachsen                        27.511.771 Mark

c) Württemberg                   8.735.701 Mark

                                           Summe A.........      336.375.719 Mark

 

Preußen usw.

Garnisonbauten

in Elsaß-Lothringen                 19.227.000 Mark

Festungen                               70.000.000 Mark

                                                                                         89.227.000 Mark

                                                             Summe.............  425.602.719 Mark    

 

Allgemeine Finanzverwaltung

An Bayern, Quote von den Militärausgaben                41.329.736 Mark                                                                                                 

Dem Reichskanzler wurde die Möglichkeit zu einem flexiblen Handeln gegeben. § 2 des Gesetzes zur Feststellung eines Nachtrags zum Reichshaushalt für das Rechnungsjahr 1913 lautete:

"Die Ermächtigung des Reichskanzlers, zur vorübergehenden Verstär-kung der ordentlichen Betriebsmittel der Reichshauptkasse nach Bedarf Schatzanweisungen auszugeben, wird bis auf den Betrag von sechshundert Millionen Mark erhöht."

 

Im Haushaltsplan des Reiches für 1914 wurden an Militärausgaben veranschlagt:

 

Fortdauernde Ausgaben

Verwaltung des Reichsheeres                                    870.559.735 Mark

Landesverteidigung                                                  121.440.535 Mark       

Einmalige Ausgaben

Preußen, Sachsen und Württemberg                          255.505.218 Mark

Preußen usw.

Garnisonbauten

in Elsaß-Lothringen                   19.449.237 Mark

Festungen                                  63.079.938 Mark

Summe                                                                       82.529.175 Mark

Landesverteidigung                                                    40.758.782 Mark

 

Die einmaligen  Geamtkosten für das Heeresgesetz 1913 in den Jahren 1913-1915 waren in der Begründung des Gesetzesentwurfs mit 884 Millionen Mark veranschlagt worden.

 

Es ist nicht zutreffend zu sagen, diese einmaligen Kosten seien durch die Personalverstärkung verursacht worden. Das mag zu einem Teil zutreffen - aber eben nur zu einem Teil.

 

In den Jahren vor 1912 war ein Investitionsstau in Höhe von mehreren hundert Millionen Mark aufgelaufen. Dieser sollte mit dem Heeres-gesetz 1913 abgebaut werden. Allein 200 Millionen Mark waren für den Festungsbau im Osten veranschlagt. Die oben wiedergegebenen Haushaltsansätze für die Jahre 1913 und 1914 zeigen, dass die Ausgaben für die Festungen tatsächlich in dieser Höhe veranschlagt waren bzw. veranschlagt werden sollten.

 

Es ist eine Unterstellung zu meinen, dass der Kriegsminister sich ausschließlich an den Forderungen der Denkschrift orientiert und keine eigenen Vorstellungen umgesetzt habe. Es waren finanzielle Einschränkungen gewesen, die den Kriegsminister bisher an der Verwirklichung seiner Vorstellungen gehindert hatten, zuletzt bei der Erstellung des Reichshaushaltsplanes 1913. Diese Einschrän-kungen fielen numehr weitgehend weg.

 

Die Mehraufwendungen in den Jahren 1913-1915 für fortdauernde und einmalige Kosten insgesamt waren mit 1.292.000.000 Mark veranschlagt. 

                                       

    1.4 Fiktive Kosten einer vollständigen Umsetzung

           des Rüstungsprogramms

     

Eine vollständige Umsetzung des Rüstungsprogramms hätte mögli-cherweise das Doppelte an einmaligen Kosten - also 2 Milliarden Mark - oder sogar noch mehr verursacht. Das lag an den Forderungen für die materielle Ausstattung des Heeres, die Teil II der Denkschrift enthielt, die aber vom Kriegsminister nicht übernommen wurden. Namentlich seien genannt

 

  • die Ausrüstung für die geforderten drei neuen Armeekorps. Unter anderem hätte es 72 fahrende Batterien Feldartillerie gebraucht, eine jede zu sechs Geschützen, nebst Munition 
  • die geforderte vermehrte Ausstattung der vorhandenen 28 Reservedivisionen mit Geschützen und Maschinengewehren, insbesondere für jede Division 3 Batterien leichte Feldhaubitzen zu je 4 oder je 6 Geschützen, nebst Munition, sowie Beschaffung fehlender Ausrüstung
  • für die vorhandenen Landwehren wurde gefordert, vermehrt mit Feldartillerie ausgerüstete Verbände aufzustellen
  • die Schaffung einer vermehrten Munitionsreserve für die gesamte Artillerie, die vermutlich teilweise übernommen wurde, aber wahrscheinlich nicht in dem geforderten Umfang. Dieser sprengte alle bisherigen Vorstellungen. Die Beschaffung hätte mehrere Jahre Zeit erfordert, da die Kapazitäten für dier Munitions-herstellung völlig unzureichend waren.
  • die bewilligte Anzahl von Flugzeugen war nur eine Minimal-ausstattung; erforderlich war mindestens die doppelte Anzahl, nicht bewilligt

 

Der britische Historiker Niall Ferguson nimmt für die Umsetzung aller Forderungen der Denkschrift ("Ludendorffs kontrafaktische Über-legungen") einen Betrag von 4,9 Milliarden Mark an. Dieser Betrag dürfte bei weitem überhöht sein. Die Berechnungsweise anhand der angeblich geforderten Verstärkung von 300.000 Mann unter Gegen-überstellung der bewilligten 117.000 Mann ist verfehlt. Ferguson geht es darum, nachzuweisen, dass das Deutsche Reich selbst extreme Rüstungsanstrengungen, wie seiner Meinung nach von Ludendorff gefordert, volkswirtschaftlich betrachtet, hätte finanzieren können.

 

Wenn man Ferguson darin folgt, daß 4,9 Milliarden Mark finanzierbar gewesen wären, so trifft das für 2 Milliarden Mark erst recht zu. Die einkommensstarke und/oder vermögende Oberschicht des Reiches im Adel und Bürgertum hätte die Belastung ohne weiteres aufbringen können. Ungut wäre natürlich die Zusammenballung der steuerlichen Belastung in einem kurzen Zeitraum gewesen, eine Folge davon, dass angemessene steuerliche Belastungen jahrelang unterlassen worden waren.

 

Aber die finanzielle Betrachtungsweise umfasst nur einen Teilbereich der Problemstellung und berücksichtigt nicht andere Faktoren wie das vorhandene Industriepotential und die verfügbaren Rohstoffe.

 

                                         

    1.5 Historische Einordnung des Rüstungsprogramms

 

Die Forderungen in Teil II der Denkschrift waren ein Spiegelbild dessen, was in den Jahren vor 1912 unter Berufung auf Geldmangel

 

(die Abgeordneten der besitzenden und einkommensstarken Gesellschaftsschichten

wollten mehrheitlich keine Ertrags- oder Vermögensteuern auf Reichsebene eingeführt sehen - der Kriegsminister akzeptierte dies, indem er keine oder nur geringe militärische Forderungen an den Staatshaushalt stellte)

 

versäumt worden war. Sie spiegelten aber auch neuere militärische und technische Entwicklungen wieder, welche die Kosten für die Ausrüstung des Heeres in eine bis dahin für unmöglich gehaltene Höhe trieben, allen voran die Kosten für den Aufbau einer Flugzeug-flotte und den Bau einer Flugzeug-Mutterstation in Berlin.

 

Einen Rüstungsvorsprung vor den Nachbarstaaten hätte die vollständige Umsetzung des Rüstungsprogramms nicht gebracht. Das Reich hätte aber in seinen Rüstungsanstrengungen mit den Nachbarstaaten deutlich aufgeholt oder sogar gleichgezogen.

 

Hätte das Deutsche Heer im Jahr 1914 bereits über die geforderten zusätzlichen 3 Armeekorps und die geforderte Ausrüstung -zumindest teilweise - verfügt, wäre die deutsche Niederlage im 1. Weltkrieg vermieden worden. Noch einen Schritt weiter geht der britische Historiker Niall Ferguson. Er zieht die „paradoxe Schlussfolgerung“, dass

 

Zitat

„höhere Militärausgaben Deutschlands vor dem Juli 1914 – in anderen Worten: ein stärker militaristisches Deutschland – keineswegs den ersten Weltkrieg hätte verursachen müssen, sondern ihn hätte verhüten können.“

(Zitat Ende)

 

Daran ist zutreffend, dass die Staaten der Triple-Entente nicht auf das Geratewohl in den Krieg hineingingen, sondern infolge ihrer klaren zahlenmäßigen Überlegenheit (und, was Österreich-Ungarn angeht, auch in qualitativer Hinsicht) die Erfolgsaussichten auf ihrer Seite hatten. Die französische Regierung entschloß sich erst zum Krieg, als Rußland marschierte und als sie England an ihrer Seite wußte, d.h. als sie sich ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit sicher war.

 

Dem Aufsatzverfasser ist wesentlich, dass die 1913 erfolgte Heeres-verstärkung teilweise falsche Prioritäten setzte. Mit der Schaffung eines neuen hohen Präsenzstandes bei Bataillonen und anderen Einheiten

 

der weit über den bisherigen hohen Etat, wie er bis 1912 bestand, hinausging

 

zur tatsächlichen Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht wurde der zweite Schritt vor dem ersten getan. Vorrang als erster Schritt hätte die Bildung/Neuaufstellung der geforderten 3 neuen Armeekorps haben müssen, weil sie zu einem Abschluß bzw. zu einer Erweiterung des organisatorischen Rahmens und zu einer unmittelbaren Erhöhung der Kriegsstärke des Heeres geführt hätte.  Ob danach noch taugliche Wehrpflichtige für eine weitere Erhöhung der Etatstärken zur Verfügung standen, war offen, und das mußte man abwarten. Ein Schaden wäre durch den Aufschub nicht entstanden.

 

Die Auffassung von Niall Ferguson, dass sich die militärischen Kräfte-verhältnisse in Europa ohne den Kriegsausbruch 1914 in den Jahren nach  1913 zu Lasten des Deutschen Reiches verschoben hätten, teilt der Aufsatzverfasser nicht.

 

 

2) Inhaltswiedergabe von Teil II der Denkschrift (Zitat:)

 

A. Heeresverstärkung.

 

Menschenmaterial steht in hinreichender Menge für eine Heeresverstärkung zur Verfügung.

 

Bestimmte Angaben über die Zahl der vorhandenen, bisher nicht zur Einstellung gelangenden Tauglichen können wegen Mangel sicheren Materials z. Z. allerdings nicht gemacht werden. Es müssen Erhebungen darüber angestellt und unsere Ersatzvorschriften entsprechend abgeändert werden. Schon der Hinweis auf Frankreich müsste genügen, um uns die Notwendigkeit einer größeren Inanspruchnahme unserer Diensttauglichen vor Augen zu führen. Frankreich stellt 82 % seiner Wehrpflichtigen in das Heer ein, Deutschland etwa 52-54 %.

 

(Nächster Satz ursprüngliche Fassung:)

Würden wir in gleichem Umfang wie Frankreich unsere Volkskraft anspannen, so müssten wir bei Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht zu einer Erhöhung unseres Rekrutenkontingents von 150.000 Mann, unserer Friedenspräsenzstärke von 300.000 Mann kommen.

 

(Nächster Satz Endfassung:)

Spannen wir in gleichem Umfang wie Frankreich unsere Volkskraft an, so kommen wir bei Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht ohne weiteres zu einer Erhöhung des Rekruten-Kontingentes von 150.000 Mann, unserer Friedenspräsenzstärke von 300.000 Mann.

 

Eine vermehrte Heranziehung der jüngeren Jahrgänge ist schon eine soziale Pflicht. Man würde damit die älteren Jahrgänge, in denen zahlreiche Familienväter vorhanden sind, entlasten und ihre Verwendung vor dem Feinde hinausschieben. Es würde vermieden werden, dass ein großer Teil der Landwehrleute, die jetzt Reserveformationen zugeteilt sind, sofort ins Feld ziehen muss, während Tausende von jungen Leuten zu Hause bleiben, weil sie nicht ausgebildet sind.

 

Die Heeresverstärkung, die gefordert werden muss, wird sich in folgenden vier Richtungen zu bewegen haben, die ich nachstehend kurz erläutere:

 

 1. Etatsverstärkungen

2. Heeresvermehrung

3. Verbesserungen der Formationen 2. Linie

4. Ergänzung und Verbesserung der Heeresausrüstung

 

 

Zu 1. Etatsverstärkungen

Sie müssen bei allen Waffen eintreten und sich auf Mannschaften und Pferde erstrecken, so dass unsere Infanterie, Kavallerie und Artillerie mindestens auf den hohen Etat gebracht wird. Die Zahl der vorhandenen Tauglichen spielt hierbei eine ausschlaggebende Rolle. Die Grenzkorps, einige Truppen zu besonderer Verwendung und die Kavallerie-Regimenter,die 6 Eskadrons mobil machen, müssen dar- über hinaus folgende Stärken erhalten:

Das Bataillon 800 Mann.

Die Eskadron mindestens 150 Reitpferde ohne Remonten.

Die Batterie 6 bespannte Geschütze, 4 bespannte Mun. Wagen und 1 Beobachtungswagen.

Die Spezialwaffen sind entsprechend zu verstärken.

Mit diesen Etatserhöhungen würden die aktiven Formationen, wenn auch nicht an zahlenmäßiger Überlegenheit, so doch entscheidend an Gehalt und Kraft Frankreich gegenüber gewinnen, das uns hierin nicht mehr folgen kann.

 

Zu 2. Heeresvermehrung

Um für eine Offensive nach Westen den erforderlichen Kräfteausgleich zu schaffen, und gleichzeitig unseren Osten hinreichend zu schützen, müssen mindestens 3 Armeekorps neu aufgestellt werden, wobei ein Teil der schon jetzt vorhandenen 5ten Brigaden verwertet werden kann. Die Aufstellung der 3. Bataillone ergibt sich als selbst-verständlich. Es muss aber ganze Arbeit gemacht werden, und darum sind außerdem noch folgende Einzelheiten zu fordern:

 

a. Aufstellung von Armee-Inspektionen, je eine für vier Armeekorps.

b. Aufstellung mehrerer Kavallerie-Regimenter zur besseren Orga-nisation der Kavallerie.

c. Ergänzung der Fußartillerie und Pioniere.

d. Ergänzung der Verkehrstruppen, namentlich an Telegraphen-Bataillonen und Funkerkompagnien.

e. Aufstellung einer Inspektion der Lufttruppen unter Loslösung von den Verkehrstruppen. Fortschreitende Erweiterung der Flieger-organisation. Zuteilung der Fliegerstationen an die Armeekorps und die Festungen. Organisation der Luftschifftruppe für eine Luftflotte von zunächst 20 Luftschiffen größten Systems.

f. Verbesserung unserer Trainformationen.

 

Zu 3. Verbesserungen der Formationen 2. Linie

Eine Verjüngung und weiterer Ausbau der bestehenden Reserve-Formationen unter Ausschaltung der Landwehr ist durchaus geboten. Sie wird mit der Erhöhung der Friedenspräsenz ermöglicht werden. Für die Reserveverbände muss eine weitergehende Übungs-gelegenheit geschaffen werden. Zur besseren Ausstattung dieser Verbände mit aktiven Führern müssen die Offiziersstellen, namentlich die Hauptmannsstellen vermehrt werden; auch müssen die Reserve-verbände eine bessere Ausrüstung mit Maschinengewehren und Feldartillerie erhalten. Ich weise hier ganz besonders auf die neuesten Anstrengungen Frankreichs hin, durch sein neues Cadre-Gesetz die Kriegsbereitschaft und den inneren Wert der Reserveformationen erheblich zu steigern. Aus den zur Verfügung stehenden Landwehren müssen, wie in Frankreich, mit Feldartillerie ausgerüstete Verbände vermehrt aufgestellt werden.

 

Zu 4. Ergänzung und Verbesserung der Heeresausrüstung.

Es ist erforderlich:

Die Durchführung der Ausrüstung mit Feldküchen bei allen Formationen und Reserveformationen.

Die Schaffung einer vermehrten Munitionsreserve.

Die Vermehrung der Angriffsmittel auf feindliche Festungen.

Die Bereitstellung von Abwehrkanonen gegen Luftfahrzeuge.

 

B. Landesverteidigung.

 

Unsere Grenzfestungen müssen so ausgestattet werden, dass sie jederzeit verteidigungsfähig sind. Der Armierung darf hier nur wenig überlassen bleiben.

 

Bei den inneren Festungen muss die Armierung soweit vorbereitet sein, dass sie innerhalb kurzer Frist durchgeführt werden kann.

 

Im Osten müssen Graudenz und Posen stark ausgebaut werden, damit die Landesverteidigung in diesen Festungen für alle Fälle den erforderlichen Rückhalt findet.

 

(Zitat Ende)

 

 

3) Allgemeine Erläuterungen zu Teil II der Denkschrift

 

Die Denkschrift enthält keine Angabe, um welche Kopfzahl die Friedens-stärke des Heeres erhöht werden sollte. Das war nicht durchgerechnet worden.

 

Die Forderungen in der Denkschrift sind teilweise beziffert, teilweise lassen sie sich aus dem angesprochenen Sachverhalt anderweitig ermitteln, teilweise sind sie nicht beziffert. Dies war Absicht. Der Rahmen einer Denk-schrift, so General v. Moltke, sollte nicht überschritten werden und daher wurden Zahlenangaben nur in eingeschränktem Umfang gemacht. Moltke wollte sich zunächst grundsätzlich mit dem Kriegsminister verständigen.

 

Die Erhöhung der Friedensstärke hing von den Entscheidungen des Kriegs-ministers ab, inwieweit er bei seinen Vorschlägen die Auffassung des Generalstabchefs berücksichtigen und welchen Umfang er dessen Forde-rungen zumessen wollte.

 

Gegenstand der Erörterung zwischen Kriegsministerium und Generalstab waren allein die einzelnen Forderungen in Teil II für die Heeresverstärkung und die für sie erforderlichen oder angebrachten Erhöhungen der Friedens-präsenzstärke des Heeres. Eine Debatte darüber, wie es gewesen wäre, hätte man tatsächlich 150.000 Rekruten jährlich zum Wehrdienst ein-gezogen und die Friedenspräsenzstärke des Heeres um 300.000 Mann erhöht, ist sinnlos. Diese Zahl stand nie zur Erörterung, nicht einmal als Forderung des Generalstabs.

 

Erhöhungen der Kriegsstärke des Heeres ergeben sich im Teil II der Denk- schrift nur aus dem Abschnitt Heeresvermehrung, insbesondere insoweit als die Neuaufstellung von 3 Armeekorps gefordert wird. Die geforderten Etatsverstärkungen erhöhten die Friedensstärke, führten aber zu keiner Erhöhung der Kriegsstärke.

 

 

4) Erläuterungen zu den einleitenden Absätzen von Teil II der Denkschrift

 

Zu unterscheiden ist zwischen der Gesamtzahl der Wehrpflichtigen und der Anzahl der Wehrpflichtigen, die aus dieser Gesamtzahl tatsächlich zum Wehrdienst tauglich waren. Diese Anzahl war nicht bekannt.

 

Die bestehende Friedenspräsenzstärke des Heeres war so beschränkt, dass man allenfalls die Hälfte aus der Gesamtzahl aller vorhandenen Wehr- pflichtigen für den Wehrdienst brauchte. Von der Hälfte der Wehr- pflichtigen, die nicht eingezogen wurde, war aber ein Teil ebenfalls als tauglich anzusehen. Um diesen Teil ging es.

 

Streitig war zwischen Generalstab und Kriegsministerium, wie viele der nicht zum Wehrdienst eingezogenen Wehrpflichtigen zum Wehrdienst tauglich waren, also wie viele taugliche Wehrpflichtige insgesamt dem Heer hätten zur Verfügung stehen können.

 

Eine entsprechende Anfrage hatte der Generalstabchef im Jahr 1912 an das Kriegsministerium gerichtet.

 

Die Antwort war, die Zahl der "wirklich waffenfähigen Gestellungs-pflichtigen" (so die Formulierung der Anfrage) sei dem Kriegsminister leider ebenfalls nicht bekannt und sie lasse sich auch nicht feststellen. Die Wehrpflichtigen hatten sich zwar zur Erfassung zu stellen, wurden aber nur teilweise ärztlich auf ihre Tauglichkeit untersucht, und von den als tauglich Gemusterten waren nicht alle verfügbar. Das Kriegsministerium stellte für seine Planung der Heeresvorlage 1912 Berechnungen über die mutmaßlich zur Verfügung stehenden tauglichen Wehrpflichtigen an; der Generalstab ging von einer weit höheren Zahl aus.

 

Zur Bereinigung der Kontroverse erklärte sich der Kriegsminister bereit, eine Änderung des Reichsmilitärgesetzes in die Wege zu leiten, um die wirkliche Zahl der tauglichen Wehrpflichtigen zukünftig empirisch fest- stellen zu lassen.

 

Dies war der Sachstand vom Dezember 1912.

 

Der Entwurfsverfasser von Teil II der Denkschrift hatte mit dem Einwand zu rechnen, so viele taugliche Wehrpflichtige, wie für die Erfüllung seiner Forderungen erforderlich seien, gebe es nicht und daher seien diese von vornherein unerfüllbar. Er ging daher in den einleitenden Absätzen in die Offensive, indem er die Zahl der bisher nicht eingezogenen tauglichen Wehrpflichtigen auf 150.000 jährlich schätzte und entsprechend eine Erhöhung der Friedenspräsenzstärke des Heeres um 300.000 Mann für möglich hielt. Damit waren die Forderungen des Teils II in jedem Fall von der Anzahl der tauglichen Wehrpflichtigen her erfüllbar.

 

Der Kriegsminister hat diese Zahlen zu keiner Zeit akzeptiert. Ohne eine Absenkung der Anforderungen an die Tauglichkeit der Rekruten lasse sich eine solche Zahl keinesfalls erreichen. Eine solche Absenkung müsse aber unbedingt vermieden werden, da sie das Heer schwäche. Nach der Vorstellung des Kriegsministers wurde mit seinen Vorschlägen bereits das Potential an verfügbaren Tauglichen in etwa ausgeschöpft.

 

Da die Forderungen der Denkschrift nur teilweise erfüllt wurden und die dafür erforderlichen tauglichen Wehrpflichtigen offenbar vorhanden waren, ist der Streit letztlich nur theoretischer Natur.

 

 

5) Erläuterungen zu Teil II  A. Heeresverstärkung.

    Zu 1. Etatsverstärkungen

    und zur Umsetzung der Forderungen im Heeresgesetz  1913

 

Der Löwenanteil der Erhöhung der Friedensstärke des Heeres wie im Heeresgesetz 1913 beschlossen (117.000 Gemeine, Gefreite und Ober-gefreite) und vermutlich auch der im Haushaltsplan neu zu schaffenden Planstellen für Unteroffiziere (projektiert 15.000 in 3 Jahren) entfiel auf sogenannte Etatsverstärkungen.

 

Die militärischen Einheiten standen im Frieden nur mit einem Teil ihrer Kriegsstärke unter Waffen. Dies war der sogenannte Präsenzstand. Im Heeresgesetz 1911 war der Präsenzstand bei einem Teil der Infanterie-bataillone, aber auch bei der Fußartillerie und möglicherweise anderen Einheiten abgesenkt worden. Insoweit lag eine qualitative Verschlechterung des Heeres vor.

 

Nunmehr forderte der Generalstabchef, bei allen Waffen den Präsenzstand anzuheben. 

 

Das war der Gegensatz zu der Konzeption des Heeresgesetzes 1911.

 

Zweck war eine eine Steigerung des inneren Gehalts und der inneren Kraft der Einheiten - insoweit lag  die Forderung ganz in der preußischen Überlieferung -, eine erhöhte Bereitschaft der Einheiten, vor allem der-jenigen an den Reichsgrenzen,  und letztlich die tatsächliche Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht. Zuletzt war im Jahre 1890 ein Vorhaben des damaligen Kriegsministers Verdy du Vernois, die allgemeine Wehrpflicht tatsächlich durchzuführen, am Widerstand des Reichstags gescheitert.

 

Für die Infanteriebataillone stellte die Denkschrift zwei unterschiedliche Forderungen auf:

 

5.1 Infanteriebataillone Forderung 1

Der bisherige "Hohe Etat" mit einer Mannschaftsstärke von 568 Mann sollte als Mindest-Präsenzstand im Frieden für alle Infanteriebataillone eingeführt werden.

 

Hierzu wird folgendes mitgeteilt:

 

Kriegs-Etatstärke bis 1914 unverändert

26 Offiziere (einschließl. San.Offiziere und obere Beamte)

82 Unteroffiziere (einschließl. Unterbeamte)

920 Mann

52 Mann San. und Trainpersonal

 

Friedens-Etatstärken seit 1911

Es gab 3 unterschiedliche Etatstärken:

Hoher Etat:

18 Offz.    3 Beamte   73 Unteroffz.    568 Mann

(93 Bataillone, seit 1912 erhöht auf 212 Bataillone)

Mittlerer Etat:

18 Offz.    3 Beamte   65 Unteroffz.    506 Mann

(326 Bataillone, seit 1912 vermindert auf  207 Bataillone)

Niedriger Etat (neu eingeführt 1911):

18 Offz.    3 Beamte   65 Unteroffz.    486 Mann

(196 Bataillone)

 

Die Anzahl der Bataillone mit dem Hohen Etat hatte das Kriegs-ministerium bereits im Jahr 1912 von 93 auf 212 Bataillone erhöht und die Zahl der Bataillone mit dem mittleren Etat entsprechend reduziert. Den niedrigen Etat hatte der Kriegsminister beibehalten. Jetzt wollte der Generalstabchef  auch die verbliebenen Bataillone mit dem mittleren Etat und diejenigen mit dem niedrigen Etat mindestens auf den Hohen Etat gebracht sehen. Den bisherigen niedrigen Etat und den bisherigen mittleren Etat sollte es zukünftig nicht mehr geben.

 

In seiner Heeresvorlage 1913 akzeptierte der Kriegsminister diese Forderung. Etatsverstärkungen wurden auch bei der Artillerie und anderen Einheiten durchgeführt - eine innere Stärkung des Heeres.

 

5.2 Infanteriebataillone Forderung 2

 

Teil II der Denkschrift Etatverstärkungen forderte weiter, einen neuen Hohen Etat im Frieden einzuführen, bei welchem die Bataillone auf 800 Mann gebracht werden sollten. Dieser neue Hohe Etat sollte bei den Grenzkorps und den Truppen zu besonderer Verwendung eingeführt werden.

 

Der Berechnungsmodus in der Denkschrift ist ein anderer als bei der Forderung, die unter 5.1 abgehandelt wurde, und das ist verwirrend. Die geforderte Stärke von 800 Mann sollte sowohl Mannschaften als auch Unteroffiziere umfassen. Die Aufteilung überließ die Denkschrift dem Kriegsminister.

 

Mit dieser Forderung sollten die Bataillone der Grenzkorps im Frieden auf etwa 80 % der Kriegsstärke gebracht werden. Sie wären dann im Kriegsfall sofort kampfbereit gewesen, auch vor einer Verstärkung durch Reservisten.

 

Dem folgte das Kriegsministerium nur teilweise. In zähen Verhand-lungen mit dem Generalstab wurde schließlich ein Kompromiß gefunden. Dieser sah wie folgt aus:

 

Friedens-Etatstärken nach der Heeresreform 1913

Es gab nur noch 2 unterschiedliche Etatstärken:

 

Neuer Niedriger Etat:

19 Offz.    3 Beamte   73 Unteroffz.    568 Mann

(354 Bataillone, bisher 212)

entspricht dem bisherigen Hohen Etat

 

Neuer Hoher Etat:

19 Offz.    3 Beamte   79 Unteroffz.    640 Mann

(also 719 Mann statt der beantragten 800 Mann,

der Aufsatzverfasser)

(297 Bataillone)

ist neu eingeführt

 

Kriegs-Etatstärke bis 1914 unverändert

26 Offiziere (einschließl. San.Offiziere und obere Beamte)

82 Unteroffiziere (einschließl. Unterbeamte)

920 Mann

52 Mann San. und Trainpersonal

 

 

5.3 Kommentar zu Infanteriebataillone Etatverstärkungen

Von einer grundsätzlichen Meinungsverschiedenheit zwischen Kriegs-ministerium und Generalstab kann keine Rede sein.

 

Besonders beachtlich ist bei den vorgenannten Zahlen,

 

  • dass die Anzahl der Offiziere je Bataillon nur um einen einzigen erhöht wurde, trotz Anhebung der Mannschaftsstärken, sodass man bei der Infanterie im Haushaltsplan nur 651 zusätzliche Planstellen an Offizieren für die Etaterhöhungen brauchte.

 

  • dass bei den Bataillonen mit dem neuen hohen Etat die Anzahl der Planstellen für Unteroffiziere fast den Kriegsstand erreichte. Die Last der Ausbildung der zusätzlichen Wehrpflichtigen sollte mithin von den Unteroffizieren getragen werden.

 

  • die große Anzahl der Bataillone mit dem neuen Hohen Etat. Erstaunlich ist, dass das Kriegsministerium nunmehr die zusätzliche Anzahl der für die neuen Präsenzstärken erforder-lichen Rekruten für erreichbar hielt, ohne Absenkung der Taug-lichkeitsanforderungen.

 

Die Erhöhungen sollten in 2 Teilschritten durchgeführt werden, der erste zum 01.10.1913, der zweite zum 01.10.1914. Das bedeutete aber keineswegs, dass die notwendigen Unteroffiziere an diesen Zeitpunkten bereits zur Verfügung standen. Man brauchte neue Unter-offiziersschulen, um sie heranzubilden.

 

5.4 Auswirkungen der Etaterhöhungen Infanteriebataillone

 

Die Erhöhung der Präsenzstärken zum 1.10.1913 wie vorstehend aus-geführt führte zu einer ersten Verjüngung der aktiven - im Frieden bestehenden - Einheiten bei Kriegsausbruch 1914. Um auf Kriegsfuß zu kommen, benötigten sie weniger Reservisten als zuvor, nämlich nur noch zwischen 39 % und 49 % Reservisten. Zuvor waren es zwischen 50 % und 60 % gewesen, bei  den Regimentern mit nur 2 Bataillonen bis zu 70 % Reservisten. Diese Zahlen werden vom Reichsarchiv mit-geteilt.

 

Eben dies war der unmittelbare Zweck der Etatsverstärkungen gewesen.

 

Auf längere Sicht - wäre der Krieg nicht bereits 1914 ausgebrochen - hätten die Etatsverstärkungen zu zusätzlichen Reservisten geführt. Es wäre möglich geworden, die Reservedivisionen ausschließlich aus Reservisten zu bilden. Es hätten mehr Ersatzreservisten als Ausgleich für gefallene und verwundete Soldaten zur Verfügung gestanden. Eine durchgehende Verjüngung des Feldheeres wäre erreicht worden.

 

Die Etatsverstärkungen hatten, um es noch einmal zu betonen, keinen Einfluss auf die Kriegsstärke des Heeres, sondern betrafen nur die Friedensstärke. Aus heutiger Sicht mag es schwer nachzuvollziehen sein, dass eine Erhöhung der Friedensstärke des Heeres eine Quali-tätssteigerung der bestehenden Einheiten und nicht eine Erhöhung der Kriegsstärke des Heeres zum Ziele hatte. Dies ist jedoch der geschichtliche Sachverhalt.

 

 

5.5 Etaterhöhungen Feldartillerie

Noch im Jahr 1912 hatte ein Teil der Batterien ein Drittel unbespannte Geschütze. Die Munitionswagen waren mit wenigen Ausnahmen unbespannt.  Die Beobachtungswagen waren sämtlich unbespannt.

 

Die Heeresreform 1913 brachte wesentliche Verbesserungen, aber keine vollständige Abhilfe, wie sie der Generalstab forderte.

 

Es  gab seit 1.10.1913 nur noch bespannte Geschütze und bespannte Beobachtungswagen. Die Munitionswagen blieben aber zum größten Teil unbespannt. Die Anzahl der Unteroffiziere und Mannschaften wurden erhöht.

 

Naturgemäß waren diese Erhöhungen eine bedeutsame qualitative Verbesserung.

 

5.6 Etatserhöhungen Fußartillerie

Die Herabsetzungen der Etatstärken, die aufgrund des Heeresgesetzes 1911 im Jahr 1912 erfolgt waren, wurden rückgängig gemacht. Die Anzahl der Unteroffiziere und Mannschaften wurden deutlich erhöht.

 

 

 

6) Erläuterungen zu Teil II  A. Heeresverstärkung.

     Zu 2. Heeresvermehrung

   und zur Umsetzung der Forderungen im Heeresgesetz 1913

 

Der Löwenanteil der vom Kriegsministerium für die Heeresreform 1913 veranschlagten einmaligen Ausgaben von (996 Millionen Mark abzüglich 200 Millionen Mark für die Ostfestungen =) 796 Millionen Mark dürfte auf diesen Bereich entfallen, allen voran auf den Ausbau der Verkehrstruppen.

 

Mit der tatsächlichen Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht hatten die in diesem Abschnitt aufgeführten Forderungen nach Heeresvermehrung nichts zu tun. Es ging ausschließlich um militärische und technische Sach-erfordernisse. Unter General v. Einem als Kriegsminister waren die Heeres-vermehrungen auf ein Mindestmaß reduziert worden, das nicht zu verant-worten war.

 

 

Forderung:

3 neue Armeekorps unter Heranziehung bestehender 5. Brigaden

 

Die Forderung wurde vom Kriegsminister nicht bewilligt. Sie war zuvor vom Generalstab in dieser Form nicht gestellt worden. In einem Schreiben des Generalstabchefs an das Kriegsministerium vom 14. Oktober 1912 war eher beiläufig von einer

 

"Ergänzung der Lücken unserer jetzigen Heeresorganisation und dem Ausbau der modernen Kampfmittel"

 

die Rede gewesen. Nunmehr folgte in der Denkschrift die Präzisierung auf mindestens 3 Armeekorps. Sie sollten einer entscheidenden Erhöhung der Kriegsstärke des Heeres dienen. Die dafür erforderliche Erhöhung der Friedensstärke wäre verhältnismäßig gering ausgefallen.

 

Der Ausgangspunkt dieser Forderung war der generalstabsmäßige Vergleich der beiderseitigen Truppenstärken im Westen und die aus ihr bei objektiver Betrachtung folgende Prognose eines Mißerfolgs im Kriege. Eine Verstärkung des Heeres um 3 Armeekorps, so der Generalstabchef, ist von ausschlaggebender Bedeutung für den siegreichen Ausgang des nächsten Krieges. Auf die ausführliche Gegenüberstellung der Kräfteverhältnisse im Kriegsfall in Aufsatz 5 mit Anlage wird verwiesen.

 

Mit den 5. Brigaden sind die überzähligen Infanterie-Truppeneinheiten gemeint, die der Aufsatzverfasser in der Anlage 3 zu Aufsatz 2 dargestellt hat. Ein Teil der Infanterie, die für die geforderten Armeekorps benötigt wurde, war bereits vorhanden.

 

Die Formulierung der Denkschrift "Ein Teil der 5. Brigaden..." läßt den Sachverhalt, dass in der Heeresorganisation Lücken bestanden, die geschlossen werden sollten, nicht erkennen.

 

Von den heutigen Lesern weiß dies nur jemand,  der sich eingehend mit der Entwicklung des Heeres befaßt hat.

 

Für den Entwurfsverfasser der Denkschrift war die Frage der Lücken an dieser Stelle anscheinend ohne Belang; ihm ging es allein darum, dass 3 neue Armeekorps aufgestellt wurden. Erleichtert wurde dies dadurch, dass man nicht alle Infanterieeinheiten neu aufzustellen brauchte. Wie die über-zähligen Inanterieeinheiten dabei verwendet werden sollten und in welchem Umfang dies geschehen sollte, war Sache des Kriegsministers.

 

Die Formulierung ist daher abstrakt gehalten.

 

Um eine Entscheidungsgrundlage zu erhalten, hatte der preußische Kriegs-minister durchzurechnen, welche Erhöhung der Friedensstärke für die geforderten 3 Armeekorps erforderlich war. In einer Aktennotiz von Anfang März 1913 kalkulierte General Josias v. Heeringen folgendermaßen:

 

".... Auch bei ausgedehntester Verwendung von überzähligen Infanterie-Truppenteilen würde etwa erforderlich sein ....

 

Stäbe

bei einem Armeekorps:

1 Generalkommando,

2 Divisionsstäbe.

bei drei Armeekorps:

1 Armee-Inspektion,

1 Sanitäts-Inspektion

3  Generalkommandos

6 Divisionsstäbe

 

Infanterie

                bei einem Armeekorps:

2 Infanterie-Brigade-Stäbe

4 Infanterieregimenter mit je 1 Maschinengewehr-Kompagnie

                bei drei Armeekorps:

8 Brigadestäbe

14 Infanterieregimenter mit je 1 Maschinengewehr-Kompagnie

 

Kavallerie

bei einem Armeekorps:

2 Kavallerie-Brigade-Stäbe

4 Kavallerie-Regimenter

bei drei Armeekorps:

6 Kavallerie-Brigade-Stäbe

12 Kavallerie-Regimenter

 

Feldartillerie

bei einem Armeekorps:

2 Feldartillerie-Brigade-Stäbe

4 Feldartillerie-Regimenter

bei drei Armeekorps:

6 Feldartillerie-Brigade-Stäbe

12 Feldartillerie-Regimenter

 

Fußartillerie

bei einem Armeekorps:

1 Bataillon Fußartillerie

bei drei Armeekorps:

1 Fußartillerie-Brigade-Stab

2 Fußartillerie-Regimenter

 

Pioniere

bei einem Armeekorps:

1 Bataillon mit Scheinwerfer-Abteilung

bei drei Armeekorps:

3 Bataillone mit Scheinwerfer-Abteilung

 

Verkehrstruppen

bei einem Armeekorps:

----

bei drei Armeekorps:

1 Telegraphen-Bataillon mit Funkerkompanie

 

Train

bei einem Armeekorps:

1 Bataillon zu 4 Kompanien nebst Traindepot

bei drei Armeekorps:

1 Kommando der Trains

3 Bataillone zu je 4 Kompanien nebst 3 Traindepots

        

        Es ergäbe dies   u n g e f ä h r   einen Mehrbedarf an

                                    (1 Armeekorps)                     (3 Armeekorps)

Offizieren:                            540                                        1.900

Unteroffizieren:                 2.200                                        7.500

Friedenspräsenzstärke

Mannschaften:                  12.200                                    44.000

Rekruten:                            6.200                                    23.000

(Ende des Zitats)

 

Sieht man sich die Zahlen an, so ist schwer verständlich, warum nicht sofort mit einer Neuaufstellung von zwei Divisionen begonnen wurde. Der Kriegsminister rückte die Frage in den Vordergrund, woher man die benötigten Offiziere nehmen solle. Zwei Divisionen ließen sich aber neu aufstellen, ohne dass man für die Infanterie zusätzliche Offiziere brauchte. Insoweit war die Argumentation nicht einschlägig.

 

Die Diskussion über die neuen Armeekorps ist über das abstrakte Stadium (und auch die Kalkulation des Kriegsminsters war abstrakt) nicht hinaus-gekommen, weder von Seiten des Kriegsministeriums noch von Seiten des Generalstabs. Sie verlief nach dem „alles-oder-nichts“-Prinzip. Eine Prüfung, was man kurzfristig zur Verstärkung des Heeres unternehmen könne, fand nicht statt. Konkrete Überlegungen, wo und wie man die neuen Armeekorps errichten könne, sind nicht bekannt geworden. Die Forderung wurde vom Kriegsminister pauschal abgelehnt. Der Generalstabchef fand zu keiner Argumentation, diese pauschale Ablehnung aufzubrechen. Er wäre aber vorläufig schon mit einem einzigen Armeekorps zufrieden gewesen - und das wußte der Kriegsminister. Konkrete Vorschläge für einen Kom-promiß machte der Generalstabchef aber nicht.

 

Forderung: Aufstellung der 3. Bataillone

 

Die Forderung begegnete keinem Widerspruch von Seiten des Kriegs-ministeriums.

 

Es ging um den Unterbau des Heeres, der unvollständig war. Die "kleinen" Regimenter hatten nur 2 statt der erforderlichen 3 Bataillone. Von den 41 Bataillonen, die seit dem Jahr 1898 fehlten, waren bis 1912 nur 8 und zum 1.10.1912 weitere 11 neu aufgestellt worden. Das reichte dem Generalstab nicht. Die Aufstellung der noch fehlenden Bataillone - 22 an der Zahl, wie sich schließlich herausstellte - "ergibt sich als selbstverständlich", so die Formulierung der Denkschrift. Sie wurde zum 1.10.1913  in Angriff genommen.

 

Auf die Ausführungen in den Aufsätzen 1 und 2 wird verwiesen. Dort sind auch die Nachteile der verspäteten Aufstellung dargestellt.

 

Forderung: Kavallerie-Regimenter

 

Hier ging der Kriegsminister über die Forderung der Denkschrift hinaus. Diese forderte lediglich die Bildung von Regimentern zur besseren Organisation, aber keine Neuaufstellungen. Der Kriegsminister sah nur 7 neue Regimenter, aber eine größere Anzahl von neuen Eskadrons vor. Ihre Anzahl wurde im Heeresgesetz 1913 von 516 auf 550 erhöht.

 

Forderung: Ergänzung der Fußartillerie

 

Die geforderte Ergänzung der Fußartillerie um 7 Bataillone wurde durch und für den beabsichtigten Ausbau der Festungen Graudenz und Posen not-wendig. Das Kriegsministerium ging dabei sogar über die Forderungen des Generalstabs hinaus. Die Bewilligungen im Heeresgesetz 1913 sollten erst mit dem fortschreitenden Ausbau der  Festungen durchgeführt werden, da sich erst dann der Bedarf ergab, sei es im Jahr 1914 oder, wahr-scheinlicher, ab 1915.

 

Forderung: Ergänzung der Pioniere

 

In einer "eingehenden Denkschrift vom 7. Mai 1900" - so die Formulierung des Reichsarchivs - hatte General Colmar v.d. Goltz, damals General-Inspekteur der Festungen und der Pioniere, Vorstellungen über den Ausbau des Pionierkorps entwickelt. Er drang mit seinen Vorstellungen nicht durch. Das Heeresgesetz 1905 brachte keine nennenswerte Vermehrung der Pioniereinheiten, die Heeresgesetze 1911 und 1912 nur geringe, trotz vorhandenen Bedarfs. Beim Reichsarchiv heißt es an späterer Stelle:

 

"... eine ... Denkschrift des Ingenieur-Komitees vom 18. Februar 1910 kam zu dem Schluß, dass die Pioniere wegen ihrer geringen Stärke, wie mit Sicherheit vorauszusehen sei, trotz sorgfältiger Ausbildung und größter Hingabe den Anforderungen der neuzeitlichen Kriegführung im Ernstfalle nicht würden Genüge leisten können."

 

Die Forderung der Denkschrift nach einer Ergänzung der Pioniere war mit-hin überfällig - vom Generalstab aber bisher mit Rücksicht auf fehlende Geldmittel nicht gestellt worden. Der Kriegsminister entsprach der Forderung, indem er in seiner Heeresvorlage die Anzahl der Pionierbataillone um ein Drittel vermehrte (von 33 auf 44 Bataillone). Dies wurde ins Heeresgesetz 1913 aufgenommen. Jedoch wurde diese Vermehrung vor Kriegsausbruch 1914 nur zu einem geringen Teil durchgeführt.

 

Auf die Ausführungen in Aufsatz 2 zur Person des Generals Colmar v.d. Goltz wird hingewiesen.

 

Forderung: Ergänzung der Verkehrstruppen

 

Die Entwicklung der neuzeitlichen Nachrichtentechnik, wie sie noch vor 1900 einsetzte, erforderte es, das gesamte Heer mit Telegraphentruppen auszustatten und eine entsprechende umfassende Organisation aufzu-bauen. Zunächst ging es um drahtgebundene Telegraphie, entsprechend dem Fortschritt der Technik kamen Funkerkompanien und Funkenstationen hinzu. Zum allgemeinen Verständigungsmittel innerhalb des Heeres wurde der Fernsprecher. Das erforderte den Aufbau von Fernsprechabteilungen.

 

Der Aufbau und Ausbau der Telegraphentruppen durch das Kriegs-minsterium hielt nicht mit den Erfordernissen Schritt; er litt unter Enschrän-kungen aus Mangel an finanziellen Mitteln. Das Heer geriet - als Ganzes gesehen - in seiner technischen Ausstattung mehr und mehr in Rückstand. Daher forderte die Denkschrift Ergänzungen namentlich an Telegraphen-bataillonen und Funkerkompanien. Dem entsprach der Kriegsminister in seiner Heeresvorlage 1913. Das Reichsarchiv schreibt:

 

"Eine größere Ausgestaltung ihrer Organisation erfuhren die Verkehrs-truppen; damit wurde der ... Bedeutung der neuzeitlichen Technik für die Kriegführung mehr als bisher Rechnung getragen. Allerdings wurde dieser Ausbau im wesentlichen erst durch die  Heeresvorlage 1913 in die Wege geleitet und war bis Kriegsbeginn noch nicht völlig durch-geführt."

 

Weiter heißt es im Text des Reichsarchivs:

"Hand in Hand mit diesem Ausbau ging ... eine völlige Neuorganisation der Telegraphentruppe, verbunden mit teilweisem Ersatz und einer Vervollständigung ihrer Ausstattung an Gerät und Fahrzeugen, die zum Teil motorisiert werden sollte... Die auf mehrere Jahre verteilte Umgestaltung war zwar seit 1913 etwas beschleunigt worden, ohne aber bis Kriegsbeginn bereits durchgeführt zu sein..."

 

Die vorhandenen Eisenbahntruppen und Kraftfahrtruppen genügten die militärischen Erfordernissen ebenfalls nicht. Daher sah der Kriegsminister die Aufstellung eines weiteren Eisenbahnbataillons vor. Sie wurde vor Kriegsbeginn nicht mehr durchgeführt. Bei den Kraftfahrtruppen wurde nichts weiter unternommen.

 

Auf den Aufsatz 7  Verkehrstruppen wird hingewiesen.

 

 

Forderung: Errichtung einer Inspektion der Lufttruppen

 

Der Generalstab sah bereits frühzeitig im Jahr 1912 die Dinge so, dass das Deutsche Reich um den Aufbau einer Flugzeugflotte nach französischem Vorbild nicht herumkommen werde. Darüber kam es zu Auseinander-setzungen mit dem Kriegsministerium. In einer grundlegenden Stellung-nahme des Generalstabs vom 26.9.1912 gegenüber dem Kriegsministerium hieß es dann am Ende:

 

"Die umfangreiche Ausgestaltung, die das Fliegerwesen ... erhalten wird, und das mit Sicherheit zu erwartende weitere Anwachsen der Fliegertruppe, ihrer Aufgaben und ihrer Bedeutung, lassen schon heute die Frage entstehen, ob nicht die völlige Selbständigmachung des Fliegerwesens, unter Löslösung von der G.I.d.M.V.

 

(G.I.d.M.V. - General-Inspektion des Militär-Verkehrswesens, der Aufsatzverfasser)

 

ein in Zukunft notwendiger und deshalb schon jetzt einzuleitender Schritt ist."

 

Mit diesem Vorschlag befand sich der Generalstab in Übereinstimmung mit dem General-Inspekteur des Militär-Verkehrswesens, General Alfred v. Lyncker.

 

Teil II der Denkschrift übernimmt diesen Vorschlag als Forderung.

 

Der Kriegsminister entsprach dem nicht. Er konnte sich nicht zu einer zukunftsgerichteten neuen Organisationsform entschließen. Die organi-satorische Verselbständigung wäre die Vorstufe zu einer selbständigen Teilstreitmacht Luftwaffe gewesen.  Bezeichnend ist, dass die Flieger im  Kriege erst einen eigenen Kommandierenden General - Ernst v. Hoeppner - erhielten, nachdem General Ludendorff am 29.08.1916 Generalquartier-meister geworden war und dies veranlaßte. Stabschef Hoeppners wurde Hermann Thomsen, der von 1907 bis 1913 Chef der Technischen Sektion in der 2. Deutschen Abteilung des Generalstabs gewesen war und in dieser Eigenschaft dort auch das Thema Fliegerwesen bearbeitet hatte.

 

 

Forderung: Erweiterung der Fliegerorganisation

 

Das Kriegsministerium stellte erstmals zum 1.10.1912 eine eigene Flieger-truppe auf. Deren Umfang entsprach weder den zuvor gestellten Forde-rungen der General-Inspektion des Verkehrswesens noch denen des Generalstabs, die  über diejenigen der General-Inspektion hinausgingen. Der Generalstab betonte die Bedeutung, welche Flugzeuge als Mittel zur Feindaufklärung für die militärische Führung hatten. Auch die Beschlüsse des Kriegsministeriums für die weitere Aufstellung von Fliegerformationen sah der Generalstab als unzureichend an.

 

Um den außerordentlichen Rückstand bei Flugzeugen und Flugzeugführern gegenüber Frankreich zu verringern, bedurfte es außerordentlicher Anstrengungen. Diese hatte der Generalstabchef in seiner  grundlegenden Stellungnahme vom 26.9.1912 gegenüber dem Kriegsministerium gefordert. Die Stellungnahme wird dem Aufsatz 7 als Anlage beigegeben. Der Kriegsminister berücksichtigte die Forderungen in seiner Heeresvorlage 1913 nur teilweise. Die Abstriche, welche er gegenüber dem geforderten Notprogramm des Generalstabs vornahm, wirkten sich nachteilig aus. Eine Fliegerabteilung zu 6 Flugzeugen für jedes  Armeeoberkommando reichte nicht aus, um die Lufterkundung in dem notwendigen Umfang durch-zuführen. Bei  der Artillerie wirkte sich das Fehlen von Flugzeugen für die Feuerleitung verhängnsivoll aus.

 

Der Rückstand an Flugzeugen, mit dem das Deutsche Heer in den 1. Weltkrieg eintrat, konnte im Krieg nicht mehr ausgeglichen werden.

 

Der vom Kriegsministerium in der Heeresvorlage 1913 vorgesehene Bau einer Flugzeug-Mutterstation für 50 Flugzeuge in Berlin konnte vor Kriegs-beginn nicht mehr durchgeführt werden.

 

Auf die einschlägigen Ausführungen in Aufsatz 7 wird hingewiesen.

 

 

Forderung: Verbesserung der Trainformationen

 

Das Fehlen einer ausreichenden Anzahl von Nachschubeinheiten war eine Schwachstelle des Heeres, die dessen Einsatz-und Kampffähigkeit schlecht-hin in Frage stellte. Die Forderung der Denkschrift nach Verbesserung der Formationen reichte zur Abhilfe nicht aus, das eine neue Bataillon, welches das Heeresgesetz 1913 brachte, ebenfalls nicht. Der Zustand blieb unbefriedigend. Dies sollte sich nach Kriegsausbruch 1914 in vehängnis-voller Weise zeigen.

 

Jedes Armeekorps besaß eine Train-Abteilung, zuvor Train-Bataillon genannt. Im Kriegsfall  hatte eine solche Abteilung aufzustellen:

 

8 Proviant-Kolonnen

12 Fuhrpark-Kolonnen

3 Feldbäckerei-Kolonnen

5 Sanitätskompanien

17 Feldlazarette

und anderes mehr.

 

Da die Abteilungen im Frieden nur einen geringen Personalbestand hatten, war es den Kommandierenden Generälen der Armeekorps ein Rätsel, wie das möglich sein sollte. Das brachten die Generäle auch zum Ausdruck. Nachhaltige Maßnahmen, um diesen Zustand zu ändern, gab es nicht, über Jahre hinweg. Dass die Denkschrift lediglich Verbesserungen, nicht aber Ergänzungen des Trains verlangt, ist erstaunlich. Denn ohne Ergänzungen ließ sich keine wirksame Abhilfe schaffen.

 

Das Kriegsministerium erhöhte im Jahr 1913 die Zahl der Eskadrons - zuvor Kompanien genannt - je Abteilung von 3 auf 4 und stellte eine weitere Train-Abteilung auf. Die Erhöhung war bereits im Heeresgesetz 1911 vorgesehen gewesen, jedoch erst für 1914/15, und wurde nunmehr zeitlich vorgezogen. Weitere Verstärkungen der Einheiten waren für 1914/15 geplant; die in Aussicht genommene Aufstockung der Abteilungen zu Regimentern wurde auf die Jahre 1916 bis 1921 vertagt. Der Nachholbedarf wird aus diesen Absichten erkennbar, aber auch, dass die Politik des Aufschiebens selbst dringlichster Maßnahmen in der Heeresreform 1913 noch nicht beendet worden war.

 

Von der Ausstattung der Reserveformationen und erst recht der Landwehr-formationen mit Nachschubeinheiten schweigt man besser.

 

Die Vermehrung der Eskadrons 1913 war ein Fortschritt. Die Bedenken, welche die Kommandierenden Generäle wegen der Unzulänglichkeit der Trainformationen geäußert hatten, waren dadurch aber nicht beseitigt. Der General a.D. Friedrich v. Bernhardi kommentierte:

 

"Nicht genügend verstärkt ist vor allem der Train, dessen hohe Bedeutung für die moderne Kriegführung wohl noch unterschätzt wird."

 

Die Bedenken erwiesen sich nach Kriegsausbruch 1914 während des Vormarsches in Frankreich als berechtigt.

 

 

7) Erläuterungen zu Teil II  A. Heeresverstärkung

    Zu 3. Verbesserungen der Formationen 2. Linie,

    hier: Reserveformationen

    und zur Umsetzung der Forderungen im Heeresgesetz 1913

 

In diesem Abschnitt der Denkschrift sind mehrere Forderungen enthalten. Auf einige davon soll im Folgenden eingegangen werden.

 

  • Verjüngung und weiterer Ausbau der bestehenden Reserve-Forma-tionen unter Ausschaltung der Landwehr

 

Für den Kriegsfall war die Aufstellung von 28 Reservedivisionen (Anzahl etwa seit 1910) vorbereitet. Sie waren bunt gemischt:

 

  • teilweise bestanden sie aus aktiven - bereits im Frieden beste-henden - Einheiten (vier Brigaden und drei einzelne Regimenter). Deren Anzahl hätte sich vermindert, wären diese Einheiten teilweise zur Bildung neuer Dvisionen und Armeekorps heran-gezogen worden. Als Ersatz für diese wären dann weitere Reserve-Regimenter erforderlich geworden.
  • teilweise bestanden sie aus Reserve-Einheiten (113 Reserve-regimenter zu 3, zu einem geringen Teil aber auch noch zu 2 Bataillonen, zusammengefaßt in 57 Reserve-Brigaden). Diese Reserve-Einheiten aber bestanden - wiederum bunt gemischt - aus durchschnittlich einem Prozent aktiven Mannschaften, 36 bis 59 Prozent Reservisten und 63 bis 40 Prozent Landwehr I.  

Die Durchschnitts-Angaben des Reichsarchivs lassen nicht deutlich werden, wie die Formationen gebildet wurden: In den Reserve-Einheiten wurden ganze Landwehr-Bataillone und möglicherweise sogar Landwehr-Brigaden verwendet.

 

Diesem Durcheinander bei den Reserve-Einheiten wollte die Denk- schrift ein Ende bereiten. Sie sollten in Zukunft nur noch aus Reser-visten bestehen; die Landwehr sollte ausgeschaltet werden.

 

Das hätte zu einer Verjüngung der Reserve-Einheiten geführt. Nur zur Erinnerung wird ausgeführt:

 

Reservisten

waren gediente Wehrpflichtige bis zum beginnenden 28. Lebensjahr

Landwehr I

waren gediente Wehrpflichtige ab dem beginnenden 28. Lebensjahr bis zur Vollendung des 32. Lebensjahres.

 

In den Reserve-Einheiten wurden im Regelfalle Landwehr-Leute bis zum beginnenden 31. Lebensjahr verwandt. Im Laufe der nächsten Jahre sollte man soweit kommen, dass nur noch gediente Wehr-pflichtige bis zum beginnenden 28. Lebensjahr verwendet zu werden brauchten. Damit wäre - nebenbei bemerkt - der verfassungsmäßige Zustand, wonach die Dienstzeit  im stehenden Heer  7 Jahre betrug, wieder hergestellt worden.

 

Voraussetzung für eine Ausschaltung der Landwehr aus der Reserve war, dass zusätzliche Reservisten in großer Anzahl verfügbar gemacht wurden. Dazu war die Anhebung des Präsenzstandes der im Frieden bestehenden Infanterie-Bataillone wie unter "Etatstärken" ausgeführt erforderlich. Der Zweck der Anhebung der Etatstärken war also die Verjüngung des Heeres und die Vereinheitlichung seiner Organi-sationsstrukturen. Es ging nicht um die Anhebung der Kriegsstärke. Die Durchführung der Maßnahme hätte mehrere Jahre Zeit bean-sprucht.

 

Um die Betrachtung zu vervollständigen, ist noch eine Bemerkung angebracht. Der Entwurfsverfasser der Denkschrift, Oberst Ludendorff, wollte, dass die Reservedivisionen möglichst aus gleichen Jahr-gangsklassen zusammengesetzt wurden. Das hatte bei einer Mobil-machung des Heeres vermehrte Truppentransporte zur Folge. Dies Übel, so sah es Ludendorff, war geringer als das Übel ungleichmäßig zusammengesetzter Einheiten. Offenbar hatte Ludendorff genaue Vorstellungen, wie die Reservedivisionen aussehen sollten.

 

Die Reserve-Einheiten waren teillweise unvollständig; sie sollten ergänzt und gleichmäßig gegliedert werden. Auch dies beinhaltet die Forderung der Denkschrift.

 

  • Schaffung einer weitergehenden Übungsmöglichkeit

Hierüber waren sich Generalstab und Kriegsministerium einig.

 

  • Vermehrung der aktiven Offiziersstellen

Dass ein zusätzlicher Bedarf besteht, wird in der Denkschrift ein weiteres Mal gegenüber früheren Ausführungen wiederholt. Der Bedarf wird nicht durch die Denkschrift neu begründet. 0ffenbar akzeptierte das Kriegsminsterium diese Forderung. Ein Teil der für die Heeres-reform 1913 vorgesehenen neuen Offiziersstellen sollte mit Rücksicht auf diesen zusätzlichen Bedarf neu geschaffen werden.

 

Zweck war die Anhebung der Qualität. Entgegen allen bisherigen Gepflogenheiten wollte der Generalstabchef die Reservedivisionen im Kriegsfall sofort zum Kampf in vorderster Linie heranziehen. Das widersprach allen Erfahrungen, die man in früheren Kriegen mit Reserveformationen gemacht hatte, und beinhaltete daher ein hohes Risiko. Im Generalstab bestanden erhebliche Zweifel, ob die Reserve-divisionen dieser Aufgabe gewachsen sein würden. Daher suchte der Generalstab die Qualität der Reservedivisionen auf jede nur erdenk-liche Weise zu verbessern. Die vermehrte Ausstattung mit aktiven Offizieren war eines der Mittel hierzu.

 

  • Zusätzliche Maschinengewehre und Feldartillerie für die Reserve-divisionen

Die Ausrüstung der Reservedivisionen entsprach nicht den Anfor-derungen, die sich aus der vom Generalstabchef beasbsichtigten sofortigen Verwendung zum Kampf in vorderster Linie ergaben. So hatten die Reservedivisionen im Regelfall nur die Hälfte der Feld-artillerie der aktiven Divisionen, nämlich nur ein Regiment anstatt zweier Regimenter, und keine schwere Artillerie. Dem Generalstab, der kein Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Reservedivisionen hatte, erschien dies zu wenig. Die Reservedivisionen sollten, wie die aktiven Divisionen,  drei Batterien (1 Abteilung) leichte Feldhaubitzen erhalten.

 

Diese Forderung ging nicht durch. Das Reichsarchiv teilt mit:

 

"Mit leichten Haubitzen waren bei Kriegsbeginn ... erst zwei Reserve-Abteilungen bewaffnet. In der Kriegsstärke der Reserve-Batterien betrug nach dem Stande von 1914 der Anteil der aktiven Mannschaften 17, an Reservisten 73 bis 31, an Landwehr I und II 10 bis 52 %. Fernsprechgerät hatten die Reserveformationen größtenteils noch nicht erhalten. - Die Ausstattung der Reserveverbände mit Kolonnen wies ebenfalls noch mancherlei Lücken auf".

 

Das bedeutet, dass die Munitionsversorgung der Reservedivisionen unzureichend war. Auch die Versorgungseinheiten - und damit die Versorgung der Reserveeinheiten - waren unzureichend. Das Reichs-archiv kommentiert:

 

"Dieser Mangel an Kolonnen und Trains, den zu beheben Personal und Geld fehlten, erschwerte neben

 

dem Mangel an Artillerie, Pionieren und Verkehrstruppen

 

ebensosehr die erstrebte Erhöhung der Leistungsfähigkeit ...  wie eine sonst mögliche Vermehrung ihrer Zahl..."

 

Bei den Reserve-Maschinengewehr-Kompanien teilt das Reichsarchiv mit, dass bei Kriegsausbruch 29 der 113 Infanterie-Reserve-Regimen-ter keine Maschinengewehr-Kompanien hatten. In welchem Jahr mit der Aufstellung der Reserve-Maschinengewehr-Kompanien begonnen wurde, läßt sich den Mitteilungen des Reichsarchivs nicht entnehmen. Die Angaben erscheinen unklar und teilweise widersprüchlich. Im Herbst 1910 sei mit der Aufstellung begonnen worden. In der Kriegs-formation 1910 sind 27 Reserve-Maschinen-gewehr-Kompanien auf-geführt. In den Jahren 1911 bis 1914 soll eine Vermehrung von 61 auf 88 stattgefunden haben. In der Kriegsformation 1913/14 sind 85 Reserve-Maschinengewehr-Kompanien aufgeführt. Die Verteilung der Kompanien auf die Reserve-Divisionen war unterschiedlich.

 

Angesichts der Verdoppelung der Anzahl der Maschinengewehr-Kom-panien bei den aktiven Einheiten zum 1.10.1913 und der Vermehrungen bei den Reserveeinheiten drängt sich die Frage auf, wie es um die Munitions-versorgung stand? Konnte für die große Anzahl von Neuaufstellungen in so kurzer Zeit - 1 oder 2 Jahre - eine ausreichende Munitionierung sichergestellt werden? Wir wissen es nicht, da das Reichsarchiv den geplanten 2. Anlagenband über die Munitionsversorgung des Heeres nicht herausgebracht hat. Aber Zweifel sind angebracht, da die Kapazitäten für die Munitions-erzeugung begrenzt waren.

 

8) Erläuterungen zu Teil II A. Heeresverstärkung

    Zu 3. Verbesserung der Formationen 2. Linie,

     hier: Landwehr

    und zur Nicht-Umsetzung in der Heeresreform 1913

 

Die Ausstattung der vorhandenen Landwehr-Einheiten mit Feldartillerie und anderer Ausrüstung entsprach in keiner Weise den im Kriegsfall zu erwartenden Anforderungen. Die Heeresreform 1913 änderte daran nur wenig oder gar nichts. Die stiefmütterliche Behandlung der Land-wehr-Einheiten durch das preußische Kriegsministerium entsprach ihrer Bedeutung im Kriegsfall nicht.

 

    8.1

    Landwehreinheiten brauchte das Heer

 

als Besatzungen zur Verteidigung der Festungen des Reiches. Die hierfür vorgesehenen Einheiten bestanden zwischen 78 und 100 % aus Landwehr II, also gedienten Wehrpflichtigen zischen dem beginnenden 32. bis zum vollendeten 39. Lebensjahr.

Im August 1914 wurden aus den Weichselfestungen, da diese noch nicht unmittelbar bedroht waren, Teile der Besatzungen herausgezogen und als Flankenschutz an die Südgrenze Ost-preußens verlegt. Der Vorgang, dass man Festungs-besatzungen zunächst vorwärts der Festungen in freiem Gelände kämpfen läßt, war nicht ungewöhnlich.

 

zur unmittelbaren Verteidigung des Reichsgebiets, vor allem am Oberrhein und in Ostpreußen, außerhalb der Festungen. Dort konnte die zahlenmäßige Schwäche der 8. Armee auf keine andere Weise ausgeglichen werden, da eine Neuaufstellung von Truppen im Kriegsfall nicht vorgesehen war. Für die Schlacht, welche nachmals den Namen "Tannenberg" erhielt, wurde die 8. Armee, welche Ostpreußen verteidigte, um eine Landwehr-Division aus Schleswig-Holstein verstärkt (von 9 auf 10 Divisionen). Das zeigt, dass die in Ostpreußen bereit gestellten Landwehr-Einheiten nicht ausreichend waren.

 

 

zur Unterstützung der militärischen Operation des General-stabchefs im Westen. Die Landwehr hatte militärische Aufgaben im Rücken der in vorderster Linie kämpfenden Einheiten zu über-nehmen, z.B. Blockierung feindlicher Festungen (nicht: Erobe-rung!), Sicherung der Nachschubwege und anderes mehr. Konnte die Landwehr diese Aufgaben nicht oder nur unvollkommen übernehmen, mußten Einheiten der vordersten Linie für diese Zwecke zurückbleiben. Die Angriffskraft der vordersten Linie ließ dann im Verlaufe der Operation immer weiter nach. Daran konnte die Operation schließlich scheitern. Der Vorgang ist von General Carl v. Clausewitz (1780 - 1831) in seinem Werk "Vom Kriege" in Buch VII Kapitel IV unter dem Stichwort "Abnehmende Kraft des Angriffs" beschrieben worden. Das gehörte zum grundlegenden militärischen Wissen.

 

   8.2

 

Eine organisatorische Zusammenfassung der Landwehr-Einheiten zu Groß-Kampfverbänden war nur in Ausnahmefällen vorgesehen. Vermutlich scheiterte dies an den Kosten, die eine dann erforderliche Ausrüstung mit Artillerie und Maschinengewehren verursacht hätte.

 

Es gab bei Kriegsausbruch 1914 in der Kriegsformation des Heeres

 

  • ein einziges Landwehrkorps, das Schlesische, mit 4 Landsturm-Kanonenbatterien,
  • zwei Landwehr-Divisionen mit 4 bzw. 2 Kanonen-Batterien plus 5 Landsturm-Kanonen-Batterien.
  • 15 weitere Landwehrbrigaden und 1 Regiment. Ihnen standen jeweils 1, in Ausnahmefällen auch 2 Landsturm-Kanonenbatterein zur Verfügung. 

 

Ob die Batterien bereits Rohrrücklaufgeschütze waren oder ob sie noch  der früheren Generation von Geschützen angehörten, teilt das Reichsarchiv nicht  mit. Zur Ausstattung der Landwehr schreibt das Reichsarchiv lediglich:

 

"Außerordentlich gering war die Zahl der meist als selbständige Einheiten aufzustellenden Landwehr-Batterien geblieben, so dass den mobilen gemischten Landwehr-Brigaden, wenn überhaupt, nur ganz wenig Feldartillerie zugeteilt werden konnte. Als Aushilfe sollten ein Teil der vorgesehenen Landsturm-Batterien herangezogen werden, deren Zahl freilich auch nur gering war. Munitions-Kolonnen fehlten bei der Landwehr fast vollständig; nur für das Landwehr-Korps waren im Frühjahr 1914 zwei leichte Kolonnen und einige zu einer Landwehr-Munitions-Kolonnen-Abteilung vereinigte Infnterie- und Artillerie-Munitions-Kolonnen bereitgestellt worden".

"Maschinengewehre hatte die Landwehr bis Kriegsbeginn noch nicht erhalten..."

 

   8.3

Der Befund bei den Landwehr-Einheiten ist vergleichbar mit den über-zähligen Einheiten bei den aktiven Formationen:

 

Eine Zusammenfügung bestehender Brigaden und Regimenter zu Divisionen und Korps unterblieb, weil man dafür Feldartillerie und andere Ausrüstung benötigt hätte - diese zu beschaffen war nach Meinung der preußischen Kriegsminister aber aus Mangel an Geldmitteln ausgeschlossen.

 

Es wurden also nicht alle bestehenden Infanterie-Truppeneinheiten in der Weise genutzt, die wünschenswert und zumindest theoretisch auch möglich gewesen wäre.

 

 

  8.4

Anfang September 1914 wurde im Osten damit begonnen, aus bestehenden Landwehr-Einheiten Divisionen aufzustellen. Der Krieg im Osten wurde zu einem beträchtlichen Teil mit Landwehr-Einheiten geführt. Notgedrungen wurden sogar Landsturm-Formationen zum Kampf in vorderster Linie eingesetzt. General Ludendorff hat die Aufstellung der Landwehr-Divisi-onen in "Meine Kriegserinnerungen" beschrieben ("Der Feldzug in Polen Herbst 1914 Abschnitt IX). Die Überalterung des Heeres trat im Osten augenfällig in Erscheinung.

 

 

9) Erläuterungen zu Teil II A. Heeresverstärkung

    Zu 4.  Ergänzung und Verbesserung der Heeresausrüstung

    hier: Die Schaffung einer vermehrten Munitionsreserve

    und zur (Nicht-?) Umsetzung im Heeresgesetz 1913

 

Das Deutsche Reich ging 1914 mit einer unzureichenden Munitionsreserve und mit völlig ungenügenden Produktionskapazitäten sowie unzureichen- den Rohstoffvorräten für die Produktion in den Krieg - aus Vorkriegssicht wohlgemerkt. Dass dies eine Ursache für die Niederlage im Krieg war, steht außer Frage.

 

Die bedeutsamste Maßnahme bei der Artillerie in den letzten 10 Jahren vor Kriegsausbruch war die Umrüstung auf eine neue Generation von Geschützen, die Rohrrücklaufgeschütze. Sie erlaubten eine um ein Mehr-faches höhere Feuergeschwindigkeit als die bis dahin verwendeten Geschütze. Sie wird mit bis zu 20 Schuß pro Minute angegeben. Mit einem zukünftig höheren Munitionsverbrauch war daher zu rechnen. Die Erfahrungen früherer Kriege durften nicht mehr als maßgebend angesehen werden.

 

Es stellt sich die Frage, ob das preußische Kriegsministerium dem durch eine  vermehrte Munitionserzeugung Rechnung trug.

 

Sichere Angaben darüber können nicht gemacht werden. Das Reichsarchiv bereitete zwar einen II. Anlagenband zur Munitionsversorgung des Heeres vor. Die Arbeiten wurden jedoch abgebrochen. Die Ursache dafür ist unbekannt. Man muss daher das an Dokumenten nehmen, was bekannt ist. Sie sprechen eindeutig gegen eine aus Vorkriegssicht ausreichende Muni-tionsversorgung.

 

Bereits fünfeinhalb Jahre vor Kriegsausbruch 1914 sagte der Generalstab-chef für den Kriegsfall einen Mangel an Munition voraus. In seinem Schreiben vom 28.1.1909 an das Allgemeine Kriegsdepartment im Kriegs-ministerium heißt es:

 

"Aufgrund der diesjährigen Berichte über die Verwaltungsreisen halte ich es für erforderlich, dass der Munitionsnachschub mehr, als bisher geschehen, sichergestellt wird. Andernfalls wird nach den ersten großen Schlachten, die wir zu Beginn der Operationen zu erwarten haben, Munitionsmangel beim Heere eintreten.

 

Die nach der besonderen Anlage ... vorhandene Munitionsmenge wird, unter Zurechnung der feldmäßigen Schießübungsmunition, zunächst für die Infanterie und Fußartillerie genügen, die außerdem über Festungsbestände verfügen könnte. Bei der Feldartillerie ist Muni-tionsmangel vorauszusehen. Auch meine Forderung, außer der Schieß-übungsmunition eine einmalige Kriegsausrüstung als Reserve nieder-zulegen, wird diesen Mangel nur einschränken, wenn die schnelle Fertigstellung und Anfertigung noch weiterer Feldartillerie-Munition in den Fabriken technisch möglich ist, planmäßig vorgesehen und vom ersten Mobilmachungstage ab mit rastloser Energie betrieben wird.

Auch für die Munition der anderen Waffen  wird dies in zweiter Linie als notwendig angesehen werden müssen..."

 

(Zitat Ende)

 

Vier Jahre später hatte sich, trotz einer regen Korrespondenz zwischen Generalstab und Kriegsministerium und einzelnen Verbesserungen, nichts Grundlegendes geändert. Jedoch waren Beschlüsse zum Aufbau einer Munitionsreserve gefaßt worden. Für die Jahre bis 31.3.1916 teilte der Kriegsminister dem Reichskanzler Forderungen zur Munitionsausstattung des Heeres mit (Anlage zum Schreiben des Kriegsministers an den Reichskanzler vom 2.12.1912, vom Reichsarchiv nicht abgedruckt). 

 

Den Sachstand zum Jahresende 1912 gibt der Generalstabchef in einer grundlegenden Stellungnahme vom 1.11.1912 an das Kriegsministerium wieder. Darin wird unterschieden:

 

Munitionsbestände bei den Armeekorps

(was die Armeekorps im Kriegsfall bei sich führten)

 

Zitat

"Die Feldkanone hat rund 400 Schuß pro Geschütz beim Armeekorps...

Die leichte Feldhaubitze hat eine ganz ungenügende Munitions-ausrüstung beim Armeekorps. An der Verbesserung wird gearbeitet, auch nach ihrer Durchführung bleibt die Schußzahl pro Armeekorps nur eine äußerst geringe..."

(Zitat Ende)

 

In einem früheren Schreiben des Generalstabs an das Kriegsministerium (6.1.1912) wurde ausgeführt, dass ein Armeekorps 50.043 + 4.286 oder nur 42.894  + 8572 Schuß mitführe. Ob eine Beziehung zwischen den beiden Angaben besteht, hat der Aufsatzverfasser nicht ermitteln können.

 

Anzumerken ist hier noch, dass die leichten Feldhaubitzen erst in den letzten 2 Jahren vor Kriegsbeginn in größerem Umfang neu eingeführt worden waren und vorhandene Kanonenbatterien ersetzt hatten (die dann an anderer Stelle verwendet wurden, wo sie dringend benötigt wurden). Zum 1.10.1912 stellte der Kriegsminister 18 Kanonenbatterien und zum 1.10.1913 69 Batterien leichte Feldhaubitzen neu auf.

 

Mobilmachungslieferungen

(was im Kriegsfall an Munition neu hergestellt werden sollte)

 

(Zitat)

(sie) ... setzen bei der Feldkanone mit der 7. bis 8. Woche, und zwar in Preußen mit 120.000 Schuß, d.h. etwa 40 Schuß pro Geschütz der Feld- und Reserve-Feldartillerie, ein. Es folgen alle weitere 4 Wochen je 40 - 50 Schuß pro Geschütz....

Die Feldkanone muß demnach mit der im Frieden vorhandenen Muni-tion bis zur 7. bis 8. Woche auskommen."

(Zitat Ende)

 

Die Mobilmachungslieferungen beliefen sich also auf durchschnittlich 1-2 Schuß pro Geschütz täglich.

 

Dass dies den zu erwartenden Bedarf niemals decken konnte, bedarf keiner Erläuterungen. Man liest immer wieder mit Erstaunen, dass die Indu-strieproduktion  Deutschlands vor 1914 im Begriff gewesen sei, diejenige Großbritanniens zu überflügeln. Bei der Munitionsversorgung des Heeres schlug sich das jedenfalls nicht nieder. Offenbar kapitulierte das Kriegs-ministerium vor der Aufgabe, Rüstungskapazitäten auch nur für die dop-pelte Munitionsmenge zu schaffen und bereit zu halten.  Der Forderung des Generalstabs aus dem Jahre 1909, für den Kriegsfall ausreichende Rüstungskapazitäten vorzusehen, wurde nicht entsprochen. Ob das nur an dem schlechten Zustand der Staatsfinanzen lag, muss dahingestellt bleiben. 

 

Die Munitionserzeugung im Kriege begann auf einem extrem niedrigen Niveau. Zugleich aber war der Munitionsverbrauch um ein Vielfaches höher als vor Kriegsbeginn angenommen. Chronischer Munitionsmangel war die Folge. Im Herbst 1916 suchte das Hindenburgprogramm des Generalstabs den Munitionsmangel zu lindern.

 

Den Äußerungen des Kriegsministeriums entnahm der Generalstab, dass diesem eine Steigerung der unzureichenden Mobilmachungslieferungen nicht möglich (!) erschien. Er konzentrierte seine Forderungen daher auf den Aufbau einer Munitionsreserve.

 

Munitionsreserve

(was im Frieden als Reserve aufgebaut wurde)

 

Für die Feldartillerie beziffert das Schreiben des Generalstabchefs vom 1.11.1912

 

  • die vorhandene Munitionsreserve in Preußen auf auf etwa 1 1/2 des Bestandes von 400 Schuß, den die Armeekorps mit sich führten

 

  • die vom Kriegsministerium beabsichtigte Munitionsreserve auf 1200 Schuß pro Geschütz

 

Ob die 1200 Schuß bis Kriegsbeginn erreicht wurden, ist nicht ersichtlich.

 

Der Generalstab begrüßte die beabsichtigten 1200 Schuß, hielt sie aber für unzureichend. "Für eine wirklich energische Kriegführung .... über den 40. und 50. Mobilmachungstag hinaus fehlen aber auch dann die erforderlichen Munitionsmengen".

 

Der Entwurfsverfasser des Schreibens vom 1.11.1912, der Oberst Luden-dorff, sah die Sache so:

 

"Wir müssen uns schon auf einen langwierigen Feldzug mit zahlreichen schweren, lang dauernden Kämpfen gefaßt machen, bis wir   e i n e n   unserer Gegener niederzwingen; die Kraftanstrengung und der Kräfte-verbrauch steigern sich, wenn wir auf verschiedenen Kriegsschauplätzen im Westen und Osten nacheinander siegen müssen und vorher mit Unter-legenheiten gegen eine Überlegenheit zu kämpfen haben...."

 

Von Siegeszuversicht ist da nichts zu spüren.

 

Ob und inwieweit die Heeresvorlage 1913 Verbesserungen der Munitions-ausstattung vorsah, hat der Aufsatzverfasser nicht ermitteln können. Aus einer Fußnote des Reichsarchivs zu dem bereits zitierten Schreiben des Kriegsministers an den Reichskanzler vom 2.12.1912 ergibt sich, dass dieser für die Zeit bis 31.3.1916 für Material- und Munitionsbeschaffungen Forderungen vortrug.  Es ist also durchaus vorstellbar, dass er diese Forderungen auch in seiner Heeresvorlage 1913 berücksichtigte. Bis zum Kriegsbeginn 1914 hatte sich an der Lage nichts Wesentliches geändert.

 

 

10) Erläuterungen zu Teil II B. Landesverteidigung

 

10.1 Armierung

Moderne Festungen besaßen weit vorgeschobene Außenwerke. Die Räume zwischen diesen Außenwerken mußten im Kriegsfall zur Verteidigung ausgebaut und hergerichtet werden, sogenannte Armierung. Das erforderte Tausende von Arbeitskräften - und Zeit. Ob diese zur Verfügung stehen würde, war zweifelhaft. Der Generalstab hielt es für geboten, die Möglichkeit feindlicher Überraschungsangriffe in die Überlegungen mit einzubeziehen. Daraus ergab sich die Folgerung, bei den Grenzfestungen die Armierung bereits im Frieden vorzubereiten.

 

Inwieweit dies geschah, ist unklar. Im Westen wurden anscheinend umfangreiche Befestigungsarbeiten vorgenommen, vor allem der Ausbau einer festen Stellung zwischen der Festung Metz und Diedenhofen. Im Osten war man wohl noch nicht so weit.

 

10.2 Ausbau der Festung Posen

 

Im 19. Jahrhundert hatte Preußen Posen zu einer der stärksten Festungen in Europa ausgebaut.  Posen lag - und liegt - an der Warthe auf halbem Wege zwischen Warschau und Berlin und war zusammen mit den Weichsel-festungen die militärische Absicherung des Königreichs Preußen nach Osten. Deren Notwendigkeit hatte sich im siebenjährigen Krieg heraus-gestellt, als russiche Truppen ungehindert durch Polen nach Schlesien und Brandenburg marschierten. Das 19. Jahrhundert brachte auch die Eisen-bahnlinie von Warschau nach Berlin, die durch Posen führte und von der Festung gesperrt wurde.

 

Die Festung Posen bestand aus einem Kernwerk, auch Weinberg-Festung genannt, und 18 Außenforts. Der Umfang wird mit etwa 30 Kilometern angegeben. Für eine neuzeitliche Festung zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das eine zu geringe Größe. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts war die Festung nicht mehr weiterentwickelt worden. Über ihren Zustand unter-richtet das Reichsarchiv durch die Wiedergabe eines Berichtes, den General Mudra in seiner Eigenschaft als Generalinspekteur des Ingenieur- und Pionierkorps und der Festungen unter dem Datum vom 09.11.1911 dem Generalstabchef übersandte (Dokument Nr. 40  Reichsarchiv I. Anlagen). Darin heißt es:

 

"Ich muss, wie schon wiederholt von meinen Vorgängern geschehen, auch meinerseits betonen, dass Thorn und Posen den an eine moderne Festung zu stellenden Anforderungen nicht mehr entsprechen. Ihre Werke sind nur gerade auf den am meisten gefährdeten Fronten gegen moderne schwere Artillerie verstärkt; Panzerschutz für die wichtigsten Kampfgeschütze fehlt fast ganz. Dazu kommt als weiterer Nachteil die geringe räumliche Ausdehnung beider Festungen. Posen ermangelt überdies, nachdem die Stadtumwallung aufgegeben ist, in seiner fortifikatorischen Gestaltung der für eine hartnäckige Verteidigung heute mehr denn je notwendigen Tiefengliederung."

 

Daraus ergab sich für Mudra die Forderung nach einem Ausbau und einer Erweiterung der Festung, die "baldigst in Angriff" genommen werden sollte.

 

In der Denkschrift übernimmt der Generalstabchef die Forderung als eigene. Sie wurde vom Kriegsministerium akzeptiert und Bestandteil des Heeresgesetzes 1913. Soweit dem Aufsatzverfasser bekannt, wurde noch vor Kriegsbeginn 1914 eine Modernisierung des Kernwerks durchgeführt. Die im Nachtragshaushalt für Festungen ausgewiesenen 70 Millionen Mark dienten diesem Zweck.

 

10.3 Erweiterung der Festung Graudenz

 

Die Festung war von Friedrich dem Großen alsbald nach dem Erwerb von Westpreußen in der sogenannten ersten polnischen Teilung 1772 auf dem rechten Weichselufer unweit der Stadt Graudenz neu angelegt worden. Sie war die erste militärische Absicherung des Königreichs Preußen nach Osten.

 

Vor 1900 oder gegen 1900 war die Festung modernisiert worden, hatte jedoch noch  keine Außenwerke erhalten.

 

General Mudra schlug "den Ausbau des allgemein zu erweiternden und zu verstärkenden Graudenz zu einem doppelten Brückenkopf" vor,  d.h. die Befestigungsanlagen sollten auf das linke Weichselufer ausgedehnt werden. Mudra argumentierte wie folgt:

 

Zitat:

"Wird damit Graudenz zu einer geschlossenen Festung, so gelangen die Russen erst nach Durchführung eines schweren zeitraubenden Belagerungskampfes in den tatsächlichen Besitz der unteren Weichsel."

Zitat Ende

 

In einem späteren Schreiben an den Generalstabchef gibt Mudra den notwendigen Umfang der neu zu schaffenden Festung mit 76 km an, davon 26 km auf dem linken Weichselufer. Dazu bemerkt Mudra, er habe

 

Zitat

(den)  " e n g s t e n Umzug in Vorschlag gebracht, der bei den Aufgaben der Festung und in Rücksicht auf die moderne Artillerie-Wirkung überhaupt in Frage kommen kann."

Zitat Ende

 

Die Bedeutung dieses Vorschlages von Mudra kann schwerlich überschätzt werden. Jeder russische Vormarsch durch Ostpreußen wäre vor den Geschützen einer derart ausgebauten Festung zunächst einmal zum Stehen gekommen, wahrscheinlich über Monate hinweg.

 

Auch diesen Vorschlag wollte Mudra "baldigst in Angriff genommen" wissen.

 

In der Denkschrift übernimmt der Generalstabchef diesen Vorschlag. Der Kriegsminister akzeptiert jetzt diesen Vorschlag und dieser findet Eingang in das Heeresgesetz 1913.

 

Umgesetzt werden konnte diese Maßnahme vor Kriegsbeginn 1914 nicht mehr. Bei realistischer Betrachtung hätte sie 5 Jahre Zeit in Anspruch genommen.

 

10.4 Der Zweifrontenkrieg

 

Die Vorschläge General Mudras beinhalteten eine Konzeption, wie das Deutsche Reich einen Zweifrontenkrieg bestehen könne.

 

Der Ausbau und die Erweiterung der Festungen an Weichsel und Warthe sollten einen Vormarsch russischer Truppen nach Westen über die Festungen hinaus über mehrere Monate hinweg aufhalten. Erst wenn es den russischen Truppen gelungen wäre, zumindest eine der drei Festungen Graudenz, Thorn und Posen zu erobern, sollten sie weiter nach Westen vorstoßen können.

 

Zugleich sollte die Verteidigung im Osten lediglich durch einen Teil der Reserve-, Landwehr- und Ersatzformationen geführt werden. Dem General-stabchef sollte durch den Festungsausbau ermöglicht werden, das gesamte mobile Feldheer zu einer Offensive im Westen zu verwenden.

 

General Mudras Ansichten erwiesen sich im Juli 1914 als richtig. Wären die Ostfestungen seinen Vorstellungen entsprechend stark ausgebaut gewesen, hätte es ausgereicht, auf die russische Mobilmachung mit einer Teil-Mobilmachung der Ost-Festungen und der Truppen in Ost- und West-preußen zu antworten, zweckmäßigerweise mit einer Mobilmachung des Ersatzheeres und der  Aufstellung neuer Truppen im Osten. Eine Kriegserklärung war nicht erforderlich. Ein Ausgreifen auf russisches Gebiet nach erfolgter Mobilmachung war ohnehin nicht vorgesehen. Soweit das Feldheer zum Einsatz gegen Frankreich bestimmt war, mußte es in den Kasernen bleiben.

 

Die Pflicht, für einen rechtzeitigen Ausbau der Ostfestungen zu sorgen, lag beim preußischen Kriegsministerium. Dort hatte man Bedenken, einmal, weil der Ausbau von Graudenz eine zahlenmäßig stärkere Besatzung erfordere, was auf Kosten des Feldheeres ginge, zum anderen wegen der Kosten. Die Auffassungen und Bedenken wurden von General Mudra als unzutreffend zurückgewiesen.

 

 

11) Was der Denkschrift voranging

 

Die Reichsfinanzreform 1909 wollte aufgelaufene Fehlbeträge in den Staatshaushalten der letzten Jahre abbauen. Sie hatte eine höhere Besteu-erung des Massenverbrauchs und eine Ablehnung des Vorschlags des Reichskanzlers, die 1906 eingeführte Reichs-Erbschaftsteuer auf Ange-hörige auszudehnen (durch Aufhebung der Befreiungen), gebracht. Die Ausdehnung der Erbschaftsteuer war als Ergänzung zu der Erhöhung der Verbrauchs- und Stempelsteuern gedacht gewesen, als ein Zeichen, dass auch die vermögenden Bevölkerungskreise einen Anteil an den Staatslasten zu übernehmen hatten. Damit scheiterte der Reichskanzler (Ablehnung durch Konservative und Zentrumspartei mit polnischen Abgeordneten).

 

Eine zukunftstaugliche Besteuerungskonzeption hatte die Reichsfinanz-reform 1909 nicht entwickelt. Dazu wäre die Einführung von Ertrags- oder Vermögenssteuern für die wohlhabenden und/oder gut verdienenden Bevölkerungskreise

 

auf Reichsebene

 

erforderlich gewesen. So, wie die Reform durchgeführt wurde, heizte sie die vorhandenen sozialen Spannungen im Reich weiter an, löste aber die Aufgabe, dem Reich zu ausreichenden Steuereinnahmen zu verhelfen, nicht.

 

Vordringlichstes innenpolitisches Ziel der Reichsleitung wurde die Sanierung des Staatshaushaltes. Sie geschah zu Lasten des Heeres. Dessen Rüstungsausgaben hatten im Jahre 1908 einen Spitzenwert erreicht und sanken bereits 1909 deutlich ab. Die Jahre 1910 und 1911 brachten einen weiteren deutlichen Rückgang; die Ausgaben lagen in beiden Jahren nur geringfügig über dem Stand von 1907. Der Rückgang war vom Reichs-schatzamt erzwungen worden.

 

Das Heeresgesetz 1911 (Fünfjahresplan für den Zeitraum vom 1.4.1911 bis 31.3.1916) bedeutete, dass das Deutsche Reich im Begriffe war, militärischen Selbstmord zu begehen. Wer da meint, dies sei eine über- triebene Wortwahl, irrt.

 

Ein Ausbau der Heeres zur Schließung der vorhandenen Organisations-lücken war nicht vorgesehen. Ausnahmen (1 Infanteriebataillon, 2 Artillerie-regimenter, Vermehrung und Neugliederung der Friedens-Fußartillerie) bestätigten die Regel. Es blieb bei dem Dogma, das der Kriegsminister General v. Einem alsbald nach seinem Amtsantritt 1903 aufgestellt hatte:  Die Heeresorganisation ist, trotz einiger Lücken, als abgeschlossen/ unver-änderlich  anzusehen. Neue Verbände sind nicht erforderlich.

 

Es ist bezeichnend, dass der französische Generalstab im Jahre 1911 von der bisherigen Defensiv-Strategie zu einer Strategie der unbedingten Offensive überging. Von einer deutschen Überlegenheit könne nicht mehr die Rede sein - und das traf zu. Für die außenpolitische Lage des Reiches ist bezeichnend, dass alle Versuche, eine französische Inbesitznahme von Marokko zu verhindern, scheiterten. Die Schwäche des Deutschen Reiches war offenkundig.

 

Das Heeresgesetz 1912 brachte eine teilweise Schließung der Organi-sationslücken. Damit einher ging zugleich eine bedeutsame Verstärkung der Feuerkraft des Heeres (Aufstellung von 42 Batterien Feldartillerie, inkl. der beiden neuen Regimenter des Heeresgesetzes 1911 und, zum 1.10.1913, Aufstellung von 136 Maschinengewehrkompanien). Mit diesen Erhöhungen sei auf absehbare Zeit ein Abschluß in der Organisation als erreicht anzunehmen, so der Direktor des Allgemeinen Kriegsdepartments, General Wandel. Das Dogma des Generals v.  Einem wurde somit  für die Zukunft bekräftigt.

 

Finanziert wurde die Heeresreform 1912, soweit sie im Jahre 1912 durch-geführt wurde, im Wesentlichen aus Haushaltsüberschüssen der Vorjahre. Für das Jahr 1913 hatten Reichskanzler und Reichsschatzamt dem Heer äußerste Sparsamkeit verordnet. Dabei ist zu berücksichtigen, dass ein Teil der Heeresausgaben 1913 noch Folgen der Heeresvorlagen 1911 und 1912 betrafen, z.B. wurden die 136 neuen Maschinengewehrkompanien erst zum 1.10.1913 errichtet.

 

Die Anforderungen des Kriegsministers v. Heeringen an den Haushalt 1913 für neue militärische Maßnahmen wurden rigoros zusammengestrichen. Der Staatssekretär im Reichsschatzamt Kühn schrieb ihm unter dem Datum vom 28. September 1912:

 

"... Demgegenüber vermag ich nur nochmals betonen, dass ich ... ohne weitere sehr erhebliche Nachlässe an den Anforderungen für das Heer außerstande bin, den Etat zu balancieren.  Neue Maßnahmen, Perso-nalvermehrungen, die Verbesserung vorhandener Unterkunft usw. werden  gegenüber der zur Zeit wichtigsten und so überaus hohe Geldmittel in Anspruch nehmenden Maßnahme der Finanzierung der Heeresvorlagen zurücktreten müssen...."

 

Angesichts dieses Sachverhalts richtete der Kriegsminister v. Heeringen unter dem Datum vom 2. Dezmber 1912 ein Schreiben an den Reichs-kanzler, in welchem er zur gegenwärtigen Lage des Heeres Stellung nahm. Er wies auf die Kürzungen bei der Verstärkung der östlichen Festungen und der Luftwaffe hin,  die der Reichskanzler vorgenommen hatte, und unter-breitete diesem in einer Anlage einen

 

"Ausblick über die finanziellen Forderungen für das Heer ..., wie sie für die nächsten Jahre meines Erachtens in zwingender Weise auftreten".

 

v. Heeringen betonte auch die Notwendigkeit einer Erhöhung der Etat-stärken bei den Grenzkorps und sprach von einer Heeresvorlage zum 1.10. 1913, die "unter 200 bis 300 Millionen nicht zu haben sein wird".

 

Es war ausgeschlossen, die Rüstungsausgaben, deren Notwendigkeit v.  Heeringen darlegte, ohne neue Steuern zu finanzieren. Eine noch höhere Belastung der Masse der Bevölkerung mit Verbrauchsteuern war aber ausgeschlossen. Sie hätte zu einer Revolution führen können. Als neue Steuern kamen nur solche in Betracht, welche die einkommenstarkenden und vermögenden Bevölkerungskreise trafen - und diese waren ein abso-lutes politisches Tabu-Thema. Die Lage erschien aussichtslos verfahren.

 

In dieser ungeklärten Lage erhielt der Reichskanzler die Denkschrift des Generalstabchefs vom 21. Dezember 1912. Darin werden erstmalig exakte Zahlen zu den militärischen Kräfteverhältnissen in Europa genannt. Aus ihnen ergab sich die Wahrscheinlichkeit einer Niederlage im Kriegsfall. Die Notwendigkeit einer sofortigen großzügigen Heeresreform wurde heraus-gearbeitet.

 

12) Kommentar und Kritik

 

Über die Heeresvorlage 1913 des Kriegsministers bestand in weiten Bereichen Einvernehmen zwischen ihm und dem Generalstabchef. In einzelnen Punkten bestanden Meinungsverschiedenheiten über das Ausmaß der Heeresverstärkung. Sie waren durch Kompromisse beizulegen. Einzig in der Frage der geforderten 3 neuen Armeekorps kam es zu einem Grund-satzstreit. Warum dies so war, wird im folgenden versucht herauszufinden.

 

12.1

Die Formulierung der Denkschrift

 

"... müssen mindestens drei neue Armeekorps aufgestellt werden, wobei ein Teil der schon jetzt vorhandenen fünften Brigaden verwen-det werden kann...."

 

ist in   p o l i t i s c h e r    Hinsicht unglücklich gewählt. Sie blendet aus, dass es um die Lückenschließung in der Heeresorganisation durch Auf-stellung neuer Divisionen ging, also um die Beseitigung eines militärischen Mangels. Ein Hinweis auf diesen Sachverhalt hätte die Durchsetzung der Forderung und die Findung von Kompromissen erleichtern können. Es ist durchaus zweifelhaft, ob Kaiser und Reichskanzler den Sachverhalt der Lückenschließung in ihrem Bewußtsein gegenwärtig hatten.

 

Man halte die Formulierung, mit der General a.D. Friedrich v. Bernhardi denselben Sachverhalt beschreibt, dagegen:

 

"Auch die Gesamtorganisation kann

(nach der Heeresreform 1913, der Aufsatzverfasser)

nicht als abgeschlossen bezeichnet werden, da die höheren Verbände für zahlreichende überschießende Truppenteile fehlen. Neuaufstel-lungen von solchen werden sich in Zukunft nicht vermeiden lassen, da eine allzu große Erhöhung des Friedensetats ... eine zweischneidige Maßnahme ist..."

 

Bei beiden Formulierungen geht es um denselben Sachverhalt und dieselbe Zielsetzung und dennoch lesen sie sich eine jede ganz anders. Eine Ergänzung der Heeresorganisation durch die fehlenden höheren Verbände war etwas anderes als die Vornahme von Neuaufstellungen, auch wenn das im Ergebnis auf dasselbe hinauslief.

 

Man sollte beachten, dass v. Bernhardi einer übermäßigen Erhöhung des Präsenzstandes der Einheiten skeptisch gegenüber steht.

 

 

12.2

Die  Zusammenfassung bestehender Brigaden zu neuen Divisionen hätte bereits kurzfristig zu einer Heeresverstärkung geführt. Zu denken war vor allem an die Bildung einer neuen Division

  • in Posen und Schlesien, also in den Bereichen des V. und des VI. Armeekorps. Beide verfügten über jeweils eine überzählige Brigade.
  • im Bereich des X. Armeekorps aus den überzähligen fünften Brigaden in den Bezirken des VII. und des IX. Armeekorps. Auch diese beiden verfügten über jeweils eine überzählige Brigade.

Es sollte möglich gewesen sein, aus den genannten überzähligen Brigaden kurzfristig jeweils eine neue Division zu bilden.

 

Eine Konzeption zur Lückenschließung im Generalstab hätte hilfreich sein können. Eine solche war aber offensichtlich nicht erarbeitet worden.

 

Natürlich war der Generalstab für die Erarbeitung von Konzepten für die Heeresvermehrung rechtlich nicht zuständig. Das galt aber auch für viele andere Bereiche, und dennoch legte der Generalstab eigene Vorschläge und Konzepte vor. Sie lieferten eine Grundlage für die Diskussion mit dem Kriegsminister und erleichterten die Durchsetzung eigener Forderungen. Man denke nur an die Vorschläge zur Bildung von Reserverkorps oder zur Bildung mobiler Formationen des Ersatzheeres (Schreiben des Generalstab-chefs an das Kriegsministerium vom 11. März 1909 bzw. vom 1. Juli 1910). In beiden Fällen hatte der Generalstabchef einen wesentlichen Teil seiner Forderungen durchsetzen können.

 

 

12.3

Warum kam es im Generalstab zu keiner eigenen Konzeption für die Neuaufstellung von Divisionen? Dem Generalstab mußte doch weit mehr als jeder anderen Institution an der Neuaufstellung von Divisionen gelegen sein, da schließlich Sieg oder Niederlage davon abhingen.

 

Der Aufsatzverfasser hat darauf keine Antwort finden können.

 

Eine denkbare Erklärung ist, dass der Generalstabchef solche Forderungen unter den gegebenen politischen Verhältnissen von vornherein nicht für realisierbar hielt und sie daher erst gar nicht stellte. 

 

Aber im Jahr 1912 hatten sich diese Verhältnisse geändert, und doch trat der Generalstab nicht mit der Forderung nach neuen Divisionen hervor. Der Kriegsminister stellt nachträglich in seinem Schreiben an den General-stabchef vom 9.12.1912 fest:

 

"Die Vertreter des Großen Generalstabs legten weder auf die Errrich-tung der beiden neuen Armeekorps, noch auf die baldige Ausstattung aller Infanterie-Regimenter mit Maschinengewehr-Kompanien beson-deren Wert..."

 

Sollte das Hindernis, neue Divisionen zu fordern, in der Person des Ober-quartiermeisters I, Hermann Stein, bestanden haben, so lag dieses ab September 1912 nicht mehr vor, da Stein das Kommando über die neu errichtete 41. Division erhielt und daher aus dem Generalstab ausschied.

 

Der Leiter der 2. Deutschen Abteilung, Oberst Ludendorff, erhielt dadurch freien Zugang zum Generalstabchef und konnte diesem seine Vorschläge unmittelbar vortragen. Innerhalb von weniger als 4 Monaten entstanden mehrere grundlegende Stellungnahmen des Generalstabchefs gegenüber dem Kriegsministerium, namentlich

 

Schreiben vom 26.9.1912 zu den Fliegertruppen

 

Schreiben vom 14.10.1912 zur Notwendigkeit einer Heeresverstärkung

 

Schreiben vom 1.11.1912 zur Munitionsausrüstung des Heeres

 

Schreiben vom 25.11.1912 Antrag zur Erhöhung der Etats bis zur vollen Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht

 

Mit diesen Schreiben und mit der Denkschrift übernahm der Generalstab für die Dauer von vier Monaten die geistige Führung des Heeres.

 

Ein Antrag auf Schließung der Organisationslücken durch Bildung neuer Divisionen ist jedoch nicht zu finden. Die Möglichkeit, kurzfristig zu einer Erhöhung der Heeresstärke um 2-3 Divisionen zu gelangen, wurde nicht erkannt. Auch nach dem Weltkrieg, in seiner Autobiographie "Mein militärischer Werdegang", geht Ludendorff auf das Thema einer Lücken-schließung der Heeresorganisation nicht ein.

 

Vielleicht trifft man das Richtige, wenn man annimmt, dass sich Ludendorff  als Abteilungsleiter seine Erkenntnisse über die militärischen Notwendig-keiten einer Heeresreform erst Schritt für Schritt erarbeiten mußte. Von ihm eine Systematik bei seiner Vorgehensweise zu verlangen, wäre zu viel gefordert. In der geschichtlichen Rückschau liegen die Prioritäten klar auf der Hand, für Ludendorff als den damals Handelnden war dies nicht der Fall. Und Ludendorff war sich offenbar der Schwierigkeiten - oder soll man sagen: der Widerstände? -nicht bewußt, denen seine Forderung nach neuen Armeekorps begegnen würde.

 

12.4

 

Bereits vor der Denkschrift des Generalstabchefs vom 21.12.1912 hatten er und der Kriegsminister v. Heeringen sich auf die Notwendigkeit von Etaterhöhungen bei den Grenzkorps festgelegt:

 

- der Generalstab mit seinem Schreiben vom 25.11.1912 gegenüber dem Kriegsminister auf die tatsächliche oder volle Durchführung der allge-meinen Wehrpflicht als vorrangiges Ziel

 

und unabhängig davon

 

- der Kriegsminister mit seinem Schreiben vom 2.12.1912  gegenüber dem Reichskanzler auf die "Notwendigkeit einer möglichst baldigen und wesent-lichen Erhöhung der Etatstärken bei allen Grenzkorps".

 

In der Beurteilung der Lage bei den Grenzkorps bestand ebenso Über-einstimmung wie bei den Folgerungen, die daraus gezogen werden sollten.

 

Die Forderung der Denkschrift nach 3 neuen Armeekorps erscheint als neu, da bisher nicht gestellt, und als eine zusätzliche Forderung zur bisherigen Forderung nach einer tatsächlichen Durchführung der allgemeinen Wehr-pflicht.

 

Auf die Formulierung im Schreiben des Generalstabchefs vom 22.1.1913

 

(Die Vermehrung) "ist von ausschlaggebender Bedeutung für den sieg-reichen Ausgang des nächsten Krieges"

 

reagierte der Kriegsminister mit der Randbemerkung

 

"Dann hätte d. Generalstab rechtzeitig damit kommen sollen".

 

Es ist also nicht ausgeschlossen, dass bei einer früheren Forderung des Generalstabs nach neuen Armeekorps diese zumindest teilweise hätte erfolgreich sein können. Dies gilt natürlich erst recht, wenn der Generalstab eine eigene Konzeption für eine solche Maßnahme vorgelegt hätte.

 

Im Ergebnis läuft die Bemerkung v. Heeringens aber darauf hinaus, dass der Generalstab die Funktion des Kriegsministers hätte übernehmen sollen - was er mit den Forderungen, die er vom September bis Dezember 1912 stellte, auch tatsächlich tat. Es war eine Fehlentwicklung, die durch ein Versagen des Kriegsministeriums verursacht wurde. Dieses darf man nicht aus seiner Verantwortung entlassen. Der Kriegsminister hatte in eigener Zuständigkeit und Verantwortlichkeit darüber zu entscheiden, welche Heeresstärke er für erforderlich hielt und wie einem Zweifrontenkrieg begegnet werden sollte. Dieser Verantwortung sind die preußischen Kriegsminister vor 1914 nicht gerecht geworden.

 

 

12.5

 

Ludendorff unternahm den zweiten Schritt vor dem ersten.

 

Der erste Schritt hätte die geforderte Heeresvermehrung sein müssen, also insbesondere die Bildung neuer Divisionen und Armeekorps zur Schließung der vorhandenen Organisationslücken sowie ggf. darüber hinaus die Aufstellung eines weiteren Armeekorps. Hier ging es darum, den Erfolg des Operationsplanes des Generalstabchefs im Kriegsfalle sicherzustellen, also um Sieg oder Niederlage.

 

Eine solche Heeresvermehrung hätte, abhängig von den Entscheidungen des Kriegsministers, eine Anhebung der Friedenspräsenzstärke des Heeres in einer Größenordnung von 7-8 % erforderlich gemacht. Die Anzahl der zum Wehrdienst einzuberufenden Wehrpflichtigen hätte sich entsprechend gesteigert.

 

Erst nach Durchführung der Heeresvermehrung ließ sich in einem zweiten Schritt feststellen, welche Zahl an Wehrpflichtigen verblieb, die man noch zum Wehrdienst heranziehen konnte, und in welchem Umfang noch eine Anhebung der Präsenzstärken der Bataillone und der anderen Einheiten über den bisherigen hohen Etat hinaus möglich war. Ludendorff selbst formuliert:

 

"Die Zahl der vorhandenen Tauglichen spielt hierbei eine ausschlaggebende Rolle."

 

Die vorzeitige Zielsetzung einer vollständigen Durchführung der allge-meinen Wehrpflicht gefährdete die weitere Heeresvermehrung, da man nicht wissen konnte, ob danach noch ausreichend Wehrpflichtige für diese zur Verfügung stehen würden.

 

Welchen Sinn die vollständige Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht ohne Ausbau und Erweiterung des organisatorischen Gerüstes des Heeres haben sollte, ist nicht einzusehen.

           

 

12.6

 

Ludendorffs Forderung nach tatsächlicher Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht war ebensosehr politisch wie militärisch veranlaßt.

 

Das ist einmal die Wehrgerechtigkeit. Es wollte nicht einleuchten, dass per Los entschieden wurde, wer Wehrdienst zu leisten hatte. Eine gleichmäßige Heranziehung aller Tauglichen erschien als ein Gebot der Gerechtigkeit. Dazu gehört auch, dass Ludendorff die Institution der Einjährig Freiwilligen ein Dorn im Auge war. Mochte diese Institution auch wirtschaftlich sinnvoll sein - die Ausbildung im Gymnasium und mit Studium war die teuerste Form der Berufsausbildung und diese Männer sollten nicht für 2 Jahre der Volkswirtschaft entzogen werden -, gerecht war sie nicht.

 

Zum anderen sollte die soziale Spaltung der Gesellschaft im Militär überwunden werden. Die Nation sollte sich im Heer zusammenfinden. Die Verteidigung des Reiches war eine Gemeinschaftsaufgabe aller.

 

Gegen diese politischen Zielsetzungen stand die preußische Erfahrung, dass nur vollwertig ausgebildete und ausgerüstete Truppen dazu taugten, militärische Erfolge zu erzielen. Soldaten ohne Kanonen waren wertlos, wie umgekehrt Kanonen ohne Soldaten wertlos waren. Das Heer brauchte beides, Soldaten und Kanonen.

 

 

12.7

 

Die Behauptung des Kriegsministers v. Heeringen, eine Neuaufstellung von 3 Armeekorps sei wegen der fehlenden Offiziere (und Unteroffiziere) nicht möglich, ist in dieser Allgemeinheit unrichtig. Für die Neuaufstellung von 2 Divsionen brauchte es keine zusätzlichen Offiziere bei der Infanterie, da ja die Verbände vorhanden waren. 

 

Militärisch unrichtig ist die Behauptung weiterhin deshalb, weil die Vorbereitungsmaßnahmen eingeleitet werden konnten, ohne dass man sofort alle Regimenter neu aufstellte. Das hätte im Bedarfsfall eine schnelle Reaktion ermöglicht. Es war dann möglich, für den Kriegsfall Notlösungen zu finden.

 

Der wahre Grund für die ablehnende Haltung v. Heeringens liegt darin, dass er die Notwendigkeit von Neuaufstellungen nicht einsieht. Er war der unerschütterlichen Meinung, das Deutsche Heer sei allen Anforderungen gewachsen. In einer Bemerkung des Kriegsministers am Kopf des Schrei-bens vom 25.11.1912 (siehe vorstehend) heißt es:

 

"Betr. der augenblicklichen milit. Lage sei er

(der Generalstabchef)

mit mir der Meinung, dass das deutsche Heer mit vollster Zuversicht allen Ereignissen der Zukunft entgegensehen kann ..."

 

Unter General v. Einem war die Zahl der Kriegskorps auf 25 begrenzt worden, zuzüglich Garde-Reserve-Korps.  Über diese Begrenzung ist das Kriegsministerium und sind die späteren Kriegsminister nicht mehr hinweg-gekommen. Das Hindernis lag in den Köpfen und führte dazu, dass nicht alles unternommen wurde, was machbar und möglich gewesen wäre.

 

Es bleibt nur, festzuhalten, dass auch der Generalstabchef v. Moltke  in seinen ersten  7 Amtsjahren keinen ernsthaften Versuch unternahm, eine Neuaufstellung von Divisionen zu erreichen. Weder er noch die Kriegs-minister begriffen die wirkliche militärische Lage des Reiches, und auch die dramatische Verschlechterung der Lage der Mittelmächte durch die Balkankriege wurde nicht erkannt - jedenfalls wurden keine Folgerungen daraus gezogen. Die Beurteilung seines Abteilungsleiters Ludendorff mit den von diesem daraus gezogenen Folgerungen ließ sich Moltke gefallen, teilte sie aber nicht wirklich.

 

13. Schlussbemerkung

 

Das Rüstungsprogramm des Teil II der Denkschrift beruhte auf einer fast fünfjährigen Tätigkeit des Obersten Ludendorff als Leiter der 2. Deutschen Abteilung des Generalstabs, soweit es bei dieser um die Heeres-angelegenheiten ging. Sie fand ihren Niederschlag in zahlreichen Stellung-nahmen des Generalstabchefs an das preußische Kriegsministerium, welche den gesamten Bereich der Heeresorganisation abdeckten. Was Ludendorff tat, war eine Generalinspektion des Deutschen Heeres.

 

Die darin liegende geistige Leistung wird nur selten gewürdigt. Wer dies vor allen anderen tat, war der Generalstabchef v. Moltke. Er tat dies, indem er dem Kriegsminister Ludendorff als Leiter des Allgemeinen Kriegs-departments (das die II. Abteilung im Kriegsministerium war) vorschlug. "Er (Ludendorff) ist mit allen Fragen der Organisation des Heeres, der Mobilmachung und des Aufmarsches auf das Genaueste vertraut. Er ist ein Mann mit weitem Blick, von festem Charakter, von schneller Auffassung und von eisernem Fleiß..."

 

Es spricht weder für den Kriegsminister, noch für den Chef des Militär-kabinetts, Moriz v. Lyncker, noch für Kaiser Wilhelm II., dass der Vorschlag Moltkes unbeachtet blieb. Ludendorff besaß eine ausgesprochene Begabung auf dem Gebiet der Heeresorganisation und überblickte den gesamten Heeresorganismus. Eine solche Begabung ist selten. Ludendorff nutzte die Erkenntnismöglichkeiten, die ihm seine Stellung als Abteilungsleiter bot, in vollem Umfang aus - und suchte sie noch  zu erweitern.

                                                                                                                    

Was Ludendorff zu seiner Leistung vor allem befähigte, waren seine Fähigkeit, Anregungen anderer aufzunehmen, die er bewußt einsetzte, und diese Anregungen mit seinen eigenen Gedanken zu verarbeiten. Ludendorff selbst hebt namentlich die Mitwirkung der Generalinspektionen der Fuß-artillerie, der Pioniere und der Festungen, sowie der Verkehrstruppen und der Artillerieprüfungskommission an seiner Arbeit hervor. Eine weitere Fähigkeit, nämlich Aufgaben zu delegieren, hatte er sich als General-stabsoffizier der 9. Division in Glogau von deren Kommandeur, General v. Eichhorn, abgeschaut und übernommen. Ohne die letztere Fähigkeit wäre seine unvorstellbare Arbeitsleistung nicht möglich gewesen.

 

Die negative Beurteilung der militärischen Lage des Reiches, soweit es um die Erfolgsaussichten Im Westen ging,  durch Ludendorff erwies sich im nachhinein als berechtigt. Seine Kritikpunkte an der Heeresausrüstung waren sachlich fundiert und wurden auch im Kriegsministerium nicht in Zweifel gezogen. Er stand mit diesen Kritikpunkten nicht allein. Wenn Ludendorff die Munitionsausstattung des Heeres als unzureichend kritisierte, so hatte er die Artillerieprüfungskommisssion auf seiner Seite und sein Vorgesetzter, der Oberquartiermeister I Stein, trug diese Kritik (bis zu seinem Ausscheiden aus dem Generalstab im September 1912) mit, wenn er sie nicht sogar selbst mitformulierte. Stein war Artillerieoffizier und durfte mithin als Fachmann auf diesem Gebiet gelten.

 

Besondere Beachtung gebührt der Sprache des Rüstungsprogramms:

 

(Etatverstärkungen) müssen ... eintreten

(Heeresvermehrung) ... müssen ... aufgestellt werden

... Es muß aber ganze Arbeit geleistet werden... darum sind zu fordern...

(Verbesserung der Formationen 2. Linie)

... ist durchaus geboten... müssen ... müssen ...

(Landesverteidigung)

... müssen ... müssen ...

 

So darf nur jemand schreiben, der sich seiner Sachargumente absolut sicher ist.

 

Bedauerlich ist, dass Ludendorff kein Konzept für die Lückenschließung des Heeres erarbeitete und mit seiner Antragstellung nach voller Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht dieser den Vorrang einräumte.

 

Den preußischen Kriegsminister entlastet dies nicht. Er trug die rechtliche Verantwortung für die ausreichende Bemessung und Ausgestaltung des preußischen Heereskontingentes und für entsprechende Vorschläge an den Reichskanzler. Es war nicht die Aufgabe des Generalstabchefs, dem Kriegs-minister zu  sagen, was er zu tun hatte.  Nachdenklich muss es stimmen, dass Ludendorff beim Ausbau der Festungen und der Heeresausrüstung das Hindernis auf Seiten des Kriegsministers sah. Der Reichstag sei in diesen Beziehungen entgegenkommender als der Minister gewesen.

 

 

Quellen:

 

Reichsarchiv

Der Weltkrieg 1914-1918

"Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft"

I. Anlagenband

Erster Teil Dokumente

A. Die militärische Rüstung des Reiches

Anlage zu Nr. 54

"Programm der Ausgestaltung unserer Rüstungen"

und andere Dokumente,

insbesondere Nr. 40, 48, 51, 52, 56, 57, 64

Zweiter Teil Anhang zur militärischen Rüstung des Reiches

III. Von der Jahrhundertwende bis 1911

IV. von 1912 bis 1914

 

General Ludendorff, Erich

Mein militärischer Werdegang

Ludendorffs Verlag 1933

In der Aufmarsch- - 2. Deutschen - Abteilung und Lehrer an der Kriegsakademie

Anlage 5

 

Ferguson, Niall Der falsche Krieg dtv 2001

5 Öffentliche Finanzen und nationale Sicherheit (am Ende)

 

Bernhardi, Friedrich v. Das Heerwesen

in:Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band 1914 S. 361-382

zitiert aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Stichwort "Militär"

 

Urkunden der Obersten Heeresleitung

herausgegeben von Erich Ludendorff 1920

I. Friedensarbeit für die Verstärkung der deutschen Wehrkraft

insbesondere Nr. 1, 3, 7, 8 und 9

 

 

 

 

 

 

 

Druckversion | Sitemap
© Eckhard Karlitzky