Deutsches Heer - Zweites Deutsches Kaiserreich Eckhard Karlitzky Aufsätze und Aufsatz-Fragmente
Deutsches Heer - Zweites Deutsches KaiserreichEckhard KarlitzkyAufsätze und Aufsatz-Fragmente

Friedensorganisation - Der Weg zur Niederlage von 1914 - in Bearbeitung

Einleitung

 

Militärische Erfolge im Kriege haben im allgemeinen eine Militärpolitik im Frieden zur Voraussetzung, welche ein geeignetes Heer oder eine geeignete Marine als Instrument der Kriegführung  bereit stellt. Der deutsche Sieg über Frankreich 1870 ist undenkbar ohne den zielstrebigen Ausbau des preußischen Heeres in den vorangegangenen Jahren, der zudem auch auf die verbündeten Deutschen Staaten erstreckt wurde.

 

Im umgekehrten Sinne ist die Ursache für die deutsche Niederlage von 1914 in einer verfehlten preußisch-deutschen Militärpolitik vor dem Kriege zu suchen. Dass mit dieser etwas nicht stimmen kann, ergibt sich schon aus einem Vergleich der Bevölkerungszahlen vor 1914:

 

Frankreich 38 oder 40 Millionen

Deutsches Reich 65 Millionen oder mehr

 

Bei einer gleichmäßigen Rüstung beider Staaten hätte das Deutsche Heer um 60 % stärker sein  müssen als das französische. Tatsächlich waren beide Heere ungefähr gleich stark. Da das Deutsche Reich einen Teil seiner Truppen im Osten gegen das mit Frankreich verbündete Rußland einsetzen mußte, ergab sich im Westen eine deutliche zahlenmäßige Unterlegenheit gegenüber dem französichen Heer, das überdies durch das britische Expeditionskorps verstärkt wurde. Die Anlage zu Aufsatz 5 gibt die Sichtweise des deutschen Generalstabchefs wieder, was die Kräfteverhält-nisse in einem Zweifrontenkrieg angeht.

 

Der Inhalt und die Ursachen der verfehlten deutschen Militärpolitik sind der Gegenstand des nachfolgenden Aufsatzes.

 

Zu untersuchen ist weiterhin die verfehlte Finanz- und Steuerpolitik, welche das Deutsche Reich vor dem 1. Weltkrieg betrieb. Sie führte zu einer hohen Verschuldung und zwang zu einer Kreditaufnahme im Ausland. Sie wurde dort zutreffend als Schwäche des Reiches bewertet. Grundlegendes zur Finanzverfassung des Reiches ist in Aufsatz 8 enthalten.

 

Verfehlte Militärpolitik - Überblick

 

Zu unterscheiden sind

 

  • die Fehler im militärischen Bereich selbst.

An erster Stelle zu nennen ist die unvollendet abgebrochene oder steckengebliebene Neuorganisation des Heeres, die unter dem Reichs-kanzler General v. Caprivi im Jahr 1893 beschlossen wurde. Sie wurde in den Zeiträumen vom 1.4.1894 bis 31.3.1899 und vom 1.4.1899 bis 31.3.1904 umgesetzt, jedoch nicht zu Ende geführt.

 

Das organisatorische Gerüst des Heeres war zu schwach dimen-sioniert. Die Leistungsfähigkeit des Heeres im Kriegsfall hing wesentlich davon ab, was an Organisationsstrukturen vorhanden war. Im Krieg ließen sich solche nur mit Zeitverlust herstellen und sie waren den im Frieden eingerichteten nicht gleichwertig.

 

Der Generalstabchef v. Schlieffen formulierte unter dem Datum vom 30.10.1899 seine Kritik an dem Steckenbleiben:

"Eine Neuorganisation der Armee ist begonnen, nicht durchgeführt worden...."

 

Die Neuorganisation war bei Kriegsbeginn 1914 immer noch nicht abgeschlossen. Sie hätte zu einer Erhöhung der Friedens- und Kriegsstärke des Heeres um 1-2 Armeekorps geführt bei nur mäßiger Erhöhung der Friedenspräsenzstärke und vertretbaren Kosten. Die Erfolgsaussichten in einem künftigen Krieg hätten sich verbessert. Sachliche Gründe, warum die Neuorganisation nicht weitergeführt wurde, sind nicht erkennbar.

 

Lücken in der Heeresorganisation bestanden sowohl bei der Infanterie als auch bei der Artillerie und bei der Kavallerie sowie bei den Pionieren, den Verkehrstruppen und dem Train.

 

Die Aufstellung der fehlenden 3. Bataillone bei den "kleinen" Regi- mentern wurde jahrelang verschleppt. Die Infanteriebataillone waren die Grundlage des Heeres im Kampf, und um diese Grundlage ging es bei den fehlenden Bataillonen. Der preußische Kriegsminister vernach-lässigte die Grundlage des Heeres.

 

Zu den Fehlern gehört weiterhin die jahrelang verschleppte Moder-nisierung der Festung Posen und die Erweiterung durch Schaffung neuer Außenwerke. Bei der Festung Graudenz, die keine Außenwerke besaß, waren diese neu zu schaffen. Die Ostgrenze des Reiches war nicht fortlaufend in dem erforderlichen Ausmaß gesichert worden.

 

Keine der vorstehend aufgeführten Positionen hat etwas damit zu tun, dass die allgemeine Wehrpflicht tatsächlich hätte durchgeführt werden sollen, d.h. dass alle tauglichen Wehrpflichtigen wirklich zum Militär hätten einberufen werden sollen.

 

In ihrer Summe hätten diese Maßnahmen allerdings zu einer ansehn-lichen Erhöhung der Anzahl der jährlich zum Wehrdienst einzu-berufenden Rekruten geführt. Das gilt verstärkt dann, wenn nicht nur 1-2 Armeekorps, sondern sogar die vom Generalstab geforderten 3 Armeekorps neu aufgestellt worden wären. Ob es dann in der Öffentlichkeit überhaupt zu einer Diskussion um die tatsächliche Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht gekommen wäre, wie es 1912-1914  der Fall war, ist fraglich. Eine sachliche Notwendigkeit für die tatsächliche Durchführung hätte sich wahrscheinlich nicht ergeben.

Allerdings darf man die Absenkung der Friedens-Präsenzstärken der Einheiten und die damit bewirkte Verschlechterung des Heeres durch das Heeresgesetz 1911 nicht außer acht lassen.

 

 

  • der Rückstand des deutschen Heeres im Bereich der Wehrtechnik. Zun unterscheiden sind hier Erkenntnisrückstand und verzögerte Einfüh-rung der Technik trotz vorhandener Erkenntnis. Den aktuellen militärischen und technischen Entwicklungen wurde nicht zeitgerecht und nicht in dem erforderlichen Maße Rechnung  getragen. Die Wehr-technik entwickelte sich in den Vorkriegsjahren sprunghaft weiter.

Die Entwicklung von Rohrrücklaufgeschützen war von der Fa. Krupp - oder von Herrn Krupp persönlich? - jahrelang blockiert worden und erfolgte schließlich bei der Rheinischen Metallwarenfabrik. Von den maßgebenden militärischen Instanzen wurde die Notwendigkeit der Neuentwicklung (das französische Heer hatte diese revolutionäre Entwicklung bereits 1897 eingeführt) zunächst nicht erkannt. Wäre es im Jahre 1905 zu einem Krieg mit Frankreich gekommen, so hätte die französische Feldartillerie das deutsche Heer zusammengeschossen. Der deutsche Generalstabchef v. Schlieffen war sich der französischen Überlegenheit bei der Feldartillerie bewußt. Die Einführung der neuen Geschütze bei der deutschen Feldartillerie erfolgte erst ab 1905.

 

Bei der Feuerleitung der Artillerie war die französische Feldartillerie der deutschen weit überlegen. Sie besaß dafür einen strukturellen Vorteil, indem sie ihre Batterien lediglich zu 4 Geschützen anstatt zu 6 Geschützen wie die deutsche Feldartillerie formierte. Für das deutsche Heer galt eine solche Maßnahme als undurchführbar - aber: "Die schwerere Leitung gebe ich zu", formulierte der Oberst Stein im Generalstab 1907. Er tröstete sich damit, dass alsbald nach Kriegsbeginn Materialverluste eintreten und die Anzahl der Geschütze vermindern würden.

 

Die französische Feldartillerie berücksichtigte bereits bei Kriegsbeginn die Witterungsbedingungen, die deutsche nicht.

 

Die Rohrrücklaufgeschütze ermöglichten ein Feuern aus verdeckten Stellungen ohne Blickkontakt zum Ziel (indirektes Feuer). Der Tendenz zur indirekten Leitung des Artilleriefeuers unter Einsatz von Flugzeugen zur Feuerleitung wurde auf deutscher Seite nur in völlig unzu-reichender Weise Rechnung getragen. Dazu wären umfangreiche und daher kostspielige Versuche notwendig gewesen. Die erforderlichen Geldmittel standen aber nicht zur Verfügung.  Wer  wissen will, wie dramatisch die Lage war, dem sei die Lektüre des Schriftstücks Nr. 19 (Schreiben des Generalstabchefs an das Kriegsministerium vom 3.12. 1912) in: Ludendorff, Urkunden der Obersten Heeresleitung empfohlen.

 

Weiterhin wird auf die Darstellung in

Aufsatz 7 - Technik und Heer - Die Verkehrstruppen

hingewiesen. Dort wird der Beitrag, den die unzureichende Entwick-lung der Verkehrstruppen zur deutschen Niederlage leistete, aus-führlich beschrieben. Lediglich ein Beispiel soll hier genannt  werden:

Bereits im Jahre 1912 tauchte die Forderung auf, die Flieger-formationen organisatorisch zu verselbständigen. Es dauerte aber vier volle Jahre, bis die Flieger einen eigenen Kommandierenden General erhielten, der alle Zuständigkeiten des Fliegerwesens in seiner Person bündelte.

 

Militärische Qualität war im technischen Zeitalter nicht ohne hohe Kosten zu erlangen.

 

 

  • die Fehlsteuerung von personellen und finanziellen Mitteln sowie von Rüstungskapazitäten und Rohstoffen durch den Aufbau einer Schlachtflotte seit 1898, die zur Verteidigung der deutschen Küsten nicht erforderlich war (und auch nicht zur Sicherung des deutschen Außenhandels). Die Flottengesetze von 1898 und  1900 sowie die Novelle von 1906 stehen in augenfälligem Gegensatz zu der unzureichenden Weiterentwicklung des Heeres ab 1905 (oder schon ab 1899?).

Die für die Flotte eingesetzten Mittel und Kapazitäten gingen dem Heere verloren. Die materielle Ausstattung des Heeres wurde den aktuellen Bedürfnissen nicht mehr angepaßt und blieb im Laufe der Jahre immer weiter zurück. Es kam zu einem Investitionsstau in Höhe von mehreren hundert Millionen Mark.  Auf Einzelheiten kann im Rahmen dieses Aufsatzes nicht eingegangen werden. Lediglich der schwerwiegendste Mangel soll als Beispiel für eine unzureichende Ausstattung genannt werden:

 

Die Munitionsversorgung war die Achillesferse des Heeres. Im deutschen Heer hatte das preußische Kriegsministerium von 1905 bis 1908 die Artillerie auf eine neue Generation von Geschützen umgerüstet, die Rohrrücklaufgeschütze. Frankreich war dem bereits 1897 vorangegegangen. Die neuen Geschütze erlaubten eine um ein Mehrfaches höhere Feuergeschwindigkeit als die bisherigen Geschütze. Dementsprechend war ein höherer Munitionsverbrauch zu erwarten als in früheren Kriegen.

 

In Deutschland standen - aus Vorkriegssicht!- für den Kriegsfall nur völlig unzureichende Produktionskapazitäten zur Verfügung, die den zu erwartenden Munitionsverbrauch keinesfalls decken konnten:

 

"Die Mobilmachungslieferungen setzen bei der Feldkanone mit der 7.  bis 8. Woche, und zwar in Preußen mit 120.000 Schuß, d.h. etwa 40 Schuß pro Geschütz der Feld- und Reserve-Feldartillerie, ein. Es folgen alle weitere 4 Wochen je 40 bis 50 Schuß pro Geschütz.

Für die schwere Feldhaubitze werden bis zur 8. Woche 35.000 Schuß, dann alle 4 Wochen 26.000 bis 28.000 Schuß geliefert..."

(Schreiben des Generalstabchefs an das Kriegsministerium vom 01.11.1912, Anlage zu Aufsatz 2)

 

Diese Zahlen lassen erkennen, dass eine Erhöhung der Mobil-machungslieferungen, d.h. eine Erweiterung der Rüstungskapazitäten nicht stattfand bzw. nicht stattgefunden hatte. Das Kriegsminsterium sah im Gegenteil diese  Lieferungen anscheinend  für nicht steige-rungsfähig an. Man brauchte daher eine umfangreiche Munitions-bevorratung. Diese war aber ebenfalls unzureichend - wiederum aus Vorkriegssicht -. In dem genannten Schreiben des Generalstabchefs heißt es dazu:

 

"...So, wie die Lage zur Zeit ist, werden unsere Munitionsbestände .... am 30. bis 40. Mobilmachungstage, vielleicht im günstigsten Fall etwas später, aufgebraucht sein. An einzelnen Stellen wird früher Munitionsmangel eintreten, an anderer Stelle Munition noch vorhanden sein, ohne dass ein Ausgleich möglich ist.

 

Die beabsichtigten Maßnahmen - Beschaffung von Feldartillerie-Munition bis zu 1200 Schuß pro Geschütz und eines zweiten Munitionszuges für die schweren Feldhaubitz-Bataillone - werden naturgemäß die Lage verbessern...

 

Wenn ... der zweite Bedarf für die schwere Feldhaubitze, den ich bereits unter dem 29.01.1909 beantragt habe, erst bis zum Jahre 1917 beschafft werden soll, so ist das ein Hinausschieben, das ich in hohem Maße für bedenklich halte... "

 

Bereits in dem Schreiben vom 29.01.1909 (oder 28.01.1909?) des Generalstabchefs an das Allgemeine Kriegsdepartement (A.D.) im preußischen Kriegsministerium wurde ein Munitionsmangel bei der Feldartillerie vorhergesagt - fünfeinhalb  Jahre vor Kriegsausbruch. Für die Munitionsversorgung des Heeres waren die Jahre 1909 bis 1911 weitgehend verlorene Jahre gewesen. Dass sich der Kriegsminister v. Heeringen im Jahr 1912 zu Maßnahmen durchrang, die eine Verbesserung zur Folge gehabt hätten, ist anerkennenswert. Aber bis Kriegsausbruch 1914 war eine Nachholung des Versäumten nicht möglich.

 

Zu einer schnelleren Erhöhung der Bestände im Frieden und/oder der im Kriegsfall vorgesehenen Munitionslieferungen brauchte man eine Erweiterung oder einen Neubau bestehender Munitionsfabriken in großem Stile. Es ging um ganz andere Größenordnungen als die bisher gewohnten. Die Beschaffung der dafür notwendigen Geldmittel im Frieden hätte vermutlich politische Entscheidungen erfordert, die nicht vorstellbar waren. Ohne einen Verzicht auf den weiteren Ausbau der Marine bzw. ihren Rückbau wäre es nicht abgegangen. Eine solche Politik hätte kein Reichskanzler überlebt. Die Entlassung durch den Kaiser wäre ihm sicher gewesen.

 

Abgesehen von der Finanzierungsfrage, war eine Vervielfachung der Munitionsproduktion kurzfristig schlichtweg nicht durchführbar. Die Kapazität der Munitionsfabriken ließ sich nicht auf einen Schlag steigern und sie war nicht beliebig erweiterbar.  Die für die Produktion erforderlichen Rohmaterialien mußten beschafft bzw. erst hergestellt werden - sie waren nicht ohne weiteres aufzutreiben und nur beschränkt verfügbar. Als Beispiel hierfür sei der Chile-Salpeter genannt, der später durch das Haber-Bosch-Verfahren zur Stick-stoffgewinnung aus der Luft abgelöst wurde.  Offenbar ist das preußische Kriegsministerium auch hier zu spät gestartet.

 

Es wäre also verfehlt, die Munitionsausstattung ausschließlich als eine Frage des Geldes anzusehen.

 

Der Generalstab ging davon aus, dass die Munitionsvorräte des französischen Heeres um fast die Hälfte höher waren als die eigenen.

 

Die Grundfrage war, ob sich das Deutsche Reich

  • eine Schlachtflotte in dem Umfange, wie von Kaiser Wilhelm II. und dem Großadmiral v. Tirpitz angestrebt

und gleichzeitig

  • ein Heer, das den militärischen  Anforderungen gerecht wurde, die sich aus der geografischen Zentrallage des Deutschen Reiches in Europa ergaben, einschließlich der notwendigen Festungen im Osten wie im Westen

schaffen konnte.

 

In finanzieller Hinsicht dürfte die Frage ohne weiteres zu verneinen sein. Jedoch, um es zu wiederholen, war dies nicht nur eine finanzielle und personelle Frage, sondern auch eine Frage der verfügbaren Industriekapazitäten (nicht zu vergessen der Arbeitskräfte!) und Roh-stoffe. Der Aufsatzverfasser neigt dazu, diese Grundfrage in allen Beziehungen zu verneinen und hier einen tieferen Grund für das Scheitern des Reiches zu sehen.

 

Als Ergänzung zu Aufsatz 2 - der Übersicht zur Friedensorganisation und ihrer nicht zustande gekommenen Lückenschließung im Jahr 1913 - soll in diesem Aufsatz dargelegt werden, wie es zu den beschrie- benen Fehlern kam und wer hierfür verantwortlich war.

 

Die Kriegsformation des Heeres ab 1899 und ab 1904

- Auffassungen Kriegsminister und Generalstabchef -

 

  1. Im Jahr 1899 erfolgten grundlegende Weichenstellungen für die Kriegsformation des Heeres, die dauerhaften Bestand hatten. Der preußische Kriegsminster General v. Goßler Kriegsminister entschied, den Armeekorps im Kriegsfall eine einheitliche Stärke von 24-25 Bataillonen zu geben. Dazu dokumentiert das Reichsarchiv (Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, I. Anlagenband) einen Schriftwechsel zwischen dem preußischen Kriegsminister v. Goßler und dem Generalstabchef v. Schlieffen über die künftige Gestaltung des Heeres. Ein Teilproblem waren die sog. 5ten Brigaden, über die mehrere Armeekorps verfügten. Sie wurden auch überzählige Brigaden genannt. 

 

(Hierzu wird auf die Anlagen zu Aufsatz 2 verwiesen)

 

Der Kriegsminister sieht diese Brigaden als minder tauglich an und will sie im Kriegsfall Reservedivisionen zuweisen, die nicht zum sofortigen Einsatz in vorderster Linie bestimmt sind. Der Generalstabchef will für seine Planungen nicht auf den sofortigen Einsatz der fünften Brigaden in vorderster Linie zu verzichten. Daraus ergeben sich gegensätzliche Konsequenzen:

  • Der Kriegsminister will die Qualität der vorhandenen Armeekorps durch die von ihm beabsichtigten Maßnahmen steigern. Neue Armeekorps braucht es seiner Meinung nach nicht, auch wenn die Anzahl der Infanterieeinheiten in den vorhandenen Armeekorps im Kriegsfall um die fünften (überzähligen) Brigaden vermindert wird. Sie werden nicht mehr in vorderster Linie benötigt - meint der Kriegsminister.
  • Der Generalstabchef will alle verfügbaren aktiven (im Frieden bestehenden) Verbände, also auch die 5. Brigaden, im Kriegsfall in Armeekorps (und damit in vorderster Linie) haben und dafür soweit erforderlich neue Armeekorps bilden. Ansonsten hält er die Kriegsformation des Heeres für zu schwach. Entspre- chend sollten solche Armeekorps bereits im Frieden aufgestellt werden. Im Kriegsministerium wirft man Schlieffen vor, eine zahlenmäßige Überlegenheit über den Gegner anzustreben. Die sei nicht erforderlich. Schlieffen sah keine Überlegenheit.

 

  1. Unter dem Datum vom 08. Juni  1899 schreibt der Kriegsminister v. Goßler (Konzept Oberst v. Einem) an den Generalstabchef v. Schlieffen:

 

"Ich betrachte die Friedens-Organisation der Armee, insoweit die Formation der Infanterie in Betracht kommt, für absehbare Zeit im Wesentlichen als abgeschlossen und möchte daher glauben, dass jetzt in Erwägungen einzutreten wäre

 

über die zukünftige Gestaltung der Kriegsformation und Organisation des Heeres,

 

um im Hinblick auf sie die Friedens-Organisation entsprechend auszubauen.

 

Meines Erachtens müsste das Streben auf Schaffung einer in allen ihren Teilen und Verbänden möglichst gleichartig zusammen-gesetzten und darum gleichmäßig leistungsfähigen Feldarmee im Mobilmachungsfalle gerichtet sein. Eine solche wird sich aber nur aufstellen lassen, wenn aus ihrem Rahmen alle minder leistungsfähigen Elemente ausgeschieden, Neuforma-tionen nach Möglichkeit eingeschränkt werden und ihre Aufstellung und Verwendung im nahen Anschluss an aktive Verbände erfolgt.

 

Folgende Maßnahmen werden hierfür erforderlich sein:  ....

 

   2. Formation der kleinen (5.) Infanterie-Brigaden im Mobilmachungsfall zu sechs Bataillonen durch Zuweisung von zwei Reserve-Bataillonen;

 

  3. Verwendung der so verstärkten 5. Infanteriebrigaden zur Bildung von Reserve-Divisionen, wodurch Letzteren erst der nötige Halt und die erfor-derliche Leistungsfähigkeit gegeben wird."

 

  1. Der Generalstabchef v. Schlieffen antwortet unter dem Datum vom 19. August 1899:

"Von der Einreihung der Linien-Brigaden in die Reserve-Divisionen vermag ich den beabsichtigten günstigen Erfolg mir jedoch nicht zu versprechen, halte vielmehr die Möglichkeit für näher liegend, dass die in der Reserve-Division mit acht Reserve-Bataillonen zusammen-gefügten vier Linien-Bataillone an der Betätigung ihrer an und für sich höheren Leistungsfähigkeit behindert werden.

               

Dem von Euer Exzellenz als leitenden Gesichtspunkt hingestellten Streben auf Schaffung eines in allen seinen Teilen und Verbänden möglichst gleichmäßig zusammengesetzten Feldheeres mich voll anschließend, würde ich es demzufolge vorziehen, die bei den Armeekorps überschießenden Linien-Infanterie-Brigaden und Regimenter nicht in einen Teil der Reserve-Divisionen einzustellen, sondern sie zu neuen, mit den Linien-Armeekorps möglichst gleichwertigen Verbänden zusammen-zufassen."

 

Der Generalstabchef lehnt eine Vermischung von aktiven (im Frieden bestehenden) Einheiten mit Reservedivisionen - die erst im Kriegsfall neu aufgestellt werden - grundsätzlich ab. Grund ist die unterschiedliche Leistungsfähigkeit.

 

  1. Die Kriegsformation 1902 des Heeres entsprach den Vorstellungen des Generalstabchefs. Alle aktiven Infanterieeinheiten werden im Kriegsfall in eigenen Armeekorps zusammengefasst. Dazu müssen im Kriegsfall vier neue Armeekorps aufgestellt werden. Der Kriegsminister v. Goßler hatte also insoweit nachgegeben.

 

Unter General v. Einem als neuem Kriegsminister (1903 - 1909) wird die Zahl der im Kriegsfall neu aufzustellenden Armeekorps auf zwei reduziert. Die überzähligen Infanterie-Truppeneinheiten werden im Kriegsfall Reservedvisionen zugewiesen. Das war die ursprüngliche Konzeption, die General v. Einem bereits im Jahr 1899 verfolgte, aber nicht hatte durchsetzen können. Nunmehr, als Kriegsminister, konnte er dies tun und den Widerspruch des Generalstabchefs übergehen.

 

 

Die Friedensorganisation des Heeres ab 1903

 

In der Friedensorganisation 1902 waren noch keine Folgerungen im Sinne des Generalstabchefs gezogen. Die von ihm gewünschten neuen Divisionen aus den 5. Brigaden waren jedoch bereits im Planungsstadium angelangt. Für den Fünf- jahresplan (Quinquennat) vom 01.04.1905 - 31.03.1910 war beabsichtigt, "fünf neue Divisionen zu errichten unter Benutzung der noch vorhandenen überschießenden kleinen  Brigaden" (Wortlaut eigenhändiger Aufzeichnungen des neuen Kriegs-ministers v. Einem vom Herbst 1903).

 

Unter General v. Einem als neuem Kriegsminister (1903 - 1909) werden die bisherigen Planungen für die Friedensorganisation aufgegeben. v. Einem begrenzte die Anforderungen, die er für das Heer an den Staatshaushalt stellte,  um der Marine Flottenvorlagen zu ermöglichen, und sprach sich über die Flottennovelle 1906 mit dem kaiserlichen Marineamt ab. Die Friedensorganisation wird auf dem erreichten Ausbaustand eingefroren.

 

v. Einem schreibt in seinen Aufzeichnungen vom Herbst 1903:

 

"... M.E. liegt der Gedanke nahe, dass der Nachfolger des Gr.Schl. (Grafen Schlieffen) auf Neuformationen innerhalb der aktiven Armee verzichtet und seinen Vorteil weniger in der Anzahl der Armeekorps als in deren festem Gefüge erblickt. Auch noch andere Gesichtspunkte könnten für ihn bestim- mend sein von einer Aufstellung neuer Armeekorps abzusehen..."

 

Zur Erläuterung wird hierzu ausgeführt:

 

Im Herbst 1903 war abzusehen, dass es in absehbarer Zeit  zu einem Wechsel in der Person des Generalstabchefs kommen würde. v. Schlieffen war am 28.02.1833 geboren. v. Einem (geb. 01.01.1853) stellte sich die Frage, wie lange Schlieffen noch im Amt bleiben solle und ob seine Ansichten für die zukünftige Gestaltung der Heeresorganisation, die weit über die voraussichtliche Rest-Amtsdauer Schlieffens hinausreichen würde,  maßgebend sein sollten. Aus der Sicht v. Einems stellte Schlieffens Person ein Hindernis für die Verwirklichung der eigenen Absichten dar. v. Einem hoffte auf einen neuen Generalstabchef, dessen Ansichten mit den seinen kompatibel waren.

 

Bei v. Einem wird somit eine sachliche Meinungsverschiedenheit mit dem Generalstabchef zu einer persönlichen Auseinandersetzung. Die Neuaufstellung von Armeekorps ist für ihn eine subjektive Frage, die von der persönlichen Einstellung des jeweiligen Amtsinhabers abhängt. Da es nur um subjektive Meinungen geht, gebührt selbst-verständlich der eigenen der Vorzug. Und überdies hat Seine Majestät geruht, dieser eigenen Meinung beizupflichten.

 

Dass ein Minister, der Konflikte personalisiert, anstatt nach sachlichen Kriterien für die Erarbeitung einer Lösung zu suchen, eine Fehlbesetzung ist, liegt auf der Hand. Diese Verfahrensweise blieb unter Kaiser Wilhelm II. nicht auf v. Einem und seine Amtszeit beschränkt.

 

  1. Während der gesamten Dauer seiner Amtszeit bleibt v. Einem dabei, keine Maß- nahmen zur Weiterentwicklung des Organisationsrahmens des Heeres im Frieden zu unternehmen.

In einem Schreiben vom 19.04.1904 an General v. Schlieffen führt er aus:

 

"Die Entwicklung des Heeres nach der Seite der Formierung neuer Verbände und der Errichtung neuer Truppenteile kann zur Zeit im Wesentlichen als abgeschlossen  angesehen werden."

 

Unter dem Datum vom 23. Juli 1909 schreibt er dem General v. Moltke (General-stabchef seit 01.01.1906):

 

"In Übereinstimmung mit Eurer Excellenz sehe ich den Rahmen des Heeres, wie er durch den Stand der 3 Hauptwaffen

 

(gemeint sind: Infanterie, Kavallerie und Artillerie)

 

gegeben ist, trotz einiger Lücken auf längere Zeit als unveränderlich an und halte nur den Ausbau der Hilfswaffen für ein dringendes Bedürfnis, dem bei Neufestlegung der Friedenspräsenz Rechnung zu tragen ist...."

 

Das ist eine Verschärfung gegenüber der Formulierung, die der Kriegsminister v. Goßler 10 Jahre zuvor verwendete. Im Jahr 1899 ging es um eine grundlegende Neugestaltung der Kriegsorganisation und in deren Gefolge auch der Friedensorganisation. In dieser Lage schloss v. Goßler Neuaufstellungen von Armeekorps für  absehbare Zeit aus, ließ aber die Möglichkeit dazu offen. Auch in seinem Schreiben vom 19.04.1904 ließ General v. Einem die Möglichkeit einer Weiter-entwicklung in Zukunft offen. Jetzt, im Jahr 1909, schließt er die Schließung der Lücken in der Heeresorganisation definitiv auf längere Zeit aus. Sie war der nächste Schritt in deren Weiterentwicklung und konnte in Teilschritten durchgeführt werden.

 

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Nicht-Weiterentwicklung der Heeresorganisation bei v. Einem im Laufe der Jahre zu einer Zwangsvorstellung geworden war. Sie nahm keinerlei Rücksicht auf die Entwicklung der militärischen Lage des Reiches im Verhältnis zu seinen Nachbarn Frankreich und Rußland (die man sich bei Bedarf schön redete, siehe die Denkschrift des Generals Wandel vom 29.11.1911). Da die Nachbarn konsequent aufrüsteten, mußte diese Nicht-Weiter-Entwicklung der Friedensorganisation des Heeres irgendwann einmal im Kriegsfall zur Niederlage führen. Das war einfachste militärische Logik.

 

General v. Einem ist der Vater der deutschen Niederlage im 1. Weltkrieg.

Zu seiner Verantwortung für diese siehe auch

Gackenholz, Hermann,

"Einem genannt von Rothmaler, Karl Wilhelm George August Gottfried von"

in: Neue Deutsche Biographie 4 (1959), S. 394 f. (Onlinefassung)

 

 

  1. Das kostbarste Gut, über das v. Einem als Kriegsminister verfügte, war - Zeit, und dieses Gut verschleuderte er durch sein Unterlassen einer Weiterentwicklung der Heeresorganisation. Für eine solche waren organisatorische Änderungen - hier: Änderungen der Korpsbezirke  -  erforderlich, und diese liessen sich nicht über das Knie brechen. Die Neuaufstellung eines Armeekorps im Frieden konnte mehrere Jahre Zeit erfordern. Es waren zumeist umfangreiche planerische und vorbereitende organisatorische Maßnahmen erforderlich. Diese konnten in Angriff genommen werden, bevor die Errichtung von Divisionen und schließlich die Einrichtung eines Generalkommandos als letzter organisatorischer Schritt erfolgte. Der schrittweise Aufbau eines Armeekorps von unten nach oben war möglich, entsprechende Planungen vorausgesetzt. Das war schon aus Kostengründen sinnvoll.

 

Als Zwischenschritt konnte die Neuaufstellung von Divisonen und Armeekorps für den Kriegsfall vorgesehen werden. So geschah es bei der 41. und 42. Division bzw. dem XX. und XXI. Armeekorps. Die Zusammenfassung bestimmter Brigaden zu Divisionen war geplant und vorbereitet, und für die neuen Armeekorps gab es bereits 2 fertige Divisionen. Die kurzfristige Teil-Lückenschließung im Friedens-Organi- sationsrahmen im Jahr 1912 durch v. Einems Nachfolger v. Heeringen war daher durchführbar. In den Augen der Militärs war der Zwischenschritt über die Errichtung neuer Einheiten erst im Kriegsfall nur ein Notbehelf gewesen. Auch ein Notbehelf war aber besser, als gar nichts zu unternehmen - preußisch gesprochen.

 

Was v. Einem durch seine Unterlassung einer Weiterentwicklung des Organi-sationsrahmens selbst im planerischen Bereich bewirkte, war, dass er das Kriegs-ministerium unfähig machte, im Bedarfsfalle kurzfristig neue Truppen aufzustellen. Bei der Heeresreform 1913 scheiterte die Neuaufstellung von Divisionen und Armeekorps daran, dass keine Planungen existierten und die für sie erforderliche Zeit nicht zur Verfügung stand.

 

  1. Die Verweigerungshaltung v. Einems wirkte im Kriegsministerium nach seinem Ausscheiden aus dem Amt weiter fort bis zum Kriegsausbruch 1914. Das Kriegs-ministerium hatte nichts vorbereitet. Es war nicht in der Lage, auf die russische Generalmobilmachung am 30. Juli 1914 mit einer kurzfristigen Errichtung neuer Truppen nach einem zuvor erarbeiteten Plan zu reagieren - und so die eigene (General-) Mobilmachung zu vermeiden. Eine Teil-Mobilmachung in Ost- und West- preußen hätte dann genügt.

 

Bei den Neuaufstellungen des Kriegsministeriums vom September 1914 handelte es sich um  Improvisationen ohne Kampfwert, aber mit hohen Verlusten. Um solches zu vemeiden, hatte der frühere Generalstabchef v. Schlieffen im Jahr 1905 gefordert, bereits im Frieden "überplanmäßige" Einheiten für den Kriegsfall (und nur für die Kriegsdauer) vorzusehen, d.h. entsprechende Planungen im Frieden vorzunehmen und Vorbereitungshandlungen wie die Einlagerung eines Grundstocks an Bekleidung und Ausrüstung zu treffen. Der Antrag wurde ignoriert.

 

Kaiser Wilhelm II. und seine Personalentscheidungen

 

Bevor man  zur Person des Generals v. Einem kommt, erscheint es angebracht, einen Blick auf die Verfahrensweise zu werfen, in der Kaiser Wilhelm II seine Personalentscheidungen traf.

 

Wilhelm II. ging im Laufe seiner Regierungszeit dazu über, die Ämter des preußischen Kriegsministers und des Generalstabchefs mit Männern seines persönlichen Vertrauens bzw. aus seiner persönlichen Umgebung zu besetzen. Fachliche Ausbildung, Eignung und beruflicher Werdegang spielten für die Spitzenämter keine Rolle mehr. Damit war dem Leistungsprinzip in der preußischen Armee die Spitze abgebrochen. Eine wesentliche und undurchsichtige Rolle spielte dabei das "Militärkabinett", ein Gremium von Offizieren, das über die Personal-angelegenheiten der Heeresoffiziere zu entscheiden hatte.

 

Man kann dies als eine Erscheinungsform des "persönlichen Regimentes" Wilhelms II. ansehen. Geschichtlich ist es ein Rückschritt. Der Offizier soll dem Kaiser und König persönlich dienen, nicht der ihm von diesem zugewiesenen Aufgabe, für das Heer (und damit für den preußischen Staat) zu arbeiten. Die Trennung von Staat und Monarch wird nicht mehr beachtet. Die - persönlich gemeinte - Treue gegenüber dem Monarchen erhält den Vorrang vor dem Dienst am Staat. Von dem General Moriz v. Lyncker, der das Amt eines Chefs des Militärkabinetts von 1908 bis 1918 bekleidete, wird seine persönliche Ergebenheit gegenüber dem Kaiser gerühmt. Er gehörte zum innersten Kreis der Umgebung des Kaisers. Mit seiner Einflußnahme auf die Besetzung der Ämter des Kriegsministers und des Generalstabchefs  leistete er einen ausschlaggebenden Beitrag, um seinen Kaiser und leider auch das Deutsche Reich zugrunde zu richten.

 

Möglicherweise kann v. Einem als ein Beispielsfall für diese Verfahrensweise dienen. Es mag Zufall sein, fällt aber dennoch auf: Die Versetzung v. Einems in das Kriegs-ministerium fällt in das Jahr 1898, das Jahr, in welchem der Bau der deutschen Schlachtflotte beschlossen wurde, und sie endet im Jahr 2009 mit der Entlassung des "Flottenkanzlers" v. Bülow.

 

Militärischer Werdegang des Generals v. Einem - seine Auffassungen

 

  1. Angesichts der überragenden Bedeutung des Generals v. Einem für die Gestaltung des Deutschen Heeres von 1914 erscheint es angebracht, zu seiner Person und seinen Anschauungen  noch einige Angaben folgen zu lassen.

1.1 Zwei Angaben aus seiner Biographie scheinen vor allem mitteilenswert:

 

Nach Gackenholz (aaO, siehe vorstehend) kam v. Einem 1880 ohne Besuch der Kriegsakademie über die Adjutantur in den Generalstab.

 

In "Wikipedia" heißt es unter "Karl v. Einem":

"Er stand dem jungen Kaiser Wilhelm II. nahe, der seine Befähigung schon früh erkannte..."

 

Bereits im Alter von 40 Jahren erhielt v. Einem  ein eigenes Kürassierregiment. 1898 in das Kriegsministerium versetzt, wurde er innerhalb von 5 Jahren dessen Leiter.

 

1.2 v. Einem war kein Generalstabsoffizier, bekleidete aber auch Ämter von General-stabsoffizieren. Dass ihm deren Denkweise fremd war, zeigt seine bereits vorstehend wiedergegebene Formulierung

 

"M.E. liegt der Gedanke nahe, dass der Nachfolger des Gr.Schl. (Grafen Schlieffen) auf Neuformationen innerhalb der aktiven Armee verzichtet und seinen Vorteil weniger in der Anzahl der Armeekorps als in deren festem Gefüge erblickt."

 

v. Einem konstruiert hier künstlich einen Gegensatz zwischen den vom General-stabchef geforderten Neuformationen und dem "festen Gefüge" der Armeekorps. Das eine hatte mit dem anderen nichts zu tun. Bisher hatte Einvernehmen zwischen Kriegsminister und Generalstabchef dahingehend bestanden, dass die optimale Größe eines Armeekorps, insbesondere im Hinblick auf seine generalstabsmäßige Führungsfähigkeit, bei 24 - 25 Bataillonen lag. Die geforderten Neuformationen sollten diese optimale Größe einheitlich für das ganze Heer schaffen. Das sollte der Qualitätssteigerung des Heeres, wenn möglich bei gleichzeitiger oder späterer Vermehrung der Feuerkraft, dienen. Dass ein Armeekorps mit 30 Bataillonen ein festeres Gefüge gehabt hätte als ein solches mit 24 Bataillonen, ist abwegig.

 

Man beachte, dass es bei dieser Diskussion um die  Organisation innerhalb der bestehenden Armee und keineswegs um zusätzliche Einheiten zur bestehenden Armee geht.

 

Die innere Einstellung v. Einems gegenüber dem Generalstabchef v. Schlieffen läßt jede Achtung vor dem Amt wie vor der Person des Generalstabchefs, der dem Kriegsminister intellektuell bei weitem überlegen war, vermissen. In seiner Haltung dürfte er durch Kaiser Wilhelm II. bestärkt (oder sogar dazu veranlaßt) worden sein. Dieser räumte Schlieffen nur begrenzten Einfluss ein. Die überragende geistige Bedeutung Schlieffens - dem "großen Lehrmeister des deutschen Generalstabs" (so z.B. die Formulierung seines Schülers Ludendorff) - wurde von Wilhelm II. nicht begriffen.

 

1.3 v. Einems erste wichtige Amtshandlung bestand darin, das laufende Quinquennat (Fünfjahresplan), das die Zeit vom 01.04.1899 bis zum 31.03.1904 unfaßte, um ein Jahr zu verlängern. Das bedeutete, dass im Jahr 1904 keine neuen Maßnahmen in Angriff genommen wurden.  Bei dem Einfrieren der Heeresorganisation auf dem erreichten Stand setzte er sich über den Protest des Generalstabchefs v. Schlieffen hinweg. Das konnte er ohne weiteres tun, da er rechtlich allein zuständig war. Aber zugleich belastete er sich dadurch mit der alleinigen Verantwortung für seine Vorgehensweise. Die Auffassung v. Schlieffens, dass "eine fortgesetzte Weiter-entwicklung der Armee  zur Erhaltung des Staates unabweisbar" sei, erwies sich im geschichtlichen Rückblick als zutreffend. Im Jahr 1906 sah sich v. Einem als stark genug, um den - in vorsichtiger Form - vorgetragenen Wunsch des Reichs-kanzlers v. Bülow nach einer Heeresvorlage zurückzuweisen. Das ist schwerlich denkbar, ohne dass sich v. Einem der Rückendeckung des Kaisers sicher war. v. Einem sorgt auch für eine Verlängerung des laufenden Quinquennates vom 01.04.1905 bis 31.03.1910 um ein  weiteres Jahr bis 31.03.1911. Für das Heer sollte sich dies als tödlich erweisen.

 

1.4 v. Einem nahm es bewußt in Kauf, das Heer zu verschlechtern, indem er mit Improvisationen arbeitete, um nicht an den Gesetzgeber wegen einer Erhöhung der Friedenspräsenzstärke herantreten zu müssen. Das für die neuen Maschinengewehr-kompanien erforderliche Personal entnahm er den bestehenden Verbänden, die dadurch geschwächt wurden. Gleichwohl waren dieser Verfahrensweise Grenzen gesetzt, wollte man nicht die Kampfbereitschaft des Heeres ernsthaft gefährden. Um den Anschluss an die Nachbarstaaten zu gewinnen, sah sich sein Nachfolger v. Heeringen im Jahr 1912 zu einer Verdoppelung der Maschinengewehrkompanien und einer Personalverstärkung veranlaßt, die 1913 durchgeführt wurde. 

 

In entsprechender Weise verfuhr v. Einem bei den technischen Einheiten, die nicht die erforderliche Personalausstattung erhielten. Erst die Heeresreform 1913 ermöglichte es, für diese Einheiten mit dem Aufbau eines festen organisatorischen Gerüsts zu beginnen und gleichzeitig die Improvisationen auf Kosten der bestehenden Verbände zu beenden.

 

 

1.5 v. Einem erklärt regelmäßig, er müsse neben den  Bedürfnissen des Heeres auch die allgemeine politische Lage und die dauernd ungünstige Gestaltung der Reichs-finanzen in Betracht ziehen. Gemeint ist dabei die Haushaltslage. Es geht nicht darum, dass im Reiche keine ausreichende Steuerkraft vorhanden gewesen wäre. Das Reich nahm seit seiner Gründung einen bis dahin ungekannten wirtschaftlichen Aufschwung. Woher v. Einem als preußischer Kriegsminister sein politisches Mandat und seine Befugnis nahm, sich um die Finanzen des Reiches zu sorgen, dazu macht er keine Angaben. Aus der preußischen Verfassung ergab sich diese Befugnis nicht, und aus der Reichsverfassung auch nicht.

 

Die Einnahmen des Reichs reichten zur Bestreitung der Ausgaben nicht aus - das war zutreffend. Zutreffend war auch, dass der Haushalt des Heeres durch die Einführung einer neuen Generation von Geschützen - den Rohrrücklaufgeschützen - in den Jahren 1905 bis 1907 und auch durch die Einführung der neuen Infanterie-bewaffnung mit dem Gewehr 98 stark belastet wurde. Aber das Defizit im Staatshaushalt entstand dadurch, dass das Reich sich nicht durch die  Einführung von Steuern ausreichende Einnahmen verschafft hatte. Eine Änderung war möglich, und sie war durch die Einführung neuer Steuern zu erreichen. Es war Sache des Reichs-kanzlers und des Reichsschatzamtes, hierfür Vorschläge zu erarbeiten und sie dem Gesetzgeber, also Bundesrat und Reichstag, zu unterbreiten. Bei diesem lag die letzte Entscheidung. 

 

Indem v. Einem die Anforderungen des Heeres an den Staatshaushalt begrenzte und zweimal den Beginn des nächsten Fünfjahresplans hinausschob, ermöglichte er es dem Reichskanzler wie auch dem Gesetzgeber, zunächst einmal weiterzumachen wie bisher, ohne neue Steuern  einzuführen. Es war nichts anderes als eine Konkurs-verschleppung - denn auf Dauer ließen sich neue Steuern nicht vermeiden, und das wußte jeder. Die Haltung v. Einems war eine zutiefst politische. Er ging inhaltlich über die Grenzen seines Amtes hinaus, indem er entschied, die Heeresorganisation nicht weiter zu entwickeln, ohne Rücksicht auf die militärischen Notwendigkeiten, um die damit verbundenen Kosten (denn um die ging es) zu vermeiden. Damit lag er voll "im Trend" der deutschen Marinebegeisterung und leistete einen Beitrag zum Hinausschieben innenpolitischer Kontroversen, die mit der Einführung direkter Steuern unvermeidlich verbunden waren.

 

1.6 Friedrich der Große sah sich als der erste Domestike (Hausangestellte oder Hausknecht) des Staates. Legt man diese Auffassung zugrunde, so war der preußische Kriegsminister der zweite Domestike des preußischen Heeres, nach dem König. Seine Aufgabe nach der Preußischen Verfassung von 1850 war es, der Sachwalter des Heeres innerhalb der Regierung und gegenüber dem Gesetzgeber zu sein - sonst nichts. Der Reichstag konnte nur sachgerecht entscheiden, wenn er über die militärische Lage  und den Zustand des Heeres zutreffend unterrichtet wurde. Die Entscheidung, ob bei angenommener Notwendigkeit die Heeresorganisation weiter zu entwickeln war, lag allein beim Gesetzgeber.

 

Der Kriegsminister hatte die Bedürfnisse des Heeres, die zur Verteidigung des Reiches erforderlich waren,  im Reichstag zu artikulieren. Davon kann bei General v. Einem keine Rede sein. Er brachte es in seiner sechsjährigen Amtszeit als Kriegs-minister auf zwei Heeresvorlagen, die von 1905 und die von 1911 (die von ihm vorbereitet wurde), beide unzureichend, die Vorlage von 1911 noch unzureichender als die von 1905. Dass er den Reichstag auf die  zahlenmäßige Überlegenheit des Gegners und die sich daraus ergebende Gefahr einer Niederlage hingewiesen hätte, ist nicht feststellbar.

 

Dem Großadmiral v. Tirpitz gelang es regelmäßig, für seine Flottenvorlagen eine Mehrheit im Reichstag zu finden. Im Flottenverein verfügte er über eine schlag-kräftige Propaganda- und Lobby-Organisation. Trotz der dauernden Finanznot des Reiches, von der v. Einem immer wieder sprach, konnte sich dieses eine gewaltige Schlachtflotte aufbauen. Beim Heer hielt es v. Einem für die richtige Verfahrens- weise, bei der Reichsleitung keine oder nur inhaltlich äußerst begrenzte Heeres-vorlagen anzufordern, und vermied dadurch jede Auseinandersetzung mit ihr und dem Reichstag ("Auseinandersetzung" ist hier wertneutral gemeint, als kontroverser Austausch von Sachargumenten). Diese Auseinandersetzung zu führen, war indessen eine zentrale Aufgabe des Kriegsministers, und es kam wesentlich auf seine Vorschläge und deren Begründung an, wenn der Reichstag überzeugt werden sollte.

 

1.7 Den Ausführungen in "Wikipedia" ist weiter zu entnehmen, dass v. Einem zudem auch Bevollmächtigter beim Bundesrat und Vorsteher des Ausschusses für das Landheer war. Das zeigt, dass v. Einem eine über sein Amt als Kriegsminister hinaus-reichende weitgehende politische Tätigkeit entfaltete.  Zugleich ist damit das Versagen des Bundesrates in militärischen Fragen hinreichend erklärt. Seine politische Bedeutung trat immer stärker hinter der des Reichstags zurück.

 

1.8 Die politischen Auswirkungen der Einstellung v. Einems waren auch in anderer Hinsicht ungut.

 

Die Reichsleitung verlor die Führung in der öffentlichen Diskussion über die Militär-politik hinsichtlich des Heeres. Es wäre Aufgabe des Kriegsministers gewesen, Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben und die eigenen militärischen Zielsetzungen in geeigneter Weise der Bevölkerung zu vermitteln. Vor allem die Heeresvorlagen des Reichskanzlers an den Gesetzgeber boten Gelegenheit zu einer öffentlichen Erörterung. Da v. Einem keine Zielsetzungen hatte, konnte er auch keine vermitteln.

 

Auf die Dauer blieb aber den Personen, die sich mit dem Heer und seinen Belangen beschäftigten, nicht verborgen, dass das Reich gegenüber seinen Nachbarn mit den Rüstungen zurückblieb. Um dies zu erkennen, reichte eine bloße Zeitungslektüre aus. So mehrten sich in der Öffentlichkeit kritische Stimmen zur Militärpolitik  des Reiches. Ein Anzeichen dafür ist die Gründung des Wehrvereins 1912, der von der Reichsleitung bekämpft wurde. Die öffentliche Diskussion verselbständigte sich.

 

Schließlich mündete die öffentliche Erörterung in dem Projekt "tatsächliche Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht". Es sollten alle tauglichen Wehr- pflichtigen auch wirklich  zum Wehrdienst einberufen werden. Einen Beitrag dazu, die militärische Lage des Reiches auf kurze Sicht zu verbessern, leistete dieses Projekt nicht. Es wäre die Aufgabe des Kriegsministers gewesen, dies zu vermeiden und für die Unterrichtung der Öffentlichkeit zu sorgen, worin die militärischen Notwen-digkeiten wirklich bestanden, nämlich in der Aufstellung neuer Kampfeinheiten. Es gehörte zu den Grunderfahrungen der preußischen Armee, dass nur gründlich ausgebildete und mit allem notwendigen Kriegsbedarf versehenen Truppen auf dem Schlchtsfeld siegreich bleiben. Die Mißachtung dieser Erfahrungen führte zur Nieder- lage von 1914.

 

Am 07. April 1913 brachte der Reichskanzler die Heeresvorlage 1913 im Reichstage ein. Die Opposition kritisierte, er habe keine militärische Begründung gegeben. Das war zutreffend. Das Plenum des Reichstages und mit ihm die deutsche Öffentlichkeit wurde nicht über die wirkliche militärische Lage des Reiches unterrichtet. Das deutsche Volk ging 1914 ahnungslos in den Krieg, seine politische und militärische Führung keineswegs.

 

Personelle Alternativen für Kriegsminister und Generalstabchef

 

Das Deutsche Heer verfügte über Persönlichkeiten, die militärisches Können und innere Unabhängigkeit besaßen  und daher für jede der beiden Führungspositionen des Heeres geeignet gewesen wären. Wilhelm II.  gab mehrfach anderen Gesichts-punkten den Vorrang.

 

Als Beispiel für einen General, der in keines der beiden höchsten Führungsämter des preußischen Heeres berufen wurde, obwohl seine Befähigung unbestritten war, sei Colmar v. der Goltz (1843-1916) genannt. Er gehörte zu den schöpferischen Geistern in der Armee. Von 1897 bis 1901 bekleidete er das Amt eines General-inspekteurs der Festungen und der Pioniere. Das Reichsarchiv schreibt:

 

"... in ihm hatte das Ingenieur- und Pionierkorps einen tatkräftigen und weit- blickenden Führer erhalten, der die Bedeutung der Pioniere für die neuzeitliche Kriegführung klar erkannte....

.... In einer eingehenden Denkschrift vom 07. Mai 1900 legte er seine Forderungen nieder. Sie umfaßten:

1. Die Bildung eines besonderen Ingenieurstabes, der strategisch-taktisch und auch technisch ausreichend geschult mit den Problemen der modernen Kriegführung vertraut war....

2. Die Schaffung eines selbständigen Festungsbaukorps ...

3. Den Ausbau der Pioniertruppe...

 

v. der Goltz drang mit seinen Vorstellungen nicht durch. Die Kräfte des Behar-rungsvermögens in der Armee waren zu stark. Aber die Richtigkeit seiner Forderung nach einem Ausbau des Pionierkorps wurde später bestätigt. Beim Reichsarchiv heißt es an späterer Stelle:

 

"... eine ... Denkschrift des Ingenieur-Komitees vom 18. Februar 1910 kam zu dem Schluß, dass die Pioniere wegen ihrer geringen Stärke, wie mit Sicherheit voraus-zusehen sei, trotz sorgfältiger Ausbildung und größter  Hingabe den Anforderungen der neuzeitlichen Kriegführung im Ernstfalle nicht würden Genüge leisten können."

 

Erst im Heeresgesetz 1913 wurde die Forderung des Generals v. der Goltz nach einem Ausbau der Pioniertruppe aufgegriffen und die Anzahl der Pionierbataillone um ein Drittel vermehrt (von 33 auf 44 Bataillone). Das allein erforderte eine Erhöhung der Friedenspräsenzstärke des Heeres um 6000 Wehrpflichtige.

 

Auch zu den Festungen des Reiches verfaßte v. der Goltz eine Denkschrift, die Bestand hatte. Was die Festungen im Osten angeht, so schreibt unter dem Datum vom 09. November 1911 einer seiner Amtsnachfolger, General Mudra, dem General-stabchef:

 

"In der Beurteilung unserer Ostgrenze für die Landesbefestigung im Großen schließe ich mich den Ausführungen des früheren General-Inspekteurs, jetzigen General-feldmarschalls Freiherrn v. der Goltz in seiner Denkschrift vom März 1899 an."

 

General Mudra entwarf eine Konzeption, wie das Reich einen Zweifrontenkrieg bestehen könne  und geriet darüber in eine Ausein-andersetzung mit dem Kriegsministerium. Man darf vermuten, dass seine Überlegungen von General v. der Goltz mit beeinflußt waren. Mudras Vorschläge für den Ausbau der Festungen Posen und Graudenz wurden vom Generalstabchef in seine Denkschrift vom 21.12.1912 über- nommen, fanden Eingang in die Heeresvorlage 1913 des Kriegsministers und wurden Gesetz.

 

Im Nachtragshaushalt des Reiches für 1913 waren unter "Einmalige Ausgaben" 70.0000.000 Mark für Festungen vorgesehen. Das war die erste Rate, in den folgenden Jahren hätten weitere folgen müssen. Es bestätigte sich jedoch die alte Erfahrung, dass man Festungen nicht aus dem Boden stampfen kann. Die Erweiterung der Festungen war bis Kriegsausbruch noch nicht vorangekommen. Mit einer Bauzeit von 3-5 Jahren war zu rechnen. Da hätte  vorausschauend einige Jahre früher mit dem Ausbau begonnen werden müssen.

 

Colmar v. der Goltz gehörte zu den wenigen Offizieren des Heeres vor 1914, die im Frieden zum Generalfeldmarschall ernannt wurden. Wäre er Kriegsminister geworden, so hätte er dem Heer neue Impulse gegeben. Wäre er Generalstabchef geworden, so hätte er sich mit einer Entwicklung, die im Kriegsfall zur Niederlage führen konnte, nicht kampflos abgefunden. Auf seine politische Inkorrektheit war Verlaß.

 

 

Exkurs: Die Einnahmen des Deutschen Reichs und seine Finanzen

 

Die letzte Entscheidung darüber, wie hoch die Friedensstärke sein sollte, wie das Heer gestaltet werden sollte, welche Geldmittel  jeweils für Heer und Marine aufgewandt und wie diese beschafft werden sollten, lag beim Gesetzgeber, also bei Bundesrat und Reichstag.

 

Nationalökonomen und Politiker erörterten, wer die Geldmittel für die Ausgaben des Staates aufbringen sollte, die Gesamtheit der Bevölkerung auf dem Wege über Zölle und Verbrauchsteuern ("Besteuerung des Massenverbrauchs", was eine Verteuerung der Grundnahrungsmittel zur Folge hatte) oder die Minderheit der finanzstarken Bevölkerungskreise im Bürgertum und Adel. Der Reichsgründer Otto v. Bismarck positionierte sich eindeutig für eine Besteuerung des Massenverbrauchs durch indirekte Steuern und Einfuhrzölle und gegen jedwede direkte Steuern für die einkommens- und/oder besitzstarke finanzielle Oberschicht. Auf der Ebene des Reiches erlangte die Erörterung lange Zeit keine Bedeutung. Die indirekten Steuern und Zölle für die Gesamtheit der Bevölkerung beherrschten unangefochten das Feld.

 

Mit den beiden Flottengesetzen von 1898 und 1900 (das letztere läßt mit seiner Verdoppelung der Geschwader für die Schlachtflotte bereits Cäsarenwahn anklingen) ändert sich das Bild.  In ihnen werden die Kosten für den Flottenbau der Höhe nach festgelegt und zugleich die für ihn verwendbaren "indirekten, den Massenverbrauch belastenden Reichsabgaben" der Höhe nach begrenzt:

 

§ 8 Flottengesetz vom 10.  April  1898

"Soweit die Summe der fortdauernden und einmaligen Ausgaben der Marine-verwaltung in einem Etatsjahre den Betrag von 117.525.494 Mark übersteigt, und die dem Reiche zufließenden eigenen Einnahmen zur Deckung des Mahrbedarfs nicht ausreichen, darf der Mehrbetrag nicht durch Erhöhung oder Vermehrung der indirekten, den Massenverbrauch belastenden Reichssteuern gedeckt werden."

 

§ 6 Flottengesetz vom 14.  Juni  1900

Insoweit vom Rechnungsjahr 1901 ab der Mehrbedarf an fortdauernden und einmaligen Ausgaben des ordentlichen Etats der Marineverwaltung den Mehrertrag der Reichsstempelabgaben über die Summe von 53.708.000 Mark hinaus übersteigt, und der Fehlbetrag nicht in den sonstigen Einnahmen des Reichs seine Deckung findet, darf der letztere nicht durch Erhöhung oder Vermehrung der indirekten, den Massenverbrauch belastenden Reichsabgaben aufgebracht werden.

 

Im Bewußtsein der politisch Verantwortlichen war offenbar gegenwärtig, dass die Höhe der indirekten Steuern für den Bau der Schlachtflotte begrenzt werden mußte. 

 

Die Frage nach der Finanzierung der Schlachtflotte war damit nicht beantwortet. Mit ihrem Aufbau und durch die "Weltpolitik" des Kaisers

 

(1898 Pachtvertrag mit dem Kaiserreich China über die Bucht von  Kiautschou mit bestimmten Inseln und Halbinseln zwecks Errichtung eines Marine- und Handelsstützpunktes, letztlich gegen Japan und dessen Vordringen auf das Festland gerichtet; Militärexpedition nach China 1900/1901,  aber auch Niederwerfung des Herero-Aufstandes  in Südwestafrika)

 

gerieten die Reichsfinanzen und die Schuldenaufnahme außer Kontrolle. Für neue Ausgaben des Umfangs wie ab 1898 getätigt war die Erschließung neuer Einnahmequellen in Gestalt von Steuern erforderlich. Sie wurde auf vielfältige Weise versucht, doch blieben die Versuche ohne eine ausreichende Ertragskraft. So wurde im Jahr 1902 eine Schaumweinsteuer (Sektsteuer) eigeführt, eine Verbrauchsteuer, die - hierin eine Ausnahme - eher die wohlhabenden Bevölkerungskreise traf als die Masse der Bevölkerung, die sich ein solches Getränk nicht leisten konnte. Mehr als ein (Champagner-) Tropfen auf den heißen Stein war diese Steuer aber nicht. Eine weitere Ausnahme war eine für das Pachtgebiet von Kiautschou eingeführte Wertzuwachssteuer, die aber nur einen Bruchteil der durch das Pachtgebiet entstandenen Kosten abdeckte.

 

Die Frage liegt nahe, warum zur Finanzierung nicht zusätzlich zu den bestehenden Steuern

 

(bereits in der Reichsverfassung von 1871 genannt:)

Zölle, Salzsteuer, Tabaksteuer, Branntweinsteuer, Biersteuer, Zucker-steuer

 

(seither  neu eingeführt insbesondere:)

eine Stempelsteuer auf

die Begebung und den Kauf von Wertpapieren - eine Art Finanztrans-aktionssteuer 

die Veräußerung von Grundstücken

seit 1906 auch auf den Verkauf von Fahrkarten bei der Eisenbahn

(also eine Verkehrsteuer)

Wechselsteuer

Sektsteuer

Erbschaftsteuer

 

eine Einkommensteuer und/oder eine Vermögensteuer eingeführt wurde. Nach der Verfassung von 1871 hätte das Reich dies jederzeit tun können, unter der alleinigen Voraussetzung, dass dies für die verfassungsmäßigen Aufgaben  des Reiches notwendig war. Das war zu bejahen. Die Verteidigung des Reiches war aus verfassungsrechtlicher Sicht seine zentrale Aufgabe, und die Rüstungsausgaben machten ungefähr 90 % der Staatsausgaben aus. Jedoch  waren dem Reich die Bundesstaaten mit der Einführung direkter Steuern zuvorgekommen. So war in Sachsen bereits 1878, in Preußen im Jahr 1891 (also nach der Amtsentlassung Bismarcks!) unter dem Finanzminister Johannes v. Miquel die Einführung einer neuen Einkommensteuer erfolgt, unter Aufhebung bis dahin geltender Regelungen. In Preußen folgten dem eine Gewerbesteuer und eine Vermögensteuer.

 

Zu der Einführung einer Einkommensteuer oder Vermögensteuer in irgendeiner Form im Reich oder zu einer Beteiligung des Reiches an den Erträgen aus der Einkommensteuer und Vermögensteuer der Bundesstaaten kam es nicht.  Zwar hatte  die Gesetzgebung des Reiches hier den Vorrang vor derjenigen der Bundesstaaten, sodaß deren Einkommensteuergesetze automatisch den Nachrang hinter einem Reichseinkommensteuergesetz erhalten hätten. Politisch erwies sich die Einführung einer Reichseinkommensteuer aber als unmöglich. Die konservative Fraktion im Reichstag verfocht kategorisch den Grundsatz, dass die direkten Steuern den Bundesstaaten vorbehalten bleiben sollten und das Reich nur die Zölle und die indirekten Steuern erhalten solle. Aus der Verfassung ergab sich diese Einschränkung hinsichtlich der direkten Steuern nicht.

 

Die Bundesstaaten betrachteten die Einkommensteuer als ein Unterpfand ihrer eigenen Staatlichkeit (zusätzlich zum eigenen Heer)  und waren nicht bereit, das Reich in irgendeiner Form an dieser zu beteiligen. Hinzu kam der Widerstand der Mehrheitsfraktionen im preußischen Landtag. Ihnen verbürgte das Dreiklassen-wahlrecht in Preußen, dass allein die besitzenden Bevölkerungsklassen über die Einkommensteuer und damit über ihre eigene Steuerbelastung zu entscheiden hatten. Beim Reichstag mit seinem gleichen und allgemeinen Wahlrecht konnte man sich dessen nicht so sicher sein. So bestand ein entschiedener Widerstand beim Gesetzgeber, sowohl im Bundesrat als auch im Reichstag, und dieser erwies sich bis zum Ende des Reiches als unüberwindlich. 

 

Im Jahr 1906 gelang dem Reichskanzler v. Bülow die Einführung einer Erbschaft-steuer auf Reichsebene, die den Vorrang vor den bisher auf der Ebene der Bundes-staaten bestehenden Erbschaftsteuergesetzen hatte. Sie erfaßte aber nur einen Bruchteil aller möglichen Steuerfälle -  die Rede ist von  etwa 20 %. Befreit waren Kinder und Kindeskinder sowie Ehegatten. Die Einnahmen blieben daher beschränkt, wenn auch nicht so unbedeutend wie die Sektsteuer. Der Versuch des Reichs-kanzlers im  Jahre 1909, eine Aufhebung der Steuerbefreiungen für Kinder und Kindeskinder sowie Ehegatten zu erreichen und damit zu einem Mehrfachen der bisherigen Erträge zu gelangen, scheiterte am Widerstand des Reichstags (Kon- servative und Zentrum sowie polnische Abgeordnete) und veranlaßte ihn zur Einreichung seines Rücktritts.  Seine bisherige parlamentarische Basis - National-liberale und Konservative - war auseinandergebrochen. Die Aufhebung der vorste- hend genannten Befreiungen blieb auf Dauer ein politisches Tabuthema.

 

Die beabsichtigte Aufhebung der Befreiungen bei der Erbschaftsteuer im Jahr 1909 war Teil eines Maßnahmepaketes von drastischen Steuererhöhungen, mit denen der Reichskanzler v. Bülow die Reichsfinanzen endlich in den Griff bekommen wollte. Der Löwenanteil der Erhöhungen entfiel auf indirekte Steuern - die Tabak-, die Bier- und die Branntweinsteuer. Angesichts dessen hatte v. Bülow gemeint, den besitzenden Bevölkerungsschichten eine Erbschaftsteuer zumuten zu können. Die Ablehnung war heftig, in der Öffentlichkeit wie im Reichstag, obwohl die erforderliche Mehrheit nur knapp - aber eben doch  eindeutig - verfehlt  wurde. Da blieb dem Reichskanzler nur die Lösung, die von ihm aus der Erbschaftsteuer erhofften Steuererträge  durch andere Steuern bzw. Steuererhöhungen bestehender Steuern zu ersetzen. Es kam zu Erhöhungen der vorstehend genannten Stempelsteuern, zur Einführung einer Leuchtmittelsteuer und einer Zündwarensteuer und zur Erhöhung des Kaffee- und Teezolls. Der Anteil des Reiches an der Erbschaftsteuer wurde auf 75 % erhöht.

 

Zugleich mit der Finanzreform sollte einer weiteren ungezügelten Ausgaben-wirtschaft, die keine Rücksicht auf die Festsetzungen im Haushaltsplan des Reiches nahm, ein Ende bereitet werden. Die Gesundung der Staatsfinanzen in den Jahren 1910 und 1911 wurde jedoch nur dadurch erreicht, dass gleichzeitig die Heeres- ausgaben reduziert wurden. Das Reichsarchiv teilt den Rüstungshaushalt des Reiches in Millionen Mark wie folgt mit:

 

                      Heer                           Marine

1907              920,9                          296,9

1908              991,8                          359,6         

1909              956,9                          410,9

1910              926,0                          450,7

1911              931,6                          459,8

1912           1.073,4                          472,6

1913           1.629,6                          481,2     

 

Sowohl beim Heer wie auch bei der Marine wurde 1908 ein neuer Spitzenwert erreicht. Bei der Marine stiegen jedoch in den Folgejahren die Ausgaben kontinuierlich weiter an, während es beim Heer in den Jahren 1909 bis 1911 zu einem erheblichen Rückgang kam. Der politische Vorrang der Marine wird hier deutlich. Es wird jedoch auch die These vertreten, dass der Reichskanzler v. Bethmann-Hollweg im Widerstand gegen den Großadmiral  v. Tirpitz die Zuwachsraten der Marine zu begrenzen versuchte. Ebenso ist ersichtlich, dass sich beim Heer ein Nachholbedarf aufbaute.

 

Finanzwirtschaftlich war die Finanzierung des Staatshaushaltes über Verbrauch-steuern und Zölle eine nicht zukunftsfähige Konzeption. Dafür waren die erzielbaren Erträge zu gering, und sie waren nicht unbegrenzt steigerungsfähig, selbst die Tabaksteuer und die Branntweinsteuer nicht. Während des 1. Weltkrieges trat daher die Einführung einer Umsatzsteuer hinzu, die, ihrer Wirkung nach eine allgemeine Verbrauchsteuer, im Laufe der Jahrzehnte die meisten der kleineren Verbrauch-steuern - die nur einzelne Formen des Verbrauchs, seien es Salz oder Zucker oder Essig zum Gegenstand hatten - ablöste. Sie setzte sich im Laufe des 20. Jahr- hunderts international auf breiter Ebene durch. Vor dem 1. Weltkrieg hätte eine Umsatzsteuer im Deutschen Reich einen Generalstreik ausgelöst.

 

Politisch war die Erhöhung bzw. der Ausbau der Verbrauchsteuern im Jahr 1909 verhängnisvoll,  da  sie die vorhandenen sozialen Spannungen im Reich weiter anheizte. Sie führte zu einer weiteren Verteuerung des Massenverbrauchs, der bereits durch die Erhebung von Einfuhrzöllen verteuert worden war. Die Masse der Bevölkerung wurde dadurch stärker getroffen als die besitzende Oberschicht. Für die gestiegenen Kosten des täglichen Verbrauchs hatte sie einen höheren Anteil an ihrem niedrigen Einkommen aufzuwenden als es bei den besitzenden Klassen an deren höherem Einkommen der Fall war. So wuchs die Steuerlast der Masse der Bevölkerung auf indirektem Wege immer weiter an. Dass aus den Reichstagswahlen 1912 die Sozialdemokratische Partei als Sieger hervorging und zukünftig die stärkste Fraktion im Reichstag stellte, bei gleichzeitiger Niederlage der Konservativen, kam schwerlich überraschend. Dass die Konservativen aus ihrer Niederlage etwas gelernt hätten, war, wie sich bei der Finanzierung der Heeresreform 1913 zeigen sollte, nicht der Fall.

 

Für die Finanzierung der Heeresreform 1913 musste der Reichskanzler v. Bethmann-Hollweg einen anderen Weg als über Verbrauchsteuern oder eine weitere Kredit-aufnahme gehen. Es führte kein Weg an der Erkenntnis vorbei: allein die besitzenden Schichten der Bevölkerung waren in der Lage, eine Heeresvorlage zu finanzieren.  Aus der Masse der Bevölkerung war 1913 nichts mehr herauszuholen. Mit dem Wahlsieg der Sozialdemokratie 1912 wurde der Weg für eine steuerliche Belastung der finanzstarken Bevölkerungskreise frei. Sie geschah dann durch den Wehrbeitrag, einen einmaligen außerordentlichen Beitrag vom Vermögen und vom Einkommen. Er wurde vom Reichstag nach der Höhe des Vermögens bzw. Einkommens gestaffelt (heute würde man sagen: sozial verträglich gestaltet) und war in 3 Jahresraten zu erheben. Dem stimmten auch die Sozialdemokraten zu, und das war entscheidend.

 

Dass der Wehrbeitrag auf dem Wege über die Sachausgaben der Heeresreform 1913 zu einem guten Teil an die besitzenden Bevölkerungsschichten zurückfloss, sollte nicht unerwähnt bleiben.

 

Liest man im I.  Anlagenband des Reichsarchivs Dokumente aus der Feder des Kriegsministers, so könnte man meinen, die ungünstige Lage der Reichsfinanzen sei ein unvermeidbares Schicksal gewesen. Das trifft nicht zu, und das wußte der Kriegsminister v. Einem auch genau. Die Finanznot des Reiches konnte behoben werden, sofern dafür der politische Wille beim Gesetzgeber vorhanden war. Die besitzenden Schichten im Bürgertum und Adel waren ohne weiteres in der Lage, eine höhere Steuerlast  zu tragen, wollten es aber, soweit politisch in bestimmten Parteien vertreten, nicht. Und auch das wußte der Kriegsminister genau. 

 

General v. Heeringen (Kriegsminister von 1909 bis 1913) und die Heeresorganisation

 

General v. Heeringen (preußischer Kriegsminister von Sept. 1909 bis Juni 1913) kann sich für seine Untätigkeit als Kriegsminister in den Jahren 1910 und 1911, was die Friedensorganisation des Heeres angeht, auf das Reichsschatzamt berufen. Dessen Staatssekretär Wermuth (1909-1912) verlangte ausdrücklich und nachdrücklich, die militärischen Anforderungen an den Reichshaushalt zu begrenzen, und er hatte dabei den Reichskanzler auf seiner Seite. Wenn der Kriegsminister der Aufforderung nicht nachkam, mußte er gewärtig sein, dass ein Teil seiner Anforderungen an den Staatshaushalt gestrichen wurde. Ein Schlaglicht auf die Verhältnisse wirft ein Schreiben des Kriegsministers an den Staatssekretär im Reichsschatzamt vom 17.09.2012. Darin heißt es:

 

"... Étatanmeldung für 1913...

Es wurden nur solche Forderungen eingestellt, die entweder zur Erhaltung der Schlagfertigkeit des Heeres und im Interesse der Landesverteidigung durchaus notwendig oder durch unabweisbare Bedürfnisse bedingt sind. In letzterer Beziehung kommen besonders die  Bauten zur Schaffung ausreichender und in gesundheitlicher Beziehung einwandfreier Unterkunft in Betracht. Die Heeresverwaltung ist seit Jahren in Rücksicht auf die Finanzlage des Reiches genötigt gewesen, viele an sich dringende Neubauten immer wieder zurückzustellen. Dies ist aber auf die Dauer mit Rücksicht auf den baulichen Zustand nicht mehr angängig..."

 

Ein prachtvolles Kaisermanöver und baufällige Kasernen - das war der Zustand des Heeres im Jahre 1912.

 

Dem Reichsschatzamt ging es (seit 1909) um strikte Haushaltsdisziplin und um die Herstellung eines ausgeglichenen Staatshaushalts. Keine Ausgabe ohne Deckung im Haushaltsplan. Dies wurde wesentlich durch eine Reduzierung der Ausgaben für das Heer angestrebt und erreicht. Auch für 1913 strebte das Reichsschatzamt eine Ermäßigung der Anforderungen des Kriegsministers für das Heer an.

 

Eine Heeresverstärkung war durch die Haltung des Reichsschatzamtes nicht ausgeschlossen - aber der Kriegsminister mußte dazu den gesetzlichen Weg einer Heeresvorlage über den Reichskanzler an den Gesetzgeber gehen. Dazu die Initiative zu ergreifen, konnte sich v. Heeringen nicht entschließen. Auf Begeisterung wäre er beim Reichskanzler schwerlich gestoßen, denn dieser mußte dann die Frage der Finanzierung beantworten, und mit einer Gegnerschaft des Reichsschatzamtes mußte er rechnen.

 

Mit der Heeresreform 1912 unternahm v. Heeringen erstmals seit 10 Jahren Maßnahmen  zur Weiterentwicklung der Heeresorganisation. Wie die Finanzierung auf gesetzmäßigem Wege (in den Jahren 1912 und 1913) durchgeführt wurde, ist unklar. Geschah dies aus den Haushaltsüberschüssen der beiden Vorjahre, die sich unerwarteter Weise ergeben hatten? Das Reichsarchiv nennt für 1910 einen Haus- haltsüberschuß von 74 Millionen Mark, und anscheinend war  für 1911 ebenfalls ein Überschuß zu erwarten. Die beabsichtigte Kredit-aufnahme für das Reich 1912 konnte reduziert werden. Für die Heeresreform 1913 ist der  gesetzmäßige Weg ohne weiteres nachzuzeichnen. Im Reichsgesetzblatt 1913 finden sich nacheinander 3 Gesetze: das Heeresgesetz 1913, ein Gesetz zur Feststellung des beigefügten Nachtragshaushalts 1913 des Reiches und das Gesetz über den Wehrbeitrag zur Finanzierung der Kosten der Wehrvorlage.

 

Die Heeresreform stand im Zeichen der Neuaufstellung zweier Divisionen bzw. zweier Armeekorps. Bis zum 31.03.1916 sollte die Friedensstärke des Heeres um 23751Gefreite und Gemeine, 4055 Unteroffiziere und 1387 Offiziere erhöht werden. Inhaltlich hatte die Reform eine Vielzahl von Einzelmaßnahmen zum Gegenstand, insbesondere

Neuaufstellung von 42 Batterien Feldartillerie, davon 24 für die neu aufgestellte 41. und 42. Division bzw. das neu aufgestellte XX. und XXI. Armeekorps, die übrigen im Zusammenhang mit der Schließung von Organisationslücken bei der Artillerie des Bayerischen Heeres,

136 neue Maschinengewehrkompanien, aufgestellt ab 01.10.1913, eine Verdoppe- lung des bisherigen Bestandes

Erhöhung des Präsenzstandes bei einem Teil der Infanterie-Bataillone,

Neuaufstellung je eines Kavallerie- und Infanterieregimentes

Errichtung einer Fliegertruppe (die gänzlich unzureichend war)

und anderes mehr.

Die Heeresreform  1912 führte mithin zu einer Erhöhung der Feuer-kraft des Heeres.

 

Vorgehalten wird v. Heeringen, dass die Initiative zur Heeresreform nicht von ihm ausging - aber sie fand statt. Vorgeworfen wird ihm, diese Reform als ausreichend bezeichnet zu haben - was sie angesichts der militärischen Kräfteverhältnisse in Europa und des bestehenden Investitionsstaus in Wirklichkeit keineswegs war. Das Heeresgesetz 1911 hatte sogar offiziell zu einer Verschlechterung des Heeres geführt: Bei einem Teil der Infanteriebataillone war der Präsenzstand herabgesetzt worden, um eine weitere Erhöhung der Friedenspräsenzstärke des Heeres zu vermeiden. Dagegen wurden im Heer zahlreiche Bedenken geltend gemacht. Dieses Übel wurde mit der Heeresreform 1912 nicht rückgängig gemacht.

 

General v. Heeringen kann sich weiterhin auf sein Schreiben vom 02.12.1912 an den Reichskanzler berufen. Darin führte er dem Kanzler den beim Heer (selbst nach der Heeresreform 1912!) noch vorhandenen Investiitionsstau in Höhe von mehreren hundert Millionen Mark und die zahlenmäßige Unterlegenheit des Deutschen Heeres allein gegenüber Frankreich vor Augen. Leider hat das Reichsarchiv die Anlage zu diesem Schreiben nicht abgedruckt. Sie enthielt eine Zusammenstellung der finanziellen Forderungen des Ministeriums für das Heer in den nächsten Jahren. Vorschläge für eine Heeres-verstärkung mit Kostenangaben finden sich in dem Schreiben v. Heeringens aber nicht.

 

Darin wird in diesem Aufsatz eine Pflichtwidrigkeit gesehen.

 

Es war die Aufgabe des preußischen Kriegsministers, in eigener Verantwortung zu beurteilen, welche Heeresstärke für einen Erfolg im Kriegsfall erforderlich war, und den Reichskanzler entsprechend zu unterrichten. Woher sollte dieser es sonst wissen? Die Entscheidung des Reichskanzlers war dann zu respektieren. Bei v. Heeringen finden sich keine Angaben, welche Heeresstärke er  für erforderlich hielt. Der einzige Offizier, der sich in diesem Punkte festlegte, war der Abteilungsleiter im Generalstab Oberst Ludendorff: für einen siegreichen Ausgang des nächsten Krieges sind mindestens 3 neue Armeekorps erforderlich.

 

Den Stein ins Rollen gebracht zur großen Heeresreform 1913 hat erst die Denkschrift des Generalstabchefs v. Moltke vom 21.12.1912 an den Reichskanzler. In ihrem Teil II wurde ein Programm für eine umfassende Heeresreform skizziert. Ein Bestandteil dieses Programms ist die erwähnte Forderung nach 3 neuen Armeekorps. Moltkes Denkschrift steht im Vordergrund der Aufmerksamkeit, weil sie den Ausschlag zugunsten einer großen Heeresreform gab, und vermutlich auch deshalb, weil sie die umfassendsten Forderungen enthielt. In der Absicht des Reichskanzlers hatte eine derartige Heeresreform nicht gelegen, und in der des Kaisers sicherlich auch nicht.

 

Die Frage ist, ob sich die Auffassungen des Kriegsministers über den Zustand des Heeres und die notwendigen Maßnahmen wirklich grundlegend von denen des Generalstabs unterschieden. Der wesentliche Unterschied dürfte in der vom Generalstab geforderten Neuaufstellung von 3 Armeekorps bestanden haben, von welcher der Kriegsminister nichts wissen wollte. In anderen Punkten bestand eine grundsätzliche Einigkeit. So betont v. Heeringen dem Reichskanzler gegenüber die Notwendigkeit einer Erhöhung der Etatstärken (des Präsenzstandes der Bataillone) bei den Grenzkorps. Da war er sich im Grundsatz mit dem Generalstab einig; Meinungsverschiedenheiten gab es über das Ausmaß, in welchem diese Erhöhung ewrfolgen sollte. Weiterhin forderte Moltke eine generelle Anhebung der Etatstärken, also auch bei den Armeekorps im Inneren des Reiches. Was die übrigen Forderungen des Generalstabs angeht, so ist ein Vergleich mit den Auffassungen des Kriegsministers erschwert, weil diese nicht bekannt sind.

 

Der Reichskanzler hatte bei seiner Entscheidung über eine Heeresvorlage 1913 also zwei Informationsquellen vorliegen - eine Stellungnahme des Kriegsministers und die Denkschrift des Generalstabchefs. In beiden Stellungnahmen wird unabhängig voneinander die zahlenmäßige Überlegenheit des französischen Heeres angesprochen. Die Notwendigkeit einer Heeresvorlage zum 01.10.1913 wird bei v. Heeringen angedeutet, bei v. Moltke unmißverständlich ausgesprochen. Der erstere schätzte deren Kosten auf 200 - 300 Millionen Mark. Was der Generalstabchef forderte, ging offenkundig weit darüber hinaus, auch wenn er keine Summe nannte. Ein Unterschied liegt in der Tonart: Der Kriegsminister führt in seinem Schreiben den Reichskanzler behutsam und schrittweise zu der Notwendigkeit einer Heeresvorlage hin. Von sich aus will der Kriegsminister keine Heeresvorlage veranlassen. Der Generalstabchef hingegen läßt keinen Zweifel daran, dass eine sofortige Heeres-reform für die zukünftige Stärke des Heeres unbedingt erforderlich ist.

 

An der Reaktion v. Heeringens auf die Denkschrift v. Moltkes vom 21.12.1912 erstaunt die Kompromißlosigkeit, mit welcher er die Neuaufstellung von Armeekorps von vornherein ablehnt. Immerhin ging es hier um Sieg oder Niederlage im Kriegsfall. Da hätten Bedenken zurückgestellt und Schwierigkeiten oder Unzulänglichkeiten in Kauf genommen werden müssen. Die Zahlen, die v. Heeringen in einem Akten-vermerk vom März 1913 für den personellen Umfang  einer Neuaufstellung nennt, zeigen, dass zumindest ein einziges Armeekorps ohne weiteres möglich gewesen wäre. Die Erhöhung des Präsenzstandes der Bataillone, wie sie der Generalstabchef forderte, konnte teilweise zurückgestellt werden. Dass v. Moltke zu einem Kom- promiß bereit war, brachte er selbst in seinem Schreiben vom 22. Januar 1913 zum Ausdruck. v. Heeringen kannte v. Moltke gut genug, um zu wissen, dass ein Kompromiß erzielbar war.

 

Einen Hinweis darauf, wo man suchen muß, gibt die Versetzung des Abteilungs-leiters im Generalstab Obersten Ludendorff zur Infanterie, zu der v. Heeringen das Militärkabinett veranlaßte und die bereits zum 27. Januar 1913 wirksam wurde. Ludendorff gilt als der Urheber der Denkschrift (die Abschrift an den Kriegsminister war von ihm paraphiert) und er hatte in den vorangegangenen Wochen den Generalstabchef zu Vorstößen beim Kriegsminister zugunsten einer Heeresvorlage 1913 veranlaßt, jedoch erfolglos. Wenn v. Moltke seine Denkschrift unmittelbar an den Reichskanzler sandte, so war das eine Umgehung des Kriegsministers und eine Folge dessen, dass bei diesem eine Heeresvorlage nicht zu erreichen war. Man kann durchaus der Meinung sein, dass v. Moltke mit dem Programm der Heeres-vermehrung in Teil II der Denkschrift seine Zuständigkeiten überschritt. General Ludendorff rechtfertigte späterhin seine Vorgehensweise damit, dass es um den Erhalt des Volkes ging und daher eine ungewöhnliche Maßnahme geboten war.

 

Mit der Adressierung der Denkschrift an den Reichskanzler stellt sich der General-stabchef gleichberechtigt neben den preußischen Kriegsminister.  Einstmals war der Generalstab eine Abteilung des Kriegsministeriums gewesen, und alle Anforderungen des Generalstabs an den Militärhaushalt waren in einem bestimmten förmlichen Verfahren beim Kriegsminister zu beantragen. Der Generalstabchef hatte sich stets an den Kriegsminister zu wenden. Mit der Berichterstattung unmittelbar an den Reichskanzler bricht der Generalstabchef mit dieser Gepflogenheit und emanzipiert sich vom Ministerium. Der Kriegsminister kann den Generalstab nicht länger blockieren. v. Heeringen reagiert darauf, indem er die Machtfrage stellt - und sich in der Sache durchsetzt, auch wenn er nicht vermeiden kann, für den Reichskanzler eine Heeresvorlage zu erarbeiten.

 

Die Entscheidung v. Heeringens gegen eine Neuaufstellung von Armeekorps war eine verhängnisvolle Fehlentscheidung, die zu einer Ursache für die Niederlage des Deutschen Heeres von 1914 wurde.

 

General v. Falkenhayn als Kriegsminister (1913 - 1915)

 

Der neue Kriegsminister v. Falkenhayn (ab Juli 1913) war in seiner bisherigen beruflichen Laufbahn kaum mit Fragen der Heeresorganisation befaßt gewesen. Zuletzt war er bei der Gestaltung der Kaisermanöver beteiligt. Seine Ernennung galt als eine weitere Überraschungsentscheidung des Kaisers. v. Falkenhayn hatte eine Antwort darauf zu geben, wie die zahlenmäßige deutsche Unterlegenheit im Kriegsfall vermindert oder ausgeglichen werden sollte. Diese Antwort erfolgte nicht. Der Generalstabchef wurde mit dem Problem allein gelassen.

 

Noch mit Schreiben vom 08. Juli 1914 lehnte v. Falkenhayn dem Reichskanzler gegenüber eine Neuaufstellung von Armeekorps vor 1916 ab. Vor Beendigung der Heeresreform 1913 würden sie zu einer Verwässerung und Verschlechterung der Armee führen und seien darum  zwecklos. Außerdem sei Rußland in der Lage, jede zahlenmäßige Vermehrung "bei uns" zu überbieten. Falkenhayn erwähnt das vom Reichskanzler für 1915 beabsichtigte Flotten-bauprogramm und spricht von "der Erhaltung unserer Weltstellung".

 

Wenige Wochen später, nach Kriegsbeginn,  begann das Kriegs-ministerium mit der Aufstellung von 12 neuen Reservedivisionen. Es handelte sich um Improvisationen mit in 8 Wochen notdürftig ausgebildeten Rekruten, also um Einheiten ohne wirklichen Kampf-wert.  Das Ergebnis waren hohe Verluste, aber kein militärischer Erfolg, und dieses Ergebnis war von vornherein zu erwarten gewesen.

 

v. Falkenhayn wußte aufgrund seines Amtes bereits im Frieden, dass ein zukünftiger Krieg mit einer deutschen Niederlage enden konnte. Er wird des Öfteren von Historikern (so z.B. von Niall Ferguson) mit einer Äußerung vom 04. August 1914 zitiert

"Wenn wir auch darüber zugrunde gehen, schön war's doch".

Dieses "Zugrundegehen" war aber keineswegs unvermeidbar, ein entschlossenes und sachgerechtes Handeln des Kriegsministers alsbald nach seinem Amtsantritt vorausgesetzt. Eben dieses Handeln lehnte v. Falkenhayn aber, wie aufgezeigt, noch vor Kriegsausbruch  ab.

 

Schlusswort

Sollte die Katastrophe der Niederlage von 1914 wirklich unvermeidbar gewesen sein?

 

Das Gegenteil war der Fall. Sie bereitete sich über Jahre hinweg vor und ergab sich ohne weiteres aus dem militärischen Kräfteverhältnis in Europa. Das preußische Kriegsministerium unternahm, abgesehen von der Heeres-reform 1912, nichts, um dieses Kräfteverhältnis für das Deutsche Reich weniger ungünstig zu gestalten. Die vorhandenen Möglichkeiten, mit begrenzten Mitteln zu einer Erhöhung von Friedens- und Kriegsstärke des Heeres zu gelangen, wurden nicht genutzt. Es liegt ein Organisations-versagen des Kriegsministeriums, seiner Minister ebenso wie deren Stellvertreter, vor.

 

Wohl selten in der Geschichte ist ein Reich bereits im Frieden mit größerer Leichtfertigkeit - oder soll man sagen: Verantwortungslosigkeit? - und Inkompetenz im militärischen Bereich zugrunde gerichtet worden als das zweite Deutsche Kaiserreich.

 

Kaiser Wilhelm II. hatte alles, was sich ein Herrscher wünschen konnte. Von seinem Großvater hatte er ein Heer  geerbt, dessen Qualität auf  dem europäischen Festland unerreicht war. Es besass hervorragende Offiziere, die für militärische Spitzenämter geeignet waren, tatkräftig und charakterfest. Ein genialer Stratege entwarf einen Aufmarschplan, wie er in seiner Großzügigkeit nur selten in der Militärgeschichte erreicht wurde. Dieser beinhaltete eine Überraschung des Gegners, die kriegsentscheidend sein konnte. In  den letzten Jahren vor dem Krieg unerbreitete ein Generalstabsoffizier Vorschläge zur Heeresorganisation, die das Reich vor dem Untergang bewahren konnten  - aber in entscheidenden Punkten nicht umgesetzt wurden. Derselbe Offizier schlug siegreiche Schlachten - und wurde entmachtet, damit weitere Siege nicht die Unfähigkeit des amtierenden Generalstabchefs, der bereits Mißerfolge zu verzeichnen hatte, offen legen konnten. Wilhelm II. entwickelte im Laufe seiner Regierungszeit ein unfehlbares Geschick darin, ungeeignete Offiziere in die höchsten Führungsämter des Heeres zu berufen. Er richtete zugrunde, was seine Vorgänger in 250 Jahren mühsamer Arbeit aufgebaut hatten.

 

Quellen:

Reichsarchiv, Der Weltkrieg 1914 - 1918

Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, I. Anlagenband

Erster Teil Dokumente

A. Die militärische Rüstung des Reiches

insbesondere Nr. 16, Nr.17, Nr. 19, Nr. 23, Nr. 26, Nr. 29, Nr. 31, Nr. 41, Nr. 45, Nr. 46, Nr. 47, Nr. 51, Nr. 54

Zweiter Teil Anhang

Die Entwicklung der Waffengattungen im Rahmen der deutschen Heeresorganisation

III. Von der Jahrhundertwende bis zum Jahre 1911

IV. Von 1912 bis 1914

Dritter Teil Tabellen und Skizzen

insbesondere Tabelle 21 Rüstungshaushalt

 

Urkunden der Obersten Heeresleitung

herausgegeben von Erich Ludendorff

I. Friedensarbeit insbesondere Nr. 1 und Nr. 9

 

Peter-Christian Witt, "Patriotische Gabe" und "Brotwucher", in:

"Mit dem Zehnten fing es an", Herausgegeben von Uwe Schultz, C.H. Beck München 1986)

 

Julia Cholet, Der Etat des Deutschen Reiches in der Bismarckzeit, Dissertation an  der Universität Leipzig, Berliner Wissenschaftsverlag 2012

 

Gackenholz, Hermann,

"Einem genannt von Rothmaler, Karl Wilhelm George August Gottfried von"

in: Neue Deutsche Biographie 4 (1959), S. 394 f. (Onlinefassung)

 

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© Eckhard Karlitzky