Abschnitt A Einleitung:
Die Entstehung des Deutschen Reichsheeres
A .1.
Im 19. Jahrhundert gab es in Europa fünf Großmächte. Das Königreich Preußen war die schwächste unter ihnen. Sein Aufstieg zu einer Militärmacht, die derjenigen Frankreichs ebenbürtig war, begann am 03. Juli 1866. An diesem Tage erfocht Preußen bei Königgrätz einen überwältigenden Sieg über das Kaiserreich Österreich und das Königreich Sachsen. Mehrere deutsche Staaten hatten sich auf die Seite Österreichs geschlagen und mit ihren Truppen ebenfalls Krieg gegen Preußen geführt. Die Niederlage Österreichs war auch die ihre; weiterer Widerstand war nicht möglich. Nach seinem Sieg annektierte Preußen Schleswig-Holstein, das Königreich Hannover, Nassau und Hessen-Kassel (Kurhessen) sowie Frankfurt/Main. In den eroberten Gebieten bildete Preußen 3 neue Armeekorps mit Generalkommandos in Schleswig (IX. Armeekorps), Hannover (X. Armeekorps) und Kassel (XI. Armeekorps). Zuvor hatte es 9 preußische Armeekorps (Gardekorps und I. bis VIII. Armeekorps) gegeben, nunmehr waren es 12. Die Einfügung in die preußische Armee gelang in erstaunlich kurzer Zeit.
A.2.
Ein zweiter Schritt zur Stärkung der preußischen Militärmacht war die Gründung eines Norddeutschen Bundes, in dem die deutschen Staaten nördlich des Mains zusammengefaßt wurden, durch Preußen. In militärischer Hinsicht geschah dies dadurch, dass Preußen mit den einzelnen Staaten Militärkonventionen abschloß, soweit solche nicht bereits bestanden. Das geschah vorzugsweise im Jahre 1867. Die Truppen der deutschen Kleinstaaten wurden in das preußische Heer und sein Militärsystem integriert. Nunmehr sprach man vom Bundesheer (des Norddeutschen Bundes). Dieses so verstärkte Heer wurde 1870/1871 erweitert und zum preußischen Heeres-Kontingent innerhalb eines gemeinsamen Deutschen Heeres.
Das Königreich Sachsen mußte dem Norddeutschen Bund beitreten. Es kam bereits am 7. Februar 1867 zum Abschluß einer Militärkonvention (abgedruckt vom Reichsarchiv in: Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, I. Anlagenband Teil A Dokument Nr. 1). Preußen hatte sich damit begnügen müssen, da ihm eine Annexion Sachsens aus politischen Gründen unmöglich war, so wünschenswert sie im preußischen Staatsinteresse auch gewesen wäre. Der Inhalt der Miltärkonvention war ungefähr folgender:
Die Königlich Sächsischen Truppen formierten ein in sich geschlossenes Armeekorps nach preußischem Vorbild. Sie bildeten das XII. Armeekorps des Norddeutschen Bundesheeres. Der Verband und seine Gliederung sollten möglichst erhalten bleiben, doch eine Bestandsgarantie wurde nicht gegeben. Die preußischen Reglements für die Ausbildung und Verwendung der Truppen waren ungesäumt zur Anwendung zu bringen. In die innere Verwaltung des Königlich Sächsischen Armeekorps wollte der König von Preußen nicht eingreifen. Sachsen behielt seine eigene Militärverwaltung mit Kriegsministerium. Jedoch "wollte" der König von Sachsen die Ernennung der Kommandos führenden Generale in jedem Einzelfall von dem Einverständnis des Bundesfeldherrn, also des Königs von Preußen und später des Deutschen Kaisers, abhängig machen. Den Kommandierenden General des Sächsischen Armeekorps sollte der König von Preußen ernennen; dem König von Sachsen verblieb nur ein Vorschlagsrecht. An den Einrichtungen des Gesamtheeres einschließlich dem Großen Generalstabe sollte das Königlich Sächsische Armeekorps partizipieren.
Das Heer des Norddeutschen Bundes war dem Frankreichs gewachsen.
- 2 -
A.3.
Der dritte Schritt war der Abschluss von Militärkonventionen mit den süddeutschen Staaten durch Preußen. Er geschah im November 1870, also im Verlaufe des Französisch-Preußischen Krieges 1870. Zuvor hatte es ein Schutz- und Trutzbündnis gegeben. Nach der französischen Kriegserklärung an Preußen am 19. Juli 1870 erklärten die süddeutschen Staaten den Bündnisfall für gegeben und traten mit ihren Truppen an die Seite des Norddeutschen Bundes. Das war ausschlaggebend für den deutschen Sieg. 26 französische Divisionen waren es bei Kriegs-beginn. Ihnen standen nunmehr 33 deutsche Divisionen gegenüber (Reichsarchiv, Kriegs-rüstung und Kriegswirtschaft, Textband, Fußnote auf Seite 38).
Die badischen Truppen wurden unmittelbarer Bestandteil der preußischen Armee als deren XIV. Armeekorps. Sie sollten als ein eigener Großverband innerhalb der preußischen Armee erhalten bleiben. So sagte es die Militärkonvention zwischen Preußen und dem Großherzogtum Baden. Der König von Preußen übernahm alle Rechte und Pflichten des Kontingents- und Kriegsherrn.
Das Königreich Württemberg wahrte die Selbständigkeit seiner Truppen als ein in sich geschlossenes Armeekorps im Deutschen Reichsheer. Es erhielt die Bezeichnung XIII. Armeekorps. Maßgebend waren die preußischen Normen. Die Offiziere und Beamten wurden durch den König von Württemberg bestimmt, der Kommandierende General des XIII. Armeekorps nach vorangegangener Zustimmung des Bundesfeldherrn, also des Königs von Preußen. Auch Württemberg behielt seine eigene Militärverwaltung mit Kriegsministerium.
A.4.
Das Königreich Bayern wahrte seine Unabhängigkeit gegenüber Preußen in sehr entschie-dener Weise. Es schloss keine Militärkonvention ab. Wozu es sich bereit fand, war ein
"Vertrag, betreffend den Beitritt Bayerns zur Verfassung des Deutschen Bundes"
zwischen ihm und dem Norddeutschen Bund, vertreten durch den König von Preußen, der am 23. November 1870 unterzeichnet wurde (Reichsgesetzblatt 1871 Seite 9 ff). Der Vertrag regelte in seinem Teil III. militärische Fragen. Die Bestimmungen der Bundesverfassung – später Reichsverfassung 1871 - über das Kriegswesen erleiden Beschränkungen. Die dafür einschlägigen Artikel 61 bis 68 gelten für Bayern nicht. Sie werden durch Bestimmungen des Beitritts-vertrags ersetzt. Die Kernbestimmungen lauteten:
"Das Bayerische Heer bildet einen in sich geschlossenen Bestandteil des Deutschen Bundesheeres mit selbständiger Verwaltung unter der Militärhoheit Seiner Majestät des Königs von Bayern, im Kriege - und zwar mit Beginn der Mobilisierung - unter dem Befehl des Bundesfeldherrn.
In bezug auf Organisation, Formation, Ausbildung und Gebühren, dann hinsichtlich der Mobilmachung wird Bayern volle Übereinstimmung mit den für das Bundesheer bestehenden Normen herstellen.
Bezüglich der Bewaffnung und Ausrüstung sowie der Gradabzeichen behält sich die Königlich Bayerische Regierung die Herstellung der vollen Übereinstimmung mit dem Bundesheer vor."
Artikel 57 Allgemeine Wehrpflicht und Artikel 60 Dauer des Wehrdienstes gelten hingegen auch für Bayern, ebenso Artikel 58 Lasten und Kosten des Kriegs-wesens, dieser jedoch mit einem Zusatz.
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Es sollten nur die Militärgesetze des Bundes – den man später Reich nannte – für Bayern maßgebend sein. Diese werden allerdings im Regelfalle den preußischen Verhältnissen bzw. Vorschriften entsprochen haben. Im Ergebnis lief es vermutlich auf eine Angleichung an diese hinaus.
Die Bayerischen Armeekorps, Divisionen und Regimenter führten selbstverständlich wie bisher ihre eigene Nummerierung.
Für die Kosten des Bayerischen Heeres wurde ihm vom Reich eine Quote an dessen Militärausgaben pauschal überwiesen. Sie entsprach dem Anteil der Heeresstärke Bayerns an der des gesamten Reichsheeres. Dem Bundesrat wie dem Reichstag war lediglich die Überweisung dieser Summe an Bayern nachzuweisen. Alles andere war Sache Bayerns.
A.5.
Artikel 63 Absatz 1 der Reichsverfassung 1871 lautete:
Die gesamte Landmacht des Reiches wird ein einheitliches Heer bilden, welches in Krieg und Frieden unter dem Befehl des Kaisers steht.
Dies ist wie folgt zu kommentieren:
Die Bestimmung errichtete ein rechtliches Dach über einem bereits bestehenden gemein-samen Heer deutscher Staaten, das aus vier Kontingenten bestand. Grundlage des Heeres waren die Militärkonventionen Preußens bzw. des Norddeutschen Bundes mit den einzelnen Bundesstaaten. Sie hatten dauerhaften Bestand bis zum Untergang des Deutschen Kaiser-reiches 1918/1919. Sie wurden nicht durch die Reichsverfassung von 1871 ersetzt. Im Gegenteil waren die Bestimmungen der Reichsverfassung in bestimmten Bundesstaaten nur unter Berücksichtigung der jeweiligen Militärkonvention anzuwenden. Für das Heer des Königreichs Bayern galt dessen Bundesvertrag, siehe vorstehend A.4. Es stand nur im Kriegsfall unter dem Befehl des Kaisers.
A.6.
Das preußische Heereskontingent im Deutschen Reichsheer umfaßte alle Bundesstaaten, mit Ausnahme von Bayern, Sachsen und Württemberg, sowie das Reichsland Elsaß-Lothringen. Nach dem Friedensschluß mit Frankreich errichtete Preußen in Straßburg das XV. Armeekorps.
Das preußische Heer bzw. das Königreich Preußen beanspruchte für sich eine Vorbild- und Führungsfunktion gegenüber den anderen Bundesstaaten. Nach den tatsächlichen Verhält-nissen nahm der preußische Kriegsminister gegenüber seinen Kollegen in Dresden und Stuttgart sowie München eine überragende Stellung ein.
Die Gliederung des Deutschen Heeres im Südwesten des Reiches entsprach den getroffenen vertraglichen Vereinbarungen. Sie war nicht militärisch bestimmt. Zum Königreich Bayern gehörte damals die Pfalz. Folglich war das II. Bayer. Armeekorps aufgespalten. Die 4. Bayer. Division stand in Unterfranken, die 3. Bayer. Division in der Pfalz. Dazwischen lag ein preußischer Korpsbezirk. Die 8. Bayer. Brigade stand in der Festung Metz, mithin in einem preußischen Korpsbezirk. Der Bezirk des XIV. Badischen Armeekorps deckte sich mit dem Staatsgebiet des Großherzogtums Badens, der Bezirk des XIII. Württ. Armeekorps mit dem des Königreichs Württemberg.
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Abschnitt B. Aufbau der Heeresorganisation:
Das Reichsmilitärgesetz vom 2. Mai 1874 (Reichsgesetzblatt 1874 Seite 45) – Auszug –
B.1. Ursprüngliche Fassung
§ 2 Absatz 2
In der Regel wird
bei der Infanterie aus drei Bataillonen,
bei der Kavallerie aus fünf Eskadrons,
bei der Artillerie aus 2-3 Abteilungen bzw. Bataillonen
ein Regiment formiert.
§ 3
Zwei oder drei Regimenter werden zu einer Brigade,
zwei oder drei Brigaden der Infanterie und Kavallerie zu einer Division vereinigt.
Aus zwei bis drei Divisionen
mit den entsprechenden Artillerie-, Pionier- und Train-Formationen
wird ein Armeekorps gebildet,
derart, dass die gesamte Heeresmacht des Deutschen Reiches im Frieden
aus 18 Armeekorps besteht.
Zwei Armeekorps werden von Bayern, je eines von Sachsen und Württemberg
aufgestellt, während Preußen gemeinschaftlich mit den übrigen Staaten 14 Armeekorps formiert.
Für je drei bis vier Armeekorps besteht eine Armee-Inspektion.
§ 5
Das Gebiet des Deutschen Reiches wird in militärischer Hinsicht
in 17 Armeekorps-Bezirke eingeteilt.
Unbeschadet der Souveränitätsrechte der einzelnen Bundesstaten sind die Kommandierenden Generale die Militärbefehlshaber in den Armeekorps-Bezirken.
B.2. Gesetzliche Änderungen hinsichtlich der Anzahl der Armeekorps und der Korpsbezirke:
ab 1. April 1890
gab es 20 Armeekorps und 19 Korpsbezirke
ab 1. April 1899
gab es 23 Armeekorps und 22 Korpsbezirke
ab 1. Oktober 1912
gab es 25 Armeekorps und 24 Korpsbezirke
Die Korpsbezirke und ihre Entwicklung sind zu ersehen aus vier Skizzen, die das Reichsarchiv in seinem Werk "Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, I. Anlagenband" auf den Seiten 531 ff. abbildet.
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B.3. Änderungsgesetz vom 25. März 1899
Die Artillerie wird in Feldartillerie und Fußartillerie aufgespalten
und zwischen Divisionen und Armeekorps aufgeteilt.
Der neue Wortlaut des § 3 ab 1. April 1899, soweit geändert:
„ Zwei oder drei Regimenter werden zu einer Brigade,
zwei oder drei Brigaden der Infanterie und Kavallerie
unter Zuteilung der nötigen Feldartillerieformationen
zu einer Division vereinigt.
Aus zwei bis drei Divisionen
mit den erforderlichen Fußartillerie-, Pionier- und Train-Formationen
wird ein Armeekorps gebildet, …..
B.4. Zur Erläuterung scheinen einige Anmerkungen angebracht:
Das Armeekorps war die höchste Organisationseinheit im Frieden. Es wurde von einem Kommandierenden General befehligt. Er unterstand allein dem Kaiser, nicht dem Kriegs-minister, und besaß das Recht zum unmittelbaren Sachvortrag bei Seiner Majestät. Anders war es in Bayern: Dort unterstanden die Armeekorps dem Kriegsministerium.
Die Differenz von einem Armeekorps zwischen der Anzahl der bestehenden Armeekorps und den Armeekorps-Bezirken ist durch das preußische Gardekorps veranlasst, das keinen eigenen Armeekorps-Bezirk hatte (und außerdem eine eigene Nummerierung der Regimenter und Divisionen!). Es erhielt ausgesuchte Mannschaften und Unteroffiziere aus allen Korpsbezirken zugeteilt. Dies stieß auf Kritik: man nehme dadurch den Truppen ihre besten Leute weg. Man solle stattdessen lieber die Garde abschaffen….
Dass ein Armeekorps oder eine Division zu einem bestimmten Zeitpunkt neu aufgestellt oder gebildet wird, bedeutet nicht, dass die darin zusammengefassten Einheiten alle zu eben jenem Zeitpunkt neu aufgestellt worden wären. Die Aufstellung einer Einheit konnte bereits früher erfolgt sein oder zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt werden. Das ist im Einzelfall zu untersuchen.
Die Bevölkerungszahl des Deutschen Reiches stieg von (fast) 43 Millionen im Jahr 1875 auf 65 Millionen im Jahr 1910, also um mehr als die Hälfte, an. Die Zahl der Armeekorps blieb da-hinter zurück. Bei einer Vermehrung der Armeekorps um die Hälfte hätten es vor Beginn des 1. Weltkriegs 27 Armeekorps sein müssen. Die Wirtschaftsleistung des Reiches war in diesem Zeitraum im Zuge seiner Industrialisierung um ein Mehrfaches gewachsen. Sie hätte ohne weiteres ausgereicht, um eine derartige Vermehrung zu ermöglichen.
Den Armee-Inspektionen stand ein Armee-Inspekteur vor. Seine Aufgabe bestand darin, bestimmte Armeekorps zu inspizieren. Darüber berichtete er auf dem Dienstweg und forderte gegebenenfalls Abstellung von Mängeln. Befehlsgewalt über die zu inspizierenden Armee-korps besaß er nicht. Für den Kriegsfall waren die Armee-Inspekteure als Armee-Ober-befehlshaber vorgesehen.
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Abschnitt C. Heeresorganisation:
Taktische Einheiten (Wortwahl des Reichsarchivs)
Die Grundeinheiten, aus denen die höheren Einheiten und Verbände zusammengefügt wurden, nennt das Reichsarchiv taktische Einheiten (Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, Textband, Seite 5). Sie sind in § 2 Absatz 1 des Reichsmilitärgesetzes vom 2. Mai 1874 aufgeführt. Dies waren Bataillone, Eskadrons und Batterien, siehe vorstehend B.1.
Die Anzahl der taktischen Einheiten war bzw. wurde gesetzlich festgelegt. Dies geschah in eigenen Heeresgesetzen bzw. seit dem Heeresgesetz 1899 im alljährlichen Reichshaushalts-Etat. Die Anzahl beeinflußte die Friedenspräsenzstärke des Heeres. In den Heeresgesetzen wurde zuerst in § 1 oder § 2 die Friedenspräsenzstärke und sodann in § 2 oder § 3 die Anzahl der taktischen Einheiten geregelt.
Der Übersichtlichkeit halber erfolgt die Darstellung der Friedens-präsenzstärke in einem späteren Abschnitt.
C.1. Stand vor Kriegsbeginn 1914
Die gesetzlichen Zielsetzungen, die bis 31. März 1916 zu erreichen waren, ergeben sich zuletzt aus dem Heeresgesetz 1913 (Reichsgesetzblatt 1913 Seite 496):
Infanterie 669 Bataillone
Kavallerie 550 Eskadrons
Feldartillerie 633 Batterien
Fußartillerie 55 Bataillone
Pioniere 44 Bataillone
Verkehrstruppen 31 Bataillone
Train 26 Bataillone
Der jeweils erreichte Stand der Zielsetzungen ergab sich aus dem alljährlichen Reichs-haushalts-Etat. Nach der Aufstellung des Reichsarchivs (Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, I. Anlagenband, Tabelle 17 Seiten 506/507) waren zum 1.10.1913 bei der Fußartillerie erst 48 Bataillone vorhanden, bei den Pionieren 35, bei den Verkehrstruppen 28, beim Train 25 Bataillone. Eine Reihe von Einheiten war noch im Ausbau begriffen.
C.2. Geschichtlicher Rückblick
Für den Zeitraum vom 1. Januar 1875 bis zum 31. Dezember 1881 (Septennat) war die Anzahl der taktischen Einheiten im Reichsmilitärgesetz (Reichsgesetzblatt 1874 Seite 45 – 64) als von Beginn an bestehend festgelegt gewesen:
„Die Infanterie wird formiert in 469 Bataillonen,
die Kavallerie in 465 Eskadrons,
die Feldartillerie in 300 Batterien, von welchen je 2-4 eine Abteilung bilden;
die Fußartillerie in 29,
die Pioniertruppe und der Train in je 18 Bataillonen.“
Das zweite Septennat lief vom 1. April 1881 bis zum 31. März 1888, wurde dann jedoch um ein Jahr verkürzt. Spätere Änderungsgesetze folgten in unregelmäßigen Abständen.
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C.3. Auch die Zusammensetzung der taktischen Einheiten war in § 2 Absatz 1 des Reichs-militärgesetzes vom 2. Mai 1874 geregelt:
„Die Bataillone haben in der Regel vier, die des Trains zwei bis drei Kompagnien“.
Die Anzahl der Geschütze je Batterie war anscheinend nicht gesetzlich festgelegt.
C.4. Hierzu sind einige Anmerkungen veranlaßt:
Infanterie
Im Verlaufe der Heeresverstärkung 1893 war es zur Aufstellung von Regimentern mit nur zwei anstelle von drei Bataillonen gekommen. Die Aufstellung der dritten Bataillone erfolgte aus finanziellen Gründen zum größten Teil erst in den Jahren 1912/1913. Es handelte sich dabei um eine bewußte Beschränkung aus politischen Gründen. 1912 wurde zur Ergänzung vorhandener Verbände in Sachsen ein Infanterieregiment mit drei Bataillonen neu aufgestellt.
Neuaufstellungen, die über die Schließung der Lücken hinausgingen, erfolgten nicht. Notwendig gewesen wären 42 weitere Bataillone.
Ein zusätzlicher Personalbedarf entstand durch die Einführung von Maschinengewehr-Kompanien. Diesem Bedarf wurde erst 1913 in dem notwendigen Ausmaße entsprochen. Die Einführung der Kompanien erfolgte im Vergleich zum Ausland verspätet und in zu geringer Anzahl. Um hier aufzuholen, verdoppelte Kriegsminister v. Heeringen im Jahr 1913 ihre Anzahl.
Feldartillerie
Die Verdoppelung der Batterien-Anzahl springt ins Auge. Sie zeigt die steigende Bedeutung dieser Waffe. Bereits im Kriege 1870 war die Feldartillerie die ausschlag-gebende Waffe gewesen. Die Schaffung neuer Feldartillerie-Formationen in Frankreich führte ab 1890 zur Aufstellung neuer Feldartillerie-Batterien in Deutschland. Mit dem Heeresgesetz 1899 wurden zusätzlich zu den bisherigen Kanonen-Batterien Batterien leichter Feldhaubitzen eingeführt. Auch nach 1899 verblieben Lücken in der Artillerie der Heeresorganisation.
Einheitlichkeit und Vollständigkeit in der Organisation der Feldartillerie wurde erst im Laufe des Jahres 1913 durch Kriegsminister v. Heeringen (1909 - 1913) hergestellt, jedoch allein für die 50 Friedens-Divisionen. In den Jahren 1904 bis 1911 war keine Neuaufstellung von Batterien vor-genommen worden (Kriegsminister v. Einem). Dies geschah erst in den Jahren 1912 und 1913. Im letzteren Jahr wurden außerdem teilweise Kanonen-Batterien auf leichte Feldhaubitzen umgestellt. Bei Kriegsausbruch 1914 gab es für die 50 Friedens-Divisionen 450 fahrende Kanonen-batterien und 150 Batterien leichter Feldhaubitzen, jeweils zu 6 Geschützen. Hinzu kamen 33 reitende Kanonen-Batterien zu je 4 Geschützen.
Fußartillerie
In der Ausstattung mit schwerer Artillerie war das deutsche Feldheer allen anderen Armeen überlegen.
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Lange Zeit hatten bei einigen Einheiten Lücken in der Friedensorganisation bestanden. Sie wurden in den Jahren 1912 und 1913 durch eine Vermehrung der Feldhaubitzen um 16 Batterien bzw. 9 Batterien geschlossen (Steigerung von 165 auf 190 Batterien).
Die Anzahl der Geschütze je Batterie war im Zuge der Umstellung auf Rohrrück-laufgeschütze von 6 auf 4 herabgesetzt worden. Eine Vermehrung der Anzahl der Batterien, um diese Verminderung auszugleichen, fand nicht statt.
Die Vermehrung um 6 Bataillone für die neu geplanten Ostfestungen, die 1913 bewilligt worden war, wurde vor 1914 nicht mehr umgesetzt.
Pioniere
Mit einem bedarfsgerechten Ausbau, wie ihn Colmar v.d. Goltz im Jahr 1900 gefordert hatte, wurde erst 1913 begonnen. In den Jahren dazwischen waren einzelne Bataillone neu aufgestellt worden.
Verkehrstruppen
Verkehrstruppen gab es 1874 noch nicht (mit Ausnahme eines Eisenbahn-Bataillons). Sie kamen erst im Laufe der technischen Entwicklung hinzu. Die Zusammenfassung der verschiedenartigen technischen Einheiten zu Verkehrstruppen (amtlich: Inspektion des Militär-Verkehrswesens, später General-Inspektion) erfolgte im Jahr 1899. Zu ihnen gehörten Eisenbahn- und Kraftfahrtruppen, Telegraphentruppen sowie Luftschiffer- und Fliegertruppen.
Für eine neuzeitliche Kriegführung waren die Verkehrstruppen unentbehrlich. Sie erhielten jedoch nicht die Förderung durch das Kriegsministerium, die ihrer zukünftigen Bedeutung entsprochen hätte. Die Eisenbahntruppen waren nicht in dem erforderlichen Maße vermehrt worden. Eine Nutzbarmachung des Flugzeugs für militärische Zwecke wurde jahrelang abgelehnt und erst ab 1911 zögerlich in Angriff genommen. Der Ausbau der Telegraphentruppen wurde jahrelang verschleppt. Der Ausbau der Kraftfahrtruppen war unbefriedigend, Lastkraftwagen wurden nicht in größerem Umfang angeschafft.
Ein bedarfsgerechter Ausbau aller Bereiche wurde erst 1913 auf Verlangen des Generalstabs in die Wege geleitet (Steigerung von 18 auf 31 Bataillone als Zielsetzung). Das deutsche Heer von 1914 war in technischer Hinsicht nicht auf der Höhe der Zeit.
Train
Das Nachschubwesen des deutschen Heeres war über viele Jahre hinweg als völlig unzureichend erkannt worden, ohne dass daraus Folgerungen gezogen worden wären. Mit einer Besserung wurde erst im Jahr 1913 begonnen. Jedes Armee-korps verfügte über ein Train-Bataillon. Das war schon 1875 so gewesen. Bisher umfaßte ein Bataillon 3 Kompanien, jetzt wurde die Zahl auf 4 erhöht. Eine weitere Erhöhung auf 5 Kompanien sowie Personal-verstärkungen sollten in den Jahren 1914/15 erfolgen. Es erfolgte eine Umbenennung der Kompanien in Eskadrons, ohne dass sich in der Sache dadurch etwas änderte. Ein weiterer Ausbau war für die Jahre vom 1. April 1916 bis zum 31. März 1921 angedacht. Der tatsächliche Bedarf lag etwa bei 8 Kompanien bzw. Eskadrons.
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Abschnitt D.
Die Heeresorganisation und das Budgetrecht des Gesetzgebers
D.1. Geschichtliche Entwicklung
Die Heeresorganisation war gesetzlich festgelegt, was die Anzahl der taktischen Einheiten, die Grundzüge der Gliederung und die Anzahl der Armeekorps anging. Das verstand sich im 19. Jahrhundert nicht von selbst. Zur Zeit des fürstlichen Absolutismus war die Heeresorganisation allein Sache des Fürsten. Nach der französischen Revolution 1789 kam in den Staaten Deutschlands die Forderung nach einer politischen Mitbestimmung des Bürgertums durch gewählte Parlamente auf. Dies galt erst recht nach der Niederringung Napoleons. Sie hatte von Preußen ungeheure Opfer an Menschenleben gefordert, die außer Verhältnis zu seiner Einwohnerzahl standen. Die Herrscher waren aber nicht bereit, derartigen Forderungen nachzugeben, weder der Kaiser von Russland, welcher Preußens einziger Verbündeter auf dem Wiener Kongreß von 1815 war, noch der Kaiser von Österreich oder der König von Preußen. Nach der Revolution von 1848 war in Preußen die Entwicklung zu einer Verfassung mit gesetzgebenden Körperschaften nicht mehr aufzuhalten. Das Ergebnis war die Preußische Verfassung von 1850 und ein preußischer Landtag als Gesetzgeber in Preußen.
D.2. Die Konfliktszeit in Preußen 1861 - 1866
Im preußischen Abgeordnetenhaus, der zweiten Kammer des Landtags, wurde – wie auch in anderen Parlamenten – sehr rasch das Budgetrecht – also das Recht zur Bestimmung des Staatshaushalts - und das Recht der Steuerbewilligung – als ein Mittel erkannt, den Einfluß des Parlaments zu Lasten des Monarchen und seiner Regierung auszuweiten.
Der Regent (seit 1858) und spätere König (seit 1861) Wilhelm I. von Preußen beabsichtigte eine Heeres-verstärkung. Darüber und über die hierfür erforderlichen Geldmittel kam es in den Jahren 1861 bis 1866 zu einem Konflikt zwischen ihm und dem preußischen Abgeordnetenhaus. Der Regent bzw. König fand in Otto v. Bismarck einen Ministerpräsidenten, der seine Militärvorlage gegen das Abgeordnetenhaus in die Tat umsetzte. Das Herrenhaus, die erste Kammer des Landtags, stand auf der Seite der Regierung.
Der Erfolg auf dem Schlachtfeld von Königgrätz am 3. Juli 1866 bestätigte die Richtigkeit der königlichen Militärpolitik. Bei den Neuwahlen zum Abgeordnetenhaus an demselben Tage gab es einen Erdrutsch zugunsten der konservativen Parteien. Es kam zu einem Friedensschluß zwischen dem Abgeordnetenhaus und der Regierung. In der Indemnitäts-vorlage kam diese nachträglich um die Bewilligung der Rüstungsausgaben ein, und das Abgeordnetenhaus entsprach dem. Es bestand aber auf seinem verfassungsmäßigen Budgetrecht und die Regierung mußte dies anerkennen.
D.3. Heeresorganisation und Budgetrecht
Bei der Reichsgründung fanden die geschichtlichen Erfahrungen und Entwicklungen ihren Niederschlag in Artikel 62 letzter Absatz der Reichsverfassung 1871. Er bestimmte:
„Bei der Feststellung des Militär-Ausgabe-Etats wird die auf Grund dieser Verfassung gesetzlich feststehende Organisation des Reichsheeres zu Grunde gelegt.“
Aus Sicht der Reichsleitung bestand die Gefahr, dass der Reichstag bei der alljährlichen Budgetfeststellung – dem Reichshaushaltsetat – Abstriche an der Heeresorganisation vornahm. Er berief sich dabei auf sein Budgetrecht, und das war in der Verfassung
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verankert. Einschlägige Erfahrungen hatte die Reichsleitung in der Zeit des Norddeutschen Bundes gemacht. Um dies zu vermeiden, hatte sie nur den Ausweg gesehen, die Heeresorganisation gesetzlich festlegen zu lassen. Dadurch band sich der Gesetzgeber selbst. In Artikel 62 letzter Absatz wurde dies mit Verfassungsrang festgestellt.
Klarzustellen ist, dass der Militär-Ausgabe-Etat Bestandteil des Reichshaushaltsetats war. Dies war in der damaligen Zeit jedermann klar. Wer sich davon überzeugen will, der möge im Reichsgesetzblatt die Gesetze über den Reichshaushaltsetat ab dem Jahr 1875 und den ihnen als Anlage beigefügten Etat nachlesen.
Für eine Übergangszeit sah Artikel 71 der Reichsverfassung 1871 vor, dass
der nach Titeln geordnete Etat
über die Ausgaben für das Heer dem Bundesrat und dem Reichstag nur zur Kenntnis-nahme und zur Erinnerung vorzulegen war. Die Übergangszeit endete zum 31.12. 1874.
Eine Ausgliederung der Ausgaben aus dem Reichshaushaltsetat war das nicht.
Ab dem Haushaltsjahr 1875 war der nach Titeln geordnete Etat wieder dem Gesetzgeber zur Beschlußfassung vorzulegen.
D.4. Heeresgesetze und Budgetrecht
Es kam zur Festsetzung der taktischen Einheiten in eigenen Heeresgesetzen, erstmals, wie aus den Ausführungen in C.1. ersichtlich, im Reichs-militärgesetz vom 2. Mai 1874.
Heeresorganisation und Friedenspräsenzstärke des Heeres wurden jeweils in e i n e m Gesetz geregelt. Dadurch wurde dem Umstand Rechnung getragen, dass die beiden mili-tärischen Größen untereinander in Wechselbeziehung standen. Sie wurden in getrennten Paragraphen geregelt.
Die Festlegung erfolgte für einen mehrjährigen Zeitraum und galt jeweils vom Beginn des Zeitraums an. Darüber kam es wiederholt zu heftigen innenpolitischen Kontroversen. Die Reichsleitung wollte aus militärischen Gründen einen mehrjährigen Zeitraum, der Reichs-tag pochte auf sein Budgetrecht und forderte eine alljährliche Feststellung der Heeres-organisation. Die Festlegung auf sieben bzw. später fünf Jahre war ein Kompromiß. Er wurde im Reichstag wiederholt in Frage gestellt.
Im Heeresgesetz 1899
„Gesetz, betreffend die Friedenspräsenzstärke des deutschen Heeres vom 25. März 1899“, Reichsgesetzblatt 1899 Seite 213-214
nahm der damalige preußische Kriegsminister Heinrich v. Goßler einen militärischen und rechtlichen Systemwechsel vor. Das Heeresgesetz galt zwar wie bisher für einen mehr-jährigen Zeitraum. Es legte die Anzahl der taktischen Einheiten aber nicht mehr vom Beginn an fest, sondern nannte verbindliche Zielsetzungen, die bis zum Ende des Zeitraums zu erreichen waren.
Die Feststellung der Anzahl blieb dem alljährlichen Reichshaushaltsetat vorbehalten.
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Es war also der Gesetzgeber, der bestimmte, wann die Zielsetzungen erreicht werden sollten. Besonders deutlich wird dies bei der Heeresvorlage 1905. Die Reichsleitung hatte für den Zeitraum vom 01. April 1905 bis zum 31. März 1910 die Aufstellung von 28 Eskadrons Kavallerie vorgesehen. Der Reichstag entschied, dass in diesem Zeitraum lediglich 18 Eskadrons aufgestellt werden sollten. Die restlichen 10 Eskadrons sollten im Laufe des Jahres 1910 aufgestellt werden.
Die Mehrzahl der Abgeordneten des Reichstags war der Auffassung, dass durch den jetzt eingeschlagenen Weg dem Budgetrecht des Gesetzgebers in ausreichendem Maße Rechnung getragen sei.
Ein jahrelanger Streit zwischen Reichsleitung und Reichstag hatte durch einen Kompromiß sein Ende gefunden.
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Abschnitt E.
Heeresorganisation - Der Kaiser
Die Reichsverfassung von 1871 sagt in Artikel 63 Absatz 4:
„Der Kaiser bestimmt … die Gliederung und Einteilung der Kontingente des Reichsheeres sowie die Organisation der Landwehr, und hat das Recht, innerhalb des Bundesgebietes die Garnisonen zu bestimmen ….“
Anmerkungen des Aufsatzverfassers:
E.1.
Der Kaiser bestimmt
Die Verfassungsbestimmung ist ausschließlich militärischer Natur. Sie verleiht dem Kaiser keine politischen Rechte. Die politischen Entscheidungen hinsichtlich des Heeres trifft allein der Reichskanzler. Er ist es, der bei Änderungen in der Heeresorganisation die erforderlichen Planstellen für Offiziere und die erforderlichen Sachmittel beim Gesetzgeber zu beantragen hat. Der Kaiser muss sich daher stets zuvor an den Reichskanzler wenden.
Innerhalb des Heeres bestimmt allein der Kaiser als Oberbefehlshaber. Er hat die Kommandogewalt. Er bestimmt, wie das Heer zusammengesetzt wird, ob ein Regiment zwei oder drei Bataillone hat, wieviele Regimenter, Brigaden und Divisionen es geben soll, ob eine Brigade zwei oder drei Regimenter hat, aus welchen bestehenden Einheiten Divisionen neu gebildet werden sollen und dergleichen mehr. Der Kaiser ist dabei jedoch an die Gesetze gebunden, insbesondere an die Festlegungen des Reichsmilitärgesetzes. Bei der Gestaltung der Kriegsformation hat er weitgehend freie Hand. Auch hier umfasst sein Bestimmungsrecht aber nicht die Ausstattung und Ausrüstung der Einheiten.
E.2.
Artikel 63 Absatz 3 der Reichsverfassung gab dem Kaiser eine Richtschnur an die Hand, an der er sein Verhalten auszurichten hatte:
„Der Kaiser hat die Pflicht und das Recht, dafür Sorge zu tragen, daß innerhalb des Deutschen Heeres alle Truppenteile vollzählig und kriegstüchtig vorhanden sind und daß Einheit in der Organisation und Formation … sowie in der Qualifikation der Offiziere hergestellt und erhalten wird…“
An Befugnissen räumte diese Bestimmung dem Kaiser ein Inspektionsrecht und ein Anordnungsrecht, die vorgefundenen Mängel abzustellen, ein.
Im deutschen Heer von 1914 bestand keine Einheit in der Organisation und Formation. Das galt sowohl für die Friedensgliederung als auch für die Kriegsformation. Die Herstellung der Einheit durch organisatorische Maßnahmen hätte dem Heer zusätzliche Kampfverbände gebracht und seine Kampfkraft erhöht.
- 11 a -
Kaiser Wilhelm II. hat seiner Pflicht nicht genügt. Der organisatorische Rahmen des Heeres war unzureichend. Das ließ sich im Kriegsfall nicht nachholen. Improvisationen hatten keinen vergleichbaren Wert wie eingeübte Friedens-Strukturen. Dabei ist wohlgemerkt nicht von einer gigantischen Heeresvermehrung die Rede, sondern von einer durchaus beschränkten Anzahl von Divisionen und Armeekorps.
Kaiser Wilhelm II. hätte die Möglichkeit gehabt, zusätzliche organisatorische Strukturen zu schaffen. Er hätte auf seine verfassungsmäßige Pflicht verweisen und die militärischen Erfordernisse politisch offensiv vertreten können. Sein erster Ansprechpartner wäre der Reichskanzler gewesen. Stimmte dieser zu, so genügte gegenüber dem Kriegsminister ein Befehl.
In Wirklichkeit hat Kaiser Wilhelm II. die weitere organisatorische Entwicklung des Heeres nicht nur unterlassen, sondern sie im Befehlswege gegenüber dem Kriegsminister verhindert. Er handelte entgegen der Reichsverfassung 1871, indem er den Reichskanzler überging. Kaiser Wilhelm II. ist für die Niederlage von 1914 persönlich verantwortlich. Diese Verantwortung hat er sich selbst niemals eingestanden.
- 12 -
E.3.
Soweit sich der Kaiser an die Gesetze hielt, war der Gesetzgeber gehalten, ihm die erforderlichen Planstellen für Offiziere, Ärzte und Beamte im Reichshaushaltsetat zur Verfügung zu stellen. Der Gesetzgeber hatte die Heeresgliederung in diesem Rahmen als den Zuständigkeitsbereich des Kaisers zu respektieren. Dass diese Planstellen der Feststellung durch den Reichshaushaltsetat unterliegen, wird in § 4 letzter Absatz des Reichs-militärgesetzes vom 2. Mai 1874 ausdrücklich gesagt. Von den Planstellen zu unterscheiden ist die tatsächlich vorhandene Anzahl, die sich erst im Nachhinein für jedes Jahr feststellen läßt.
Die Ernennung der Offiziere, Ärzte und Beamten erfolgte nicht durch den Kaiser, sondern durch die Könige der Bundesstaaten bzw. der Senate, deren Kontingent betroffen war. So sagte es Artikel 66 der Reichsverfassung 1871. Ausnahmen von dieser Regel enthielt Artikel 64 der Reichsverfassung 1871. Die Könige können so viele Offiziere ernennen wie sie es für richtig halten – aber der Weg zu Dienstbezügen führt nur über die Planstellen, die der Gesetzgeber ihnen bewilligt. Ein Ausweg für den König besteht darin, Offiziere in Ehren-stellungen zu befördern.
E.4.
Die Gesetze ließen eine wesentliche Frage offen. Der Kaiser konnte ja nicht allein handeln. Er brauchte Offiziere, die ihm Vorschläge machten und/oder seine Wünsche umsetzten. Wer dies sein sollte, dazu sagten die Gesetze nichts. Von Kaiser Wilhelm II. ist zu berichten, dass er sich ein „Kabinettsystem“ einrichtete. Den militärischen Bereich deckte ein Militär-kabinett ab, dessen Chef der Kaiser frei auswählte. Ihn machte er zu seinem ständigen Berater ("Vortragender General-Adjutant") und räumte ihm dadurch einen überragenden Einfluß auf seine Entscheidungen ein. Das ging weit über die eigentliche Zuständigkeit des Militärkabinetts hinaus.
Wie die Entscheidungen des Kaisers zustande kamen, blieb Außenstehenden verborgen. Zum entscheidenden Kriterium für die Besetzung der beiden militärischen Spitzenpositionen des Kriegsministers und des Generalstabchefs wurde die Loyalität gegenüber der Person des Kaisers. Ein Offizier, den Seine Majestät für befähigt hielt, oder den das Militärkabinett als befähigt ausgab, galt damals für wirklich befähigt. Tatsächlich hat eine verfehlte Besetzung der militärischen Ämter des Kriegsministers und des Generalstabchefs das Reich in den Untergang gestürzt.
Das Reichsarchiv nennt das Militärkabinett ein „Organ“ der Kommandogewalt des Kaisers und Königs (Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, Textband Seite 8). Es habe erst Anfang der achtziger Jahre eine Immediatstellung erhalten. Es allein war für die Bearbeitung der Personalfragen des Heeres zuständig. Diese wäre eigentlich eine Aufgabe des Kriegsministeriums gewesen. Die Übertragung auf das Militärkabinett war ein Rückschritt in die Zeit des fürstlichen Absolutismus, die den Offizier rechtlos stellte. Eine rechtliche Verantwortlichkeit des Militärkabinetts ist nicht erkennbar.
Die Alternative hätte darin bestanden, vor der Besetzung der Spitzenpositionen die Armee anzuhören. Der Kaiser konnte sich von den Generälen Vorschläge machen lassen, wen diese als
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den geeignetsten Bewerber ansahen, und dann seine Auswahl treffen. Eine Gewähr dafür, dass man so die geeignetste Persönlichkeit gefunden hätte, wäre dies nicht gewesen. Aber es wäre ein transparentes Verfahren gewesen, das persönliche Beweggründe weitgehend ausschloss. Beim Militärkabinett war dies nicht der Fall.
E.5.
Das Heer verfügte über zahlreiche Fachbehörden, namentlich in Gestalt der Inspekteure und General-Inspekteure. Es gab sie für jede Waffengattung. Sie erstellten Berichte und Denkschriften. Man darf sie wohl als einen Ausfluss der Kommandogewalt des Kaisers auffassen. Ihm waren sie verantwortlich, nicht dem Kriegsministerium. Durch sie kam es innerhalb des Heeres zu einer Erörterung militärischer Sachfragen, die oftmals kontrovers verlief. Ein Beispiel aus der Tätigkeit eines General-Inspekteurs soll im folgenden gegeben werden.
Das Reichsarchiv (Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, I. Anlagenband, Zweiter Teil, Anhang) zitiert aus einer Denkschrift, die Colmar v.d. Goltz als General-Inspekteur des Ingenieur- und Pionierkorps und der Festungen in einer „eingehenden“ Denkschrift vom 7. Mai 1900 niederlegte:
„Seine Forderungen umfaßten:
„… Seine Vorschläge (scheiterten schließlich) an dem Widerstande des Kriegsministeriums, dessen Gründe, hauptsächlich finanzieller und organisatorischer Art, sich auch der Generalstab zu eigen machte…“
Es gab in diesem Heer eine Streitkultur, die gegensätzliche Standpunkte zuließ. Diese Streit-kultur dürfte einen wesentlichen Beitrag zu dem hohen Qualitätsstandard des Heeres von 1914 geleistet haben. Dass die Vorschläge der Inspekteure am Kriegsministerium scheiterten, war indessen keine Seltenheit und hatte bisweilen gravierende Nachteile zur Folge.
E.6.
Der Generalstab war das Werkzeug, dessen sich der Kaiser im Kriegsfall bediente, um das Heer zu führen. Vom Kaiser hing es ab, welches Ausmaß an Selbständigkeit bzw. welchen Spielraum er dabei seinem Generalstabchef einräumen wollte. Man sprach vom Großen Hauptquartier seiner Majestät des Kaisers (Oberste Heeresleitung). An deren Spitze stand der Kaiser selbst. Der Generalstabchef wird als erster unter den Offizieren aufgeführt, die zu diesem Großen Hauptquartier gehörten. Staatsrechtlich war der Reichskanzler der Obersten Heeresleitung übergeordnet (Ludendorff, Meine Kriegserinnerungen, Der Entente-Ansturm im Herbst 1916, VI. Fußnote auf Seite 206).
Für die Tätigkeit des Generalstabchefs im Frieden ist eine andere Rechtsgrundlage als die Kommandogewalt des Kaisers nicht ersichtlich. Das machte ihn von dessen Person
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abhängig. Unter Kaiser Wilhelm II. hatte der Generalstabchef die schwächste Stellung im Vergleich mit dem Kriegsminister und dem Chef des Militärkabinetts. Man kann den Eindruck gewinnen, dass der neue Generalstabchef v. Moltke ab 1. Januar 1906 eben aus dem Grunde in dieses Amt berufen wurde, weil der Kaiser ihn als seinen Gefolgsmann und als von sich abhängig ansah. Eine unabhängige Persönlichkeit wie Colmar v.d. Goltz, dessen politische Inkorrektheit bekannt und gefürchtet war, wollte Wilhelm II. nicht haben.
Die rechtliche Beziehung des Generalstabchefs zum preußischen Kriegsminister war ungeklärt. Einstmals war der Generalstab eine Abteilung des preußischen Kriegs-ministeriums gewesen. Er hatte aber organisatorisch verselbständigt werden müssen, da er im Laufe der Jahre zu einer umfangreichen Behörde mit mehreren Abteilungen herangewachsen war. Betrachtet man den Reichshaushalts-Etat 1914, so liegen die Ausgaben für Generalstab und Landesvermessungswesen über denen der Kriegs-ministerien.
Was die Verselbständigung des Generalstabs in rechtlicher Hinsicht bedeutete, blieb indessen offen. Erreicht worden war nur eine Immediatstellung des Generalstabchefs. Das bedeutete keine Änderung, was die Abhängigkeit von der Person des Kaisers angeht. In der Handhabung der Beziehung zwischen Kriegsminister und Generalstabchef wurde keine Änderung vorgenommen. Der Generalstab wurde weiterhin als preußischer Generalstab und dem Kriegsministerium nachgeordnet behandelt. Von einer Gleichberechtigung war keine Rede. Besonders problematisch war es, dass der Generalstabchef bei der Kriegs-formation des Heeres kein Mitspracherecht hatte.
Mit der Reichsgründung war die personelle Zusammensetzung des Generalstabs dadurch verändert worden, dass er jetzt auch Offiziere aus den Kontingenten der anderen Bundesstaaten in sich aufnahm. Insoweit könnte man nunmehr von einem deutschen Generalstab sprechen. Dafür spricht auch, dass er seine Planungen für den Kriegsfall auf das gesamte Reich und das gesamte Heer zu erstrecken hatte. Es war aber bei der Gepflogenheit geblieben, dass der Generalstab seine Stellungnahmen, Anträge und Vorschläge beim preußischen Kriegsminister einzureichen hatte. Was dieser damit anfing, lag allein bei ihm.
Der Reichsverfassung von 1871, die von einer Gleichberechtigung der Bundesstaaten und ihrer Heereskontingente ausging, entsprach dies nicht. Richtig wäre es gewesen, wenn sich der Generalstabchef an den Reichskanzler zu wenden gehabt hätte. Dessen Aufgabe wäre es dann gewesen, mit den Kriegsministerien aller Bundesstaaten Verbindung aufzunehmen und die Äußerungen des Generalstabchefs im Ausschuss des Bundesrates für das Landheer in Gegenwart des Generalstabchefs zu beraten. Die Entscheidung hätte der Reichskanzler zu treffen gehabt.
So, wie die tatsächliche Handhabung war, blieb das Heerwesen eine vorzugsweise preußische Angelegenheit, unter weitgehender Ausschaltung des Reichskanzlers.
E.7.
Das Recht des Kaisers, die Garnisonen innerhalb des Bundes- bzw. Reichsgebietes zu bestimmen, wurde durch die Militärkonventionen Preußens mit den anderen Bundes-staaten eingeschränkt bzw. aufgehoben. In Bayern bestimmte allein dessen König.
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Abschnitt F.
Präsenzstand der Heereskontingente
Die Reichsverfassung von 1871 sagte in Artikel 63 Absatz 4:
„Der Kaiser bestimmt den Präsenzstand … der Kontingente des Reichs-heeres….
F.1.
Der Präsenzstand der Kontingente wurde nicht unmittelbar durch kaiserliche Weisung bestimmt, sondern ergab sich als eine Folge des Präsenzstandes der in ihnen enthaltenen taktischen Einheiten (zu ihnen siehe Abschnitt C). Diese hatten im Frieden nur einen Teil ihrer Kriegsstärke, eben den sogenannten Präsenzstand oder die Étatstärke. Ihn bzw. sie bestimmte der Kaiser. Das war ein Gestaltungsrecht. Wollte der Kaiser den Präsenzstand der Einheiten erhöhen, so erhöhte er dadurch auch den Präsenzstand der Kontingente, also die Friedenspräsenzstärke des Heeres – und dazu brauchte er die Zustimmung des Gesetzgebers. Wurde ihm diese verweigert – das war beim Heeresgesetz 1899 der Fall -, so konnte er von seinem Gestaltungsrecht keinen Gebrauch machen.
F.2.
Der Präsenzstand der Grundeinheiten - taktischen Einheiten - im Frieden unterlag Änderungen. Ein Beispiel soll für die Infanterie-Bataillone gegeben werden:
Friedens-Etatstärken = Präsenzstand seit 1911
Es gab 3 unterschiedliche Etatstärken:
Hoher Etat:
18 Offiziere, 3 Beamte, 73 Unteroffiziere, 568 Mann
(zuvor waren es 22 Offiziere gewesen)
(93 Bataillone, im Jahr 1912 erhöht auf 212 Bataillone)
Mittlerer Etat:
18 Offiziere, 3 Beamte, 65 Unteroffiziere, 506 Mann
(326 Bataillone, im Jahr 1912 vermindert auf 207 Bataillone)
Niedriger Etat (neu eingeführt 1911):
18 Offiziere, 3 Beamte, 65 Unteroffiziere, 486 Mann
(196 Bataillone)
Friedens-Etatstärken = Präsenzstand nach der Heeresverstärkung 1913
Es gab nur noch 2 unterschiedliche Etatstärken:
Neuer Niedriger Etat:
19 Offiziere, 3 Beamte, 73 Unteroffiziere, 568 Mann
(354 Bataillone, bisher 212)
entspricht dem bisherigen Hohen Etat
Neuer Hoher Etat:
19 Offiziere, 3 Beamte, 79 Unteroffiziere, 640 Mann
(297 Bataillone)
ist neu eingeführt
F.3.
Mit dem Heeresgesetz 1913 wurden die Friedens-Étatstärken bei allen Einheiten angehoben. Das geschah auf Anforderung des Generalstabs. Über ihre Notwendigkeit bestand Einvernehmen mit dem Kriegsminister. Dieser hatte, wie oben ersichtlich, bei einem Teil der Bataillone - es handelte sich um Truppen an der Reichsgrenze - den
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Präsenzstand bereits im Jahr 1912 angehoben. Für ihn war es eine Frage der verfügbaren Geldmittel, was machbar war. Lediglich über das Ausmaß der Anhebungen kam es zu Meinungsverschiedenheiten mit dem Generalstab. Das Ergebnis war ein vertretbarer Kompromiß.
F.4.
Um einen Vergleichsmaßstab zu erhalten, wird noch die Kriegs-Etatstärke (Sollstärke) mit-geteilt. Sie war seit 1902 unverändert bis 1914 und betrug bei den Infanterie-Bataillonen
26 Offiziere (einschließlich Sanitätsoffiziere und obere Beamte)
82 Unteroffiziere (einschließlich Unterbeamte)
920 Mann (teilweise Reservisten)
52 Mann Sanitäts- und Trainpersonal
Mit der Erhöhung der Friedens-Etatstärken im Jahr 1913 stieg die Zahl der Unteroffiziere bei den Bataillonen des neuen hohen Etats auf die Kriegs-Etatstärke an bzw. sollte ansteigen. Das bedeutet, dass die Last der Ausbildung auf ihnen ruhte. Eine höhere Friedens-Etatstärke der Mann-schaften hielt der Kriegsminister nicht für angebracht, da eine ordnungs-gemäße Ausbildung dann nicht mehr gewährleistet sei.
Eine Erhöhung der Anzahl der Offiziere je Bataillon war mit der Anhebung des Präsenzstandes nur in geringem Maße verbunden. Die Behauptung, dass die Anhebung wegen Offiziersmangels nicht durchführbar gewesen sei, ist daher unzutreffend. Die Schwierigkeit lag in der Beschaffung der Unteroffiziere.
F.5.
Ein hoher Präsenzstand der taktischen Einheiten im Frieden ermöglichte einen hohen Ausbildungsstand und steigerte ihre Qualität für den Kriegseinsatz.
Die Absenkung des Präsenzstandes im Jahr 1911 bei einem Teil der Einheiten war eine Qualitätsverschlechterung des Heeres. Dadurch sollte Personal für die Errichtung von Maschinengewehrkompanien gewonnen werden. Ansonsten hätte man die Friedenspräsenzstärke des Heeres weiter steigern müssen. Das war politisch unerwünscht. Die Maßnahme stieß im Heer auf Kritik. Dass der Kaiser dazu seine Zustimmung gab, war ungewöhnlich. Denn die qualitative Überlegenheit der deutschen Truppen beruhte auf einem hohen Präsenzstand, und daran zu rütteln, war bedenklich.
Mit der Anhebung des Präsenzstandes Im Jahr 1913 bei allen Einheiten wurden die Absenkungen des Jahres 1911 rückgängig gemacht. Das war eine Qualitätssteigerung des Heeres. Die Reichsgrenzen wurden in erhöhtem Maße gesichert und die Mobilmachung der dort stationierten Armeekorps erleichtert. Der Gesetzgeber stimmte der dafür erforderlichen Erhöhung der Friedenspräsenzstärke zu. Die Maßnahmen waren bei Kriegsbeginn 1914 erst teilweise durchgeführt.
F.5.
Die Erhöhungen des Jahres 1913 hätten in den Jahren ab 1916 zu einer Erhöhung der Anzahl der ausgebildeten Reservisten geführt. Mit ihnen hätten sich die Reservedivisionen verjüngen lassen. Aus Mangel an Reservisten bestanden sie bei Kriegsbeginn teilweise aus Landwehr, also älteren Jahrgängen an gedienten Wehrpflichtigen. Das hätte sich ändern lassen. Außerdem wäre die Bildung weiterer Reservedivisionen möglich geworden.
Die Zahlen sind den einschlägigen Tabellen des Reichsarchivs in „Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, I. Anlageband, Dritter Teil, Tabellen und Skizzen“ entnommen.
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Abschnitt G.
Die Friedenspräsenzstärke des Heeres
Die Reichsverfassung 1871 bestimmte in Artikel 60 Satz 2:
„Die Friedenspräsenzstärke des Heeres (wird) im Wege der Reichsgesetzgebung festgestellt.“
Kriegsstärke und Friedensstärke des Heeres sind zu unterscheiden. Im Frieden standen die Einheiten des Heeres nur mit einem Teil ihrer Mannschaftsstärke unter Waffen, siehe vorstehend Abschnitt F. Präsenzstand. Im Kriegsfall wurden die Einheiten durch Reservisten auf Kriegsstärke gebracht. Nach dem damaligen Sprachgebrauch rechneten nicht zur Friedens-präsenzstärke:
G.1. Stand vor Kriegsausbruch 1914
Die Zielsetzung, die bis 31. März 1916 zu erreichen war, ergab sich zuletzt aus dem Heeresgesetz 1913 (Reichsgesetzblatt 1913 Seite 496). Davon zu unterscheiden ist die tatsächliche Friedensstärke in einem bestimmten Jahr. Das Reichsarchiv schreibt (Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft; Textband Seite 198):
„Die tatsächliche Friedensstärke des Deutschen Heeres betrug im Winter 1913 rund
29000 Offiziere
105800 Unteroffiziere
599200 Mann (außer rund 16000 Einjährig-Freiwilligen)
Danach betrug im Verhältnis zu der im Jahr 1913 vorhandenen Einwohnerzahl Deutsch-lands in Höhe von 67 Millionen
die eigentliche Präsenzstärke des Heeres (nur Mannschaften) rund 0,9 Prozent,
die Heeresstärke (einschließlich Unteroffizieren, Einjährig-Freiwilligen) rund 1,08 Prozent
die gesamte Kopfstärke des Heeres (einschließlich Offizieren, Sanitäts-Offizieren usw.) rund 1,15 Prozent.
Insgesamt – einschließlich der Marine mit rund 79000 Köpfen – standen rund 1,22 % der damaligen Einwohnerzahl unter den Fahnen.“
Das Heeresgesetz 1913 war also vor Kriegsausbruch 1914 erst teilweise umgesetzt worden. „Insgesamt war die Sollstärke vom 1. Oktober 1913 ab auf 30459 Offiziere, 107794 Unteroffiziere, 647793 Mann festgesetzt worden… die Mannschaftsstärke konnte erst nach Einstellung eines zweiten erhöhten Rekrutenjahrgangs, voll demnach erst im Herbst 1914 erreicht werden.“
- 18 -
Nach dem Heeresgesetz 1913 sollte bis zum 31. März 1916 die Mannschaftsstärke auf 661.478 steigen. Die Ursache der Abweichung gegenüber dem Reichsarchiv ist dem Aufsatz-verfasser nicht bekannt.
G.2. Geschichtliche Entwicklung
G.2.1.
Grundlage des Heeres war die allgemeine Wehrpflicht, Artikel 57 der Reichs-verfassung 1871. Sie gab dem Staat die Befugnis, alle wehrfähigen Männer nach Maßgabe der Gesetze zum Dienst im Heer heranzuziehen. Eine Verpflichtung des Staates, tatsächlich alle Männer heranzuziehen, bestand nicht. Es wurde nur der Teil der Wehrpflichtigen zum Heer eingezogen, der für die jeweiligen militärischen Einheiten benötigt wurde. Die Losnummer entschied, wen diese Verpflichtung traf.
Die Dauer des Grundwehrdienstes betrug bei Reichsgründung 3 Jahre. 1893 wurde dieser bei der Infanterie und der fahrenden Artillerie auf 2 Jahre reduziert, bei der Kavallerie und der reitenden Artillerie verblieb es bei 3 Jahren. Im Jahr 1893 wurden 235.000 Rekruten eingezogen, im Jahr 1913 waren es 340.000 (Einjährig Freiwillige jeweils nicht eingerechnet). Zu keiner Zeit im Frieden seit der Reichsgründung 1871 wurden alle wehrfähigen Männer tatsächlich eingezogen.
G.2.2.
Es bestanden Meinungsverschiedenheiten zwischen der Reichsleitung und dem Reichstag, was die Formulierung „im Wege der Reichsgesetzgebung“ in Artikel 60 Satz 2 der Reichsverfassung 1871 bedeute.
Eine in der Exekutive vertretene Auffassung sah in der Bestimmung die Berechtigung, die Friedenspräsenzstärke auf Dauer in einem eigenen Heeresgesetz festzulegen (sogenanntes Aeternat, wie es später die Kriegsmarine erhielt).
Die Mehrheit der Abgeordneten des Reichstages war der Meinung, die Feststellung "im Wege der Reichsgesetzgebung" könne durch das Haushaltsgesetz – dem der Reichshaushalts-Etat als Anlage beigegeben war – erfolgen, und das Budgetrecht des Gesetzgebers verlange genau dies.
Als Kompromiß kam es zwar zur Festsetzung in einem eigenen Heeresgesetz, erstmals im Reichsmilitärgesetz vom 2. Mai 1871, jedoch nur für einen Zeitraum von sieben Jahren. Die Kritik aus dem Reichstag wollte aber nicht verstummen.
G.2.3.
Die Reichsverfassung von 1871 hatte als Übergangsregelung bis zum 31. Dezember 1871 die Friedenspräsenzstärke auf 1 % der Bevölkerung von 1871 normiert. In den Heeresgesetzen der Folgezeit wurde die Präsenzstärke stattdessen in einer bestimmten Zahl ausgedrückt, so erstmals in dem
„Gesetz, betreffend die Friedenspräsenzstärke des deutschen Heeres und die Ausgaben für die Verwaltung desselben für die Jahre 1872, 1873 und 1874“
vom 9. Dezember 1871 (Reichsgesetzblatt 1871 Seite 411) mit und sodann für die weiteren sieben Jahre in § 1 des Reichsmilitärgesetzes vom 2. Mai 1874. Die beiden Gesetze stimmten inhaltlich überein. § 1 des Reichsmilitärgesetzes lautete:
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„Die Friedenspräsenzstärke des Heeres an Unteroffizieren und Mannschaften beträgt für die Zeit vom 1. Januar 1875 bis zum 31. Dezember 1881 401 659 Mann.“
Das Reichsarchiv schlüsselt diese Zahl wie folgt auf:
Unteroffiziere 53.956
Gemeine und Gefreite 347.703
Summe 401.659
Als Maßstab für die Bemessung diente die 1 %-Marke aus der Reichsverfassung. Es war eine willkürliche Festlegung, keine militärische. Das Heer sollte auf die personelle und finanzielle Leistungsfähigkeit der Menschen des Reiches Rücksicht nehmen.
An der 1 %- Angemessenheitsgrenze für die Summe von Unteroffizieren und Mannschaften wurde in der Folgezeit festgehalten. Da die Bevölkerungszahl anstieg, stieg in den weiteren Heeresgesetzen auch die Friedens-präsenzstärke an. Im Heeresgesetz 1890 wurde sie auf 486983 Mann festgestellt. Davon waren 65001 Unteroffiziere und 421982 Gemeine und Gefreite.
G.2.4.
Erstmals mit der Heeresverstärkung 1893 wurde die Marke von 1 % überschritten, wenn man Unteroffiziere und Mannschaften zusammenrechnete. Das tat der Gesetzgeber des Jahres 1893 aber nicht. Im Heeresgesetz 1893
„Gesetz, betreffend die Friedenspräsenzstärke des deutschen Heeres vom 3. August 1893“, Reichsgesetzblatt 1893 Seite 233-235
wurden die Unteroffiziere aus der Friedenspräsenzstärke herausgenommen. Für sie sollte es zukünftig Planstellen im Reichshaushalts-Etat in derselben Weise geben wie für die Offiziere. Das ermöglichte eine jährliche Neufestsetzung, wie sie der Reichstag wünschte. Im Heeresgesetz wurde nur noch die Anzahl der „Obergefreiten, Gefreiten und Gemeinen“ als Jahres-durchschnittsgröße festgestellt. Sie betrug nunmehr 479229 Mann und lag damit unter 1 % der Bevölkerung.
Diese Verfahrensweise blieb für die Zukunft maßgebend.
Soweit in der Begründung zu den Heeresgesetzen die Zahl der Unteroffiziere zukünftig genannt wird, diente dies als Orientierung über die Absichten der Heeres-verwaltung und hatte keine rechtliche Verbindlichkeit.
G.2.5.
In dem Heeresgesetz 1899 nahm der damalige preußische Kriegsminister Heinrich v. Goßler einen militärischen und rechtlichen Systemwechsel vor. Dies wurde bereits in Abschnitt D.4. auf Seite 10 für die takktischen Einheiten dargestellt. Das Heeresgesetz galt zwar wie bisher für einen mehrjährigen Zeitraum. Es legte die Friedenspräsenzstärke aber nicht mehr vom Beginn an fest, sondern beschränkte sich auf eine verbindliche Zielsetzung, die „allmählich“ bis zum Ende des Zeitraums zu erreichen war.
Die jährliche Feststellung der Friedenspräsenzstärke blieb dem Reichshaushaltsetat vorbehalten.
Die Mehrzahl der Abgeordneten des Reichstags war der Auffassung, dass durch den jetzt eingeschlagenen Weg dem Budgetrecht des Gesetzgebers in ausreichendem Maße Rechnung getragen sei. Eine langjährige Auseinandersetzung zwischen Reichsleitung und Reichstag mündete in einen Kompromiß.
- 20 -
G.2.6.
An der 1 %-Marke als Orientierungsgröße für die Friedenspräsenzstärke des Heeres wurde bei der Festlegung der Heeresgesetze nach 1893 festgehalten, nur dass sich die Marke jetzt ausschließlich auf die Mannschaften bezog. Zugrunde gelegt wurden im Regelfalle die Ergebnisse der letzten Volkszählung.
Auch nach 1900 nahm die Bevölkerung des Reiches weiterhin in erheblichem Umfange zu. Eine Anpassung der Anzahl der Wehrpflichtigen im Grundwehrdienst an die steigende Einwohnerzahl fand jedoch nicht mehr statt. Das Heereswachstum wurde bewußt aus politischen Gründen beschränkt. Die Friedens-präsenzstärke richtete sich nicht nach dem militärischen Bedarf, sondern nach der vom Kriegsminister, den verbündeten Regierungen und auch vom Reichstag behaupteten Beschränktheit der finanziellen Leistungsfähigkeit des Reiches.
Im Jahr 1899 – nach dem Heeresgesetz 1899 – lag der Anteil der Wehrpflichtigen im Heer an der Gesamtbevölkerung bei 0,95 %, im Jahr 1905 nur noch bei 0,9 %. So steht es in der amtlichen Begründung der Heeresvorlage 1905
Anlage Nr. 502 zum
Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Friedenspräsenzstärke des deutschen Heeres
dem Reichstag zugeleitet am 22. November 1904
zuzuordnen den Reichstagsprotokollen vom 3. Dezember 1904
Bei der nächsten Heeresverstärkung im Jahr 1911 betrug der Anteil 0,849786 % der Bevölkerung des Jahres 1905, war also weiterhin gesunken.
Eine neue Volkszählung fand im Jahr 1910 statt. Ihre Ergebnisse waren erstmals bei der Heeresverstärkung im Jahr 1912 verfügbar. Es wurde eine Erhöhung der Mannschaftsstärke zur Anpassung an die Bevölkerungsentwicklung vorgenommen. Die Zielsetzung bestand in einer Erhöhung um fast 29000 Wehrpflichtige bis zum 31. März 1916. Das führte zu einem Anteil von 0,838202 % der Bevölkerung des Jahres 1910. In der amtlichen Begründung des Heeresgesetzes 1912, in der diese Zahlen genannt werden,
Anlage Nr. 352 zum
Entwurf eines Gesetzes zur Ergänzung des Gesetzes über die Friedens-präsenzstärke
des deutschen Heeres vom 27. März 1911 und des Besoldungs-gesetzes
dem Reichstag zugeleitet am 15. April 1912
zuzuordnen den Reichstagsprotokollen vom 22. April 1912
heißt es wörtlich: „Die Verhältnisse bleiben also im wesentlichen gleich“. Genauer gesagt: Trotz der Heeresverstärkung war der Anteil an der Gesamtbevölkerung weiterhin gesunken.
Stellt man weiterhin auf die Volkszählung von 1910 ab, so wäre durch die drastische Erhöhung der Mannschaftsstärke im Heeresgesetz 1913 bis zum 31. März 1916 die 1 % - Marke knapp überschritten worden. Zum Jahresende 1913 war dies noch nicht der Fall.
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G.2.7.
Ein heutiger Betrachter mag fragen, wie hoch der Anteil der Wehrpflichtigen, die zum Grundwehrdienst herangezogen wurden, im Verhältnis zur Gesamtzahl der taug-lichen Wehrpflichtigen war. Im Kaiserreich sah man keinen Anlass, sich darüber Gedanken zu machen. Man begnügte man sich mit der Feststellung, dass jährlich einige zehntausend unausgebildete Wehrpflichtige der Ersatzreserve über-wiesen wurden, also eine ausreichende Anzahl vorhanden sei. Die Gesamtzahl der tauglichen Wehrpflichtigen war daher nicht bekannt.
Man konnte Berechnungen nur auf der Grundlage der Gesamtzahl aller Wehrpflichtigen anstellen. Eine Schätzung des Generalstabs lautete, dass bisher 52 bis 54 % aller Wehrpflichtigen eingezogen wurden. Durch die Heeresverstärkung 1913, wie sie der Kriegsminister veranlaßte, sollte der Prozentsatz auf überschlägig 58 bis 59 % angehoben werden. So sagte es der Leiter des Allgemeinen Kriegsdepartments im Kriegsministerium, Franz Wandel, vor dem Reichstag am 9. April 1913. Unterstelllt man dies als zutreffend, so war das eine vernünftige Größenordnung, da ein gewisser Prozentsatz der Wehrpflichtigen wegen körperlicher oder geistiger Mängel nicht eingezogen werden konnte.
G.2.8.
Das Bemühen des Reichstags, die periodisch wiederkehrenden Erhöhungen der Friedenspräsenzstärke möglichst gering zu halten – dem Kriegsminister v. Einem entsprach – war militärisch verfehlt. Niemand konnte wissen, wie hoch der Bedarf an aus-gebildeten Wehr-pflichtigen in einem Zukunftskrieg sein würde. Vorsorge war geboten. Erhöhungen der Präsenzstärke wirkten sich erst nach Ablauf mehrerer Jahre aus. Kurzfristig nachholen ließ sich die Ausbildung im Bedarfsfalle, namentlich im Kriegsfalle, nicht. 1914 mußten dann in Schnellkursen notdürftig unterwiesene Wehrpflichtige an die Front. Sie waren „Kanonenfutter“.
Bei angemessenen rechtzeitigen Erhöhungen hätten bei Kriegsausbruch 1914 ohne weiteres 100000 ausgebildete Wehrpflichtige mehr zur Verfügung stehen können. Angemessen wäre die Erhöhung des Jahres 1899, wie sie Kriegsminister v. Goßler wollte, gewesen, angemessen war die Erhöhung des Jahres 1912. Die Erhöhung des Jahres 1905 war es nicht. Die Argumentation, das Reich sei zu einer angemessenen Erhöhung finanziell nicht in der Lage gewesen, war lächerlich. Denn zusätzliche Wehrdienstleistende waren ein nur unwesentlicher Kostenfaktor.
G.2.9.
Es sei noch ein Hinweis auf die Unteroffiziere gestattet. Sie waren das Rückgrat der Armee. Ihre Regeldienstzeit betrug 12 Jahre. Das 12. Dienstjahr war ein Schuljahr zur Vorbereitung auf einen möglichen Dienst in einer Zivilverwaltung. Bei guter Führung erhielt der Unteroffizier einen Zivilversorgungsschein. Um freiwerdende Stellen in der Zivilverwaltung musste er sich bewerben; eine Wahlfreiheit bestand nicht. Wer sich nicht bewarb, mußte damit rechnen, seiner Rechte verlustig zu gehen. Die Unteroffiziere waren vorrangig vor anderen Bewerbern zu berück-sichtigen.
Die Behauptung, in der preußischen Zivilverwaltung herrsche ein militärischer Umgangston, hatte also eine gewisse Berechtigung. Es war der Umgangston, den die Herren gewohnt waren.
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Abschnitt H. Der preußische Kriegsminister
Das preußische Kriegsministerium war die oberste Verwaltungsbehörde des preußischen Heereskontingents und die zentrale Verwaltungsbehörde des Reichsheeres. Befehls- und Kommandogewalt über die Armeekorps des Heeres hatte er nicht.
Woraus ergeben sich die Befugnisse des Kriegsministeriums und seines Ministers?
H.1.
Preußen war nach der Verfassung von 1850 eine konstitutionelle Monarchie. Die Regierungsakte des Königs bedurften zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung des zuständigen Fachministers, der dadurch die Verantwortung übernahm. Das galt auch für den Kriegsminister. Er war Mitglied des preußischen Staatsministeriums, also Regierungsmitglied. Daraus ergab sich seine Zuständigkeit und Verantwortlichkeit für das preußische Heer.
Die Verantwortlichkeit des Kriegsministers für das preußische Heer wurde durch die Reichsgründung nicht aufgehoben. Sie erstreckte sich nunmehr auf das gesamte preußische Heereskontingent. In der Reichs-verfassung 1871 wurde das Bestehen von vier Kontingenten als Bestandteile des Reichsheeres vorausgesetzt. Sie enthielt gemeinsame Vorschriften für dieses, die von den Kriegsministern zu beachten waren.
Für die militärische Stärke des Deutschen Reiches war das preußische Heereskontingent ausschlaggebend. Im Gegensatz zum Jahr 1870 war es im Jahr 1914 unzureichend ausgebaut. Die Folge war eine zahlenmäßige Unterlegenheit des Deutschen Heeres im Westen wie im Osten (Zweifrontenkrieg). Durch die Herstellung einer einheitlichen Heeres-organisation hätte sie vermindert werden können. Dies geschah jedoch nicht.
H.2.
Der preußische Kriegsminister nahm seit der Reichsgründung 1871 nach den tatsäch-lichen Verhältnissen die Aufgaben eines Reichskriegsministers wahr.
Das Reichsarchiv sieht eine geschichtliche Entwicklung (Kriegsrüstung und Kriegswirt-schaft, Textband, Seite 6/7). Mit der Schaffung eines Bundesheeres (des Norddeutschen Bundes) seien dem König von Preußen militärische Aufgaben als Bundesfeldherr zugewachsen. Zu deren Erledigung habe er sich an sein Kriegsministerium gewandt.
Mit der Reichsgründung 1870/71 tauchte die Frage eines Reichs-kriegsministers auf. Nach Sachlage kam dafür nur der preußische Kriegsminister in Frage. Es hätte nahe gelegen, ihm in der Reichsverfassung 1871 die Aufgaben eines Reichskriegsministers zu über-tragen. Indessen hätten andere Bundesstaaten darin eine Beeinträchtigung ihrer staat-lichen Souveränität erblicken können. Das wollte Reichskanzler Otto v. Bismarck vermeiden. Ein Reichskriegsminister wurde nicht installiert. Man beließ es bei dem tatsächlich bestehenden Zustand, sodass ein rechtlicher Schwebe-zustand bestehen blieb. Der preußische Kriegsminister hatte seine Tätigkeiten nach pflichtgemäßem Ermessen wahrzunehmen – aber dem Deutschen Reiche gegenüber war er aus verfassungsrechtlicher Sicht weder verpflichtet noch verantwortlich.
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H.3.
Es waren zahlreiche Aufgaben, die einem Reichskriegsminister obgelegen hätten und nun vom preußischen Kriegsminister wahrgenommen wurden. Dazu gehörten die Militärplanung für das Gesamtheer, die Erstellung des jährlichen Haushaltsvoranschlags (unter Zusammenfassung der Voranschläge für Preußen, Sachsen und Württemberg), die Vorbereitung der Heeresvorlagen an den Gesetzgeber, die Militär-gesetzgebung für das Reich, die Vertretung des Heeres gegenüber den gesetzgebenden Körperschaften, die Bestimmung der Friedensgliederung ebenso wie der Kriegsformation, die Bearbeitung der Mobilmachung des Reichsheeres und anderes mehr. Der Kriegsminister war auch der Ansprechpartner und der Gesprächspartner für die Fachbehörden des Heeres ebenso wie für den Generalstabchef.
Einer besonderen Betrachtung bedarf die Vertretung des Heeres vor den gesetzgebenden Körperschaften durch den Kriegsminister. Dieser war von vornherein in die Haushaltsberatungen eingebunden, weil man von ihm wissen wollte, wie hoch der Ausgabenbedarf des Heeres zu veranschlagen sei. Die militärische Begründung der Heeresvorlagen, die der Reichs-kanzler in das Gesetzgebungsverfahren einbrachte, war seine Aufgabe. Im Regelfalle war er es, der vom preußischen König zum preußischen Bevollmächtigten zum Bundesrat ernannt wurde. Er sollte im Bundesrat die Stimmen abgeben, die Preußen zustanden. Auf diese Weise wurde der Kriegsminister an der Heeresgesetzgebung beteiligt.
Das Reichsarchiv sah es so, dass der Kriegsminister in Wirklichkeit die Vertretung des Heeres vor den gesetzgebenden Körperschaften als Stellvertreter des Reichskanzlers wahrgenommen habe (Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, Textband Seite 7). In der Zeit des Reichskanzlers Bernhard v. Bülow (1900 bis 1909) wurde der Kriegsminister v. Einem (1903 bis 1909) zu einer Art Neben-Reichskanzler, was das Heer anbelangt. Bezeichnend dafür ist die Anrede, die v. Bülow in einem Schreiben vom 1. Juni 1906 an den Kriegs-minister wählte:
„Hochverehrter Freund und Kollege!“
Auch der weitere Inhalt des Schreibens zeigt, dass v. Bülow den Kriegsminister als einen Gleichgestellten behandelte. Nach der Reichsverfassung 1871 traf das nicht zu. Allein verantwortlich war v. Bülow als Reichskanzler.
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H.4.
Für den unzureichenden Organisationsgrad des preußischen Kontingentes verantwortlich war der preußische Kriegsminister, und ebenso für gravierende Mängel in der Ausstattung des Heeres. Die Verantwortlichkeit des Kriegsministers v. Einem (1903 bis 1909) für die fehlenden Einheiten und die Mängel steht außer Frage. Er hat die Ursachen für die Niederlage von 1914 gesetzt. Bei seinem Amtsnachfolger Josias v. Heeringen (1909 bis 1913) ist die Sachlage komplizierter. Er ist den an ihn herantretenden Herausforderungen teil-weise gerecht geworden, hat ihnen aber im entscheidenden Augenblick nicht genügt.
v. Heeringen stand unter starkem politischen Druck, Einsparungen vorzunehmen und seine Forderungen an die Reichsleitung auf ein Minimum zu reduzieren. Indessen war die Behauptung, die Finanzkraft des Reiches sei beschränkt, unter seinem Amtsvorgänger v. Einem zur herrschenden Auffassung selbst innerhalb des Kriegsministeriums geworden. Auch v. Heeringen bekannte sich zu ihr und gegen einen finanziell kostspieligen Ausbau des Heeres. Das beschränkte seine Gegenwehr gegen den Sparkurs der Reichsleitung.
Die Heeresverstärkung 1912 durch v. Heeringen ist, für sich betrachtet, vertretbar. Später meldete er in einem Schreiben vom 2. Dezember 1912 an den Reichskanzler v. Bethmann-Hollweg für die Jahre ab 1914 Forderungen an. Man erfährt, dass zukünftig höhere Militärausgaben unabweislich notwendig seien und dass selbst nach deren Befriedigung noch ein Rück-stand in der materiellen Ausstattung des Heeres von mehreren hundert Millionen Mark bestehen bliebe. Im Januar-März 1913 scheiterte aber die Bildung neuer Divisionen und Armeekorps an der kompromißlosen Ablehnung durch v. Heeringen und Kaiser Wilhelm II. Daran sind Preußen und das Deutsche Reich im Kriege militärisch gescheitert.
In den Militärkonventionen mit den anderen Bundesstaaten hatte Preußen sich eine Vorbildfunktion für die militärischen Einrichtungen des Bundesheeres, des späteren Reichsheeres, zusichern lassen. Daraus erwuchs eine gesteigerte Verantwortlichkeit des preußischen Kriegs-ministers gegenüber den anderen Bundesstaaten. Die Minister v. Einem, v. Heeringen und v. Falkenhayn wurden ihr nicht gerecht.
H.5.
Eine militärische Gesamtplanung, wie das Deutsche Reich den zukünftig zu erwartenden Zweifrontenkrieg bestehen sollte, fand im preußischen Kriegsministerium nicht statt. Die Meinung, diese sei Sache des Generalstabchefs gewesen, erscheint unzutreffend. Er war für die Führung des Feldheeres im Kriegsfall nach den Weisungen des Kaisers verantwortlich. Für die Rüstungsmaßnahmen im Frieden, die den Krieg verhindern und, wenn dies nicht gelang, den Erfolg im Krieg herbeiführen sollten, hatte er keine Veranwortung. Es war Sache der politischen Institutionen, dafür zu sorgen, dass für den Kriegsfall eine ausreichende Streitmacht zur Verfügung stand.
Man sollte vorsichtig sein mit der Forderung, der Generalstabchef hätte früher und nachhaltiger auf militärische Verstärkungen drängen sollen. Eine Rechtsgrundlage für ein solches Vorgehen bestand nicht. Zuständig war der Reichskanzler. Wenn er es wollte, konnte er sich jederzeit an den Generalstabchef wenden und dessen Meinung einholen. Tat er dies nicht, so darf man das nicht dem Generalstabchef anlasten. Reichskanzler v. Bülow wandte sich an den Kriegsminister, nicht aber an den Generalstabchef. So erhielt er ein einseitiges Bild, das der militärischen Lage nicht gerecht wurde. Die politische und rechtliche Verantwortung lag allein bei ihm als Reichs-kanzler.
Die einzige bekannt gewordene Konzeption für einen Zweifrontenkrieg kam aus dem Heer selbst. Bruno Mudra ergriff in seiner Eigenschaft als General-Inspekteur des Ingenieur- und Pionierkorps und der Festungen (1911 – 1913) die Initiative. Er forderte einen Ausbau der Ostfestungen, "damit wir mit geringen Kräften gegen große Überlegenheit die Situation entsprechend lange zu halten in der Lage sind." Generalstabchef v. Moltke kommentierte diese Ausführungen mit dem Vermerk "Ganz richtig". Nach Mudras Meinung sollte der Generalstabchef im Kriegsfall die Friedens-Divisionen sämtlich im Westen einsetzen können.
In seiner Begründungsrede zur Heeresvorlage 1913 nannte Kriegsminister Josias v. Heeringen den Ausbau des Festungssystems dann besonders wichtig:
„… gerade unsere Festungen sind diejenigen Mittel, welche eine aktive Verteidigung unserer langen Grenzen dem Feldheer erleichtern müssen…“
Die Erkenntnis kam zu spät.
Für die Zusammenarbeit mit dem verbündeten Heere Österreich-Ungarns und eine mit diesem abzustimmende Gesamtplanung war im Deutschen Reiche niemand zuständig. Absprachen zwischen den Generalstabchefs der beiden Staaten gab es nur in loser Form, und über deren Inhalt streiten sich die Historiker beider Staaten bis zum heutigen Tag.
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Abschnitt I. Das Reich und das Königreich Preußen
I.1. Die Problemstellung
Das Deutsche Reich wurde am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal von Versailles in einer Versammlung von Fürsten und Militärs ausgerufen. Das war der Jahrestag, an dem sich 170 Jahre zuvor erstmalig in Königsberg ein Hohenzoller zum König in Preußen gekrönt hatte. Das Reich war eine gedankliche Konstruktion. Ob es ein Eigenleben entwickeln werde, mußte erst die Zukunft lehren.
Die Wirklichkeit – das waren die 25 Bundesstaaten, die dieses Reich gegründet hatten, mit ihrer teilweise jahrhundertealten geschichtlichen Überlieferung. Sie bestimmten, welche Aufgaben das Reich übernehmen durfte (Aufzählungs- oder Enumerationsprinzip) und sicherten sich in der Verfassung ihren Einfluß auf die Reichspolitik. Die Vorstellung, es habe dem Leiter der damaligen preußischen Politik, Otto von Bismarck, frei gestanden, den Inhalt der Verfassung allein nach seinen persönlichen Vorstellungen zu gestalten, übersieht diesen Gesichtspunkt. Die Reichsverfassung von 1871 war ein ausgehandelter Kompromiß zwischen unterschiedlichen Auffas-sungen. Deshalb war auch der Wortlaut keineswegs immer eindeutig.
An der Spitze der Bundesstaaten stand das Königreich Preußen. Es stellte zwei Drittel bzw. drei Viertel der Bevölkerungszahl und der Wirtschaftsleistung des Reiches. Seine militärische Macht hatte das Reich gegründet. Zwar führte es im Bundesrat – der ersten Kammer der Gesetzgebung - nur 17 von 58 Stimmen. Dennoch war sein Einfluss übermächtig. Gegen Preußen und ohne Preußen konnte das Reich nicht regiert werden. Die preußische Politik und die Politik des neuen Reiches mußten nach einheitlichen Gesichtspunkten und mit denselben Zielen geführt werden. Ansonsten waren beide, Preußen wie das Reich, politisch lahmgelegt.
Das war das zentrale politische Problem im Deutschen Reiche.
I.2.
Der erste Schritt auf dem Weg zur Problemlösung bestand darin, dass nach der Reichsverfassung 1871 der preußische König zugleich Deutscher Kaiser, also Staats-oberhaupt des Deutschen Reiches war. Auf dieser Doppelstellung beruhte seine Macht. Eine isolierte Betrachtung der Rechte des Kaisers nach der Reichsverfassung 1871, ohne seine gleichzeitigen Rechte als König von Preußen nach der preußischen Verfassung von 1850 zu berücksichtigen, vermittelt kein zutreffendes Bild. Der Kaisertitel beinhaltete keinen Herrschaftsanspruch über das Reich.
Den Oberbefehl über das preußische Heereskontingent führte der König von Preußen. Insoweit gab ihm sein Oberbefehl als Kaiser keine zusätzlichen Befugnisse. Dem König stand aber im Kriegsfall auch der Oberbefehl über das gesamte Reichsheer zu, da das preußische Heereskontingent in ihm das bei weitem stärkste war. König Wilhelm I. nannte den Kaisertitel einen „Charaktermajor“, einen bloßen Titel, der ihm bedeutungslos erschien. Er legte Wert darauf, den Oberbefehl als König von Preußen zu führen.
Eine weitere mögliche Maßnahme, um eine Einheitlichkeit der politischen Willensbildung im Reich und in Preußen herbeizuführen, war die personelle Identität von Reichskanzler und preußischem Ministerpräsident. Der erstere wurde vom
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Kaiser, der letztere vom preußischen König ernannt. Er regierte dann sowohl das Deutsche Reich als auch das Königreich Preußen.
Es war der Regelfall, dass eine solche personelle Identität gegeben war. Sie wurde offenbar als zweckmäßig angesehen.
I.3.
Wie stand es mit den gesetzgebenden Körperschaften im Reich und in Preußen?
Wünschenswert wäre eine parallele politische Willensbildung im Reichstag und im preußischen Abgeordnetenhaus gewesen, die in etwa dieselbe Richtung ging. Voraussetzung dafür wäre eine ungefähr gleiche Stärke der in ihnen vertretenen politischen Parteien gewesen. An dieser Voraussetzung fehlte es. Die Mehrheitsverhältnisse in den beiden Parlamenten waren völlig unterschiedlich. Das lag daran, dass das Wahlrecht zum Reichstag und das Wahlrecht zum preußischen Abgeordnetenhaus grundverschieden waren. Das führte zu teilweise deutlichen Unterschieden in der Stärke der in ihnen vertretenen politischen Parteien. Wie waren die Auswirkungen in der politischen Praxis?
Dies darzulegen ist nicht einfach. Ein föderalistischer Staatsaufbau ist immer eine komplizierte und oftmals schwer durchschaubare Angelegenheit. Für das Deutsche Reich von 1871 trifft dies in besonderer Weise zu.
Reichsgesetze kamen nach der Reichsverfassung 1871 durch inhaltlich übereinstimmende Beschlüsse der beiden gesetzgebenden Körperschaften, dem Bundesrat und dem Reichstag, zustande.
Die beiden Körperschaften konnten sich gegenseitig blockieren.
Die Zustimmung des Reichstags zu den Gesetzesvorlagen, die der Bundesrat dem Reichskanzler bewilligt hatte und dieser dann dem Reichstag zur Beschlußfassung vorlegte, wurde zuweilen verweigert. Damit war der Gesetzentwurf gescheitert. Im umgekehrten Fall scheiterten Gesetzesvorlagen des Reichstags zuweilen an der Ablehnung durch den Bundesrat. (Der Reichstag besaß das Recht der Gesetzesinitiative).
Der Bundesrat war abhängig von der politischen Willensbildung in den einzelnen Bundesstaaten. Seine Zustimmung zu den Gesetzesvorlagen des Reichskanzlers hing, wie die Machtverhältnisse nun einmal lagen, von der Zustimmung Preußens ab. Diese war ohne vorangegangene Zustimmung des preußischen Abgeordnetenhauses nicht denkbar. Auf dem Weg über den Bundesrat gewann es einen bestimmenden Negativ-Einfluss auf die Reichsgesetzgebung. Was das preußische Abgeordnetenhaus nicht wollte, ließ sich nicht durchführen.
Gegen das preußische Abgeordnetenhaus konnte der Reichstag nicht ankommen. Die Folge war auf bestimmten Gebieten, vor allem dem Gebiet der Steuerpolitik, ein Reformstau. Das Abgeordnetenhaus blockierte.
Auch die erste Kammer des preußischen Landtags, das Herrenhaus, nahm über den Bundesrat Einfluss auf die Reichsgesetzgebung. Hier soll jedoch die Betrachtung auf das preußische Abgeordnetenhaus beschränkt werden.
I.4.
Die Abgeordneten wurden im Reich und in Preußen nach unterschiedlichen Gesichtspunkten bestimmt:
Die Ergebnisse der Reichstagswahl vom Januar 1912:
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Deutschkonservative 43 Abgeordnete
Deutsche Reichspartei 14 Abgeordnete
Nationalliberale Partei 45 Abgeordnete
Fortschrittliche Volkspartei 42 Abgeordnete
Zentrumspartei 91 Abgeordnete
Sozialdemokraten 110 Abgeordnete
Polenpartei 18 Abgeordnete
Elsaß-Lothringer 9 Abgeordnete
Deutsch-Hannoversche Partei 5 Abgeordnete
Dänen 1 Abgeordneter
Sonstige 19 Abgeordnete
Reichstag Summe 397 Abgeordnete
Im Ergebnis bestimmten 4 % oder 5 % der Wähler in der ersten Klasse ein Drittel der Abgeordneten, die 15 % oder 16 % Wähler der zweiten Klasse ein weiteres Drittel, mehr als 80 % der Wähler der dritten Klasse das letzte Drittel.
Die Wahlergebnisse des Jahres 1913 sprechen für sich:
Konservative 149 Abgeordnete
Freikonservative 53 Abgeordnete
Zentrum 103 Abgeordnete
Nationalliberale 73 Abgeordnete
Fortschrittliche Volkspartei 41 Abgeordnete
Sozialdemokraten 10 Abgeordnete
Polenpartei 12 Abgeordnete
Dänen 2 Abgeordnete
Abgeordnetenhaus Summe 443 Abgeordnete
Diese Zahlen, so aufschlußreich sie sind, geben indessen nur in eingeschränktem Umfang Auskunft darüber, was dieses Wahlrecht in seiner Durchführung bedeutete. Denn die regionalen Unterschiede in der Zuweisung der Wähler zu den einzelnen Klassen waren beträchtlich. Das gilt für die Größe und Struktur der Wahlkreise und die Höhe des Steueraufkommens, das über die Zugehörigkeit zu einer der drei Klassen entschied. Je nach Wahlkreis konnte man auch als „durchschnittlicher“ Steuerzahler bzw. Angehöriger des Mittel-standes zur Klasse 3 gehören.
Eine besonders starke Stellung im Abgeordnetenhaus hatte der Großgrund-besitz. Der Abgeordnete Hoff von der Fortschrittlichen Volkspartei (die dem linken Parteienspektrum zugerechnet wurde) behauptete am 17. Januar 1913
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vor dem Reichstag, unter den Abgeordneten der beiden konservativen Parteien seien 139 Großgrundbesitzer. Sie erhielten, so Hoff, Zuzug durch Groß-grundbesitzer aus den Reihen des Zentrums und verfügten allezeit über eine unbedingt sichere Majorität im Abgeordnetenhaus.
Überspitzt läßt es sich so ausdrücken: eine geringe Anzahl von Großgrund-besitzern konnte Reichsgesetze verhindern, die ihren Interessen zuwider-liefen. Das erlangte besondere Bedeutung, wie noch ausgeführt werden wird, bei der Einführung von Reichs-steuergesetzen auf den Besitz und das Einkommen.
I.5.
Auch wenn die Ergebnisse der Wahlen im Reich und in Preußen nicht unmittelbar miteinander vergleichbar sind, so erlauben sie doch einige Rückschlüsse. Die unterschiedlichen Wahlergebnisse bei den Konservativen und bei den Sozialdemokraten springen sofort ins Auge.
Bei einem gleichen, direkten und geheimem Wahlrecht in Preußen wäre die Stellung der konservativen Parteien im preußischen Abgeordneten-haus sicherlich nicht derart stark ausgefallen. Die Sozialdemokratie hätte dagegen auf Zuwachs hoffen dürfen. Die bisherigen Mehrheits-verhältnisse im Abgeordnetenhaus wären nicht mehr garantiert gewesen. Politische Änderungen wären denkbar geworden.
Durch eine Integration der Sozialdemokratie, welche nach der Zahl der Wähler erkennbar zur stärksten politischen Kraft in Preußen geworden war, in das preußische Abgeord-netenhaus hätten die innenpolitischen Gegen-sätze dort offen ausgetragen und ein freies Spiel der politischen Kräfte erreicht werden können. Die Vertretung im Reichs-tag reichte dazu nicht aus. Aus Sicht der Sozialdemokratie bestand für sie keine angemessene politische Teilhabe im Königreich Preußen. Das Recht auf eine solche Teilhabe war nicht verhandelbar.
Das Dreiklassenwahlrecht stand spätestens seit 1900 im Mittelpunkt einer allgemeinen öffentlichen Kritik. Der Übergang von der Agrar-gesellschaft des 18. Jahrhunderts zur Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts hatte im preußischen Abgeordnetenhaus wenn überhaupt, so einen allenfalls unzureichenden Nieder-schlag gefunden. Das konnte auf Dauer nicht so bleiben. Das unterschiedliche Wahlrecht im Reich und in Preußen erschien in zunehmendem Maße als eine Schizo-phrenie, die dem Wähler nicht zu vermitteln war. Das drückte sich in den Wahlbeteiligungen aus. Sie war beim Abgeordnetenhaus wesentlich geringer als beim Reichstag, und bei ersterem war sie von Wahlkreis zu Wahlkreis stark unterschiedlich.
Versuche, das Wahlrecht zu reformieren, schlugen fehl. Zuletzt legte im Jahr 1910 der Reichskanzler v. Bethmann-Hollweg dem Bundesrat einen Reform-Gesetzentwurf vor. Die Fraktionen der Konservativen und des Zentrums nahmen an ihm Änderungen vor, die der Reichskanzler nicht akzeptierte. Die Sozialdemokratie lehnte ihn ab. Es geschah nichts. Die politischen Gräben erwiesen sich als unüberbrückbar. Allenfalls der Kaiser hätte die starren Fronten überwinden können. Zu einer preußischen Revolution "von oben" war Kaiser Wilhelm II. nicht in der Lage bzw. nicht einsichtig genug.
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Im März 1917 kam es in Russland zur Revolution mit anschließender Abdankung des Zaren. Am 7. April 1917 kündigte Kaiser Wilhelm II. in einer „Osterbotschaft“ Verfas-sungsänderungen und Änderungen des Dreiklassenwahlrechts an. Der Zusammen-hang war offensichtlich.
Es war zu spät. Die deutsche Revolution im November 1918 stürzte die Monarchie und beseitigte den preußischen Landtag in seiner bisherigen Form mitsamt dem Dreiklassenwahlrecht.
Im folgenden Abschnitt soll noch ein kurzer Blick in die Zukunft geworfen werden.
I.6.
Dem zweiten Kaiserreich folgte die Weimarer Republik (11.08.1919 Datum der Reichsverfassung, Ende der Republik 30.01.1933). Die Verfassung sah einen starken Zentralstaat mit einer Gliederung des Reiches in Länder vor und für deren Vertretung bei der Gesetzgebung und der Verwaltung des Reichs einen Reichsrat. Der Staat beruhte auf dem Grundsatz der Volkssouveränität im Gegensatz zu dem früheren Fürstenbund. Die "Wehrverfassung" bestimmte das Reich. Es wurde eine Reichswehr geschaffen mit einem Reichs-wehrminister. Die Länder hatten auf diesem Gebiet keine Zuständigkeit mehr.
Der Freistaat Preußen war eines der Bundesländer. Er erhielt im November 1920 eine eigene Verfassung. Regiert wurde Preußen von 1920 bis zum 20. Juli 1932 mit geringen anfänglichen Unterbrechungen von einer Parteienkoalition unter dem Sozialdemokraten Otto Braun als Ministerpräsidenten. Der Reichskanzler Franz v. Papen beseitigte diese Regierung an dem genannten Tag gewaltsam (Notverordnung des Reichspräsidenten v. Hindenburg) und setzte stattdessen sich als Reichs-kommissar ein. Das war der sogenannte Preußenschlag, der das Ende der Demokratie in Preußen bedeutete.
Man kann darüber nachdenken, ob mit dem Preußenschlag im Ergebnis der Zustand des Kaiserreichs, wonach Reichsregierung und preußische Regierung in einer Hand lagen, wiederhergestellt wurde oder wiederhergestellt werden sollte - aber eben ohne parlamentarische Demokratie in Preußen.
Nutznießer wurde der Mann, den der Reichspräsident am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannte. Ihm war ein Hindernis auf dem Weg zur Machtergreifung aus dem Weg geräumt worden. Eine Behauptung, dies sei der Zweck des Preußenschlags gewesen, wird damit nicht aufgestellt.
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Abschnitt J Das Reich und seine Steuern
In einem Staatenbund ebenso wie in einem Bundesstaat spiegelt die Verteilung der Steuer-einnahmen zwischen dem Zentralstaat und den Gliedstaaten die politische Machtverteilung wieder. Im Deutschen Kaiserreich hatten die finanziellen Belange seiner Gliedstaaten - Bundesstaaten - Vorrang vor denen des Zentralstaates. Das soll im folgenden untersucht werden.
J.1.
Das Deutsche Kaiserreich war eine Verteidigungsgemeinschaft. Die zivilen Staatsaufgaben lagen bei den Bundesstaaten. Dementsprechend machten die Rüstungsausgaben den größten Teil der Staatsausgaben des Reiches aus. Zu ihrer Finanzierung benötigte es Steuereinnahmen. Dazu war die Einführung von Reichs-Steuergesetzen erforderlich. Die Befugnis dazu gab Artikel 4 Nr. 2 der Reichsverfassung 1871.
Es gelang über die gesamte Zeitdauer der Existenz des Kaiserreiches hinweg nicht, ihm durch Steuergesetze ausreichende eigene Einnahmen zu verschaffen. Im Jahr 1879 wurde das Reich gesetzlich verpflichtet, jährlich einen Teil seiner Zolleinnahmen und sonstiger Steuereinnahmen an die Bundesstaaten abzuführen (Franckenstein’sche Klausel).
Dem Reich wurde also vom Reichstag wie vom Bundesrat die Aufgabe zuerkannt, zur Finanzierung seiner Bundesstaaten beizutragen. In der Reichsverfassung 1871 stand dies nicht.
Die dem Reich verbleibenden Steuereinnahmen reichten aber nicht zur Bestreitung der Ausgaben aus. Das Reich mußte Kredite aufnehmen. Versuche der verbündeten Regierungen, weitere indirekte Steuern einzuführen, scheiterten am Widerstand des Reichstags.
Dabei blieb es, mit Ausnahme zweier Jahre, bis 1900. Der Schuldenstand des Reiches betrug da bereits 2.395.650.000 Mark.
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Durch den Aufbau einer Schlachtflotte ab 1898 – die „Weltpolitik“ des Reiches unter Reichskanzler v. Bülow - fand dann eine dramatische Ausweitung der Staatsausgaben des Reiches statt. Die Anwendung der Francken-stein’schen Klausel war nicht länger möglich. Der Verzicht auf ihre Anwendung erwies sich als unzureichend. Es kam nach 1900 zu regelmäßigen Defiziten im Staatshaushalt, zu verstärkter Kredit-finanzierung und zu einem Stau bei den Investitionen in das Heer, da diese vermindert bzw. nicht dem Bedarf entsprechend gesteigert wurden. Versuche des Reichskanzlers, durch neue Steuern und Abgaben gegenzusteuern, brachten keinen durchschlagenden Erfolg. Innerhalb von 10 Jahren verdoppelte sich die Schuldenlast des Reiches.
Notwendig gewesen wären zusätzliche Steuern auf Reichsebene, wobei eine Mixtur aus direkten und indirekten Steuern anzustreben gewesen wäre. Diese gab es nicht. Die Flottenrüstung sollte ohne eine wesentliche Steigerung der Steuerbelastung der Bevölkerung erfolgen. Das war von vornherein illusorisch. Erhöht wurden vor allem die indirekten Steuern einschließlich der Einfuhrzölle, aber auch dies geschah zu spät und reichte nicht aus, um den Bedarf zu decken. Die einzige direkte Steuer, die Reichserbschaftsteuer, brachte wegen weitreichender Befreiungen des betroffenen Personenkreises nur einen unzureichenden Ertrag.
J.2.
Der Bundesrat - aber auch der Reichstag - widersetzte sich in konsequenter Weise der Einführung direkter Reichssteuern auf den Besitz und/oder das Einkommen. Dies fand – unter anderem - in der Finanz- und Steuerreform 1909 seinen Ausdruck.
Von 1900 bis 1908 waren im Deutschen Reich alljährlich Haushaltsdefizite aufgelaufen. Eine Finanz- und Steuerreform im Jahre 1909 sollte dem dauerhaft abhelfen. Es ging um die Tilgung der Defizite, die Vermeidung zukünftiger Defizite – also um die Herstellung ausgeglichener Haushalte in der Zukunft - und einen Schuldenabbau. Die Reichsleitung legte am 3. November 1908 dem Reichstag einen
Gesetzentwurf, „betreffend Änderungen im Finanzwesen“
Anlage Nr. 992
Anlage Nr. 993 Begründung
zuzuordnen den Reichstagsprotokollen vom 19. November 1908,
vor. Angestrebt wurden jährliche Mehreinnahmen von 472 Millionen Mark. Davon sollten 347 Millionen Mark durch Verbrauchsteuern, 33 Millionen Mark durch eine Anzeigensteuer und 92 Millionen Mark durch Änderungen bei der Reichserbschaftsteuer aufgebracht werden.
In der Begründung hieß es auf Seite 21 unter anderem:
„… Daneben erweist es sich als absolut notwendig, zur Bedarfsdeckung auch solche Steuern heranzuziehen, die vornehmlich von den Besitzenden getragen werden…
Dieser Ausgleich durch Heranziehung des Besitzes kann nicht auf dem Wege der direkten Einkommens- und Vermögensbesteuerung erfolgen, da diese das unentbehrliche Fundament der einzelstaatlichen und kommunalen Finanz-wirtschaft bilden. Sie ihnen entreißen, hieße die Finanzen der Einzelstaaten und Selbstverwaltungskörper in dieselbe Bedrängnis bringen, in der das Reich sich jetzt
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befindet. Die verbündeten Regierungen sind daher fest entschlossen, nachdem ihnen die Erhebung von Verbrauchs- und Erbschaftssteuern bis auf geringe Reste entzogen ist, im Interesse ihrer Selbsterhaltung und Finanzhoheit die Einkommen- und Vermögensteuer sich zu reservieren und würden einer Beanspruchung dieser Steuern durch das Reich nicht zuzustimmen vermögen.“
„Hiernach kann die … Heranziehung des Besitzes nur durch den Ausbau der Nachlaßbesteuerung erfolgen…“
(Anmerkung des Aufsatzverfassers: damit war die Aufhebung von Steuer-befreiungen bei der Erbschaftsteuer gemeint)
Das Motto war also „wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß“.
Die „Besitzenden“ sollten zu direkten Reichssteuern herangezogen werden, aber eben doch nicht. Die Heranziehung sollte auf die Reichserbschaftsteuer beschränkt bleiben.
Dieses Zugeständnis der verbündeten Regierungen konnte nicht im Ernst als ein ausreichender Beitrag der "Besitzenden" angesehen werden. In Wahrheit ging es darum, diese zu schonen. Es war eine bloße Unterstellung, dass Reichssteuern auf den Besitz und/oder das Einkommen die Finanzen der Einzelstaaten und Selbstverwaltungskörper in „Bedrängnis“ gebracht hätten. Die „Besitzenden“ hätten einfach höhere Steuern zahlen müssen – und dazu waren sie nicht bereit. Schlachtflotte und „Weltpolitik“ bejahten sie, höhere Steuern für sich lehnten sie ab. So einfach war das.
Selbst die Änderungen der Erbschaftsteuer scheiterten dann im Reichstag.
(Anmerkung des Aufsatzverfassers:
Die Erbschaftsteuer ist auch heute noch volkswirtschaftlich und politisch umstritten.)
Es blieb entgegen den Absichten in der Gesetzesbegründung dabei, dass die Finanzreform ausschließlich auf Abgaben aufgebaut wurde, die „die ärmeren Volksklassen unverhältnis-mäßig höher“ belastete. Die Quittung kam bei der Reichstagswahl vom Januar 1912, in der die Sozialdemokratie zur stärksten Fraktion im Reichstag wurde.
Die Steuerreform von 1909 stellte die Reichsfinanzen auf keine zukunftsfähige Grundlage. Dazu hätte es der Einführung von Reichssteuern auf den Besitz und/oder das Einkommen bedurft. Die waren gegen die Bundesstaaten – und das heißt: gegen das Preußische Abgeordnetenhaus – nicht durchsetzbar. Die fehlende Steuerkraft des Reiches ging zu Lasten seines Heeres. Ihm wurden die Geldmittel für eine ausreichende materielle Ausstattung vorenthalten. Die Schlachtflotte wurde mit Vorrang bedacht. Die Folgen sind bekannt.
Dem Reichstag blieb es vorbehalten, in den Jahren 1912 und 1913 diese starre Ablehnungsfront mit einem einmaligen außerordentlichen Wehrbeitrag und einer zukünftigen Besitzsteuer ein Stück weit aufzubrechen. Mit diesen direkten Steuern sollte die Heeresverstärkung 1913 finanziert werden. Die verbündeten Regierungen konnten dies nicht verhindern, da ansonsten die Heeresverstärkung gescheitert wäre. Akzeptiert haben die verbündeten Regierungen diese Steuern gleichwohl nicht. Der Wehrbeirag stellte nur eine vorübergehende Lösung dar. Sein Ertrag sollte auf drei Jahre verteilt werden, und ob er in der vom Reichsschatzamt veranschlagten Höhe ausgefallen wäre, konnte niemand sagen. Für die Zukunft war weiterhin alles offen.
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J.3.
Der Egoismus der Bundesstaaten, und zwar der „großen“ Bundesstaaten mit Preußen an der Spitze, spiegelte sich auch in den sogenannten Matrikularbeiträgen wieder. Sie waren von allen Bundesstaaten an das Reich zu entrichten. Jeder Bundesstaat hatte jährlich einen bestimmten Geldbetrag an das Reich abführen, der pro Kopf seiner Einwohner bemessen wurde. Das war in der Reichsverfassung als eine Übergangslösung vorgesehen, bis das Reich sich durch eigene Steuergesetze ausreichende Einnahmen verschafft haben würde.
Dieser Zeitpunkt kam nie. Die Ursache dafür ist vorstehend in Abschnitt J.2. beschrieben, die Folgen ebenfalls. Statt einer Abschaffung der Matrikularbeiträge wurde die Reichsverfassung geändert und aus der Übergangslösung ein Dauerzustand geschaffen. Das Reich blieb insoweit unmittelbar von den Zuwendungen der Bundesstaaten abhängig.
Die Matrikularbeiträge waren eine ungerechte Finanzierungsform, da sie von den finanz- und wirtschaftsschwachen Bundesstaaten nicht aufgebracht werden konnten bzw. diese gegenüber den wirtschaftsstarken Bundesstaaten - also an der Spitze Preußen mit seiner Schwerindustrie - benachteiligten. Da mußte nach Aushilfen gesucht werden, sei es durch Stundung von Beiträgen oder Übernahme auf Kredit. Es entstand ein kompliziertes Geflecht von Finanzbeziehungen zwischen dem Reich und den Bundesstaaten, in dem sich nur noch Spezialisten zurechtfanden.
Eine Kopfsteuer - und hierum handelte es sich im Grunde bei den Matrikularbeiträgen - ist der Gegensatz zu einer Besteuerung nach der individuellen Leistungs-fähigkeit, wie sie in den heutigen Einkommensteuer-Systemen verwirklicht ist. Sie gilt daher als ungerecht und als ein Merkmal von wenig entwickelten Staaten, die über kein leistungsfähiges Besteuerungs-system verfügen. Die Argumentation, es seien ja die Bundes-staaten gewesen und nicht die Einzel-personen, die zahlen mußten, geht fehl, wie sich aus den Ausführungen im vorstehenden Absatz ergibt.
Es wäre ohne weiteres denkbar gewesen, die Matrikularbeiträge durch eine Besitzsteuer oder durch eine Einkommensteuer, etwa in Form eines Zuschlags zu der von den Bundesstaaten erhobenen Einkommensteuer, zu ersetzen. Wenn dabei einige Millionen Mark an zusätzlichem Steuer-aufkommen herausgekommen wären, so hätte dies weder die „großen“ Bundesstaaten noch die Steuerschuldner an den Bettelstab gebracht. Die Masse der Bevölkerung wäre überhaupt nicht betroffen gewesen.
Aber die „großen“ Bundesstaaten folgten dem Grundsatz „wehret den Anfängen“. Die Einführung direkter Reichssteuern hätte den ersten Schritt auf dem Weg in einen deutschen Einheitsstaat bedeuten können. Diesen galt es unbedingt zu vermeiden – aus Sicht der konservativen Kräfte. Es wurde mit deutscher Gründlichkeit ein Grundsatzstreit geführt. Die Folgen dieser Haltung spielten keine Rolle. In Wahrheit ging es darum, dass die finanzielle Oberschicht des Reiches ihre Steuerlast niedrig halten und keine direkten Reichssteuern zahlen wollte. Das "Preußentum", das man bewahren wollte, war nur ein Vorwand.
Erst nach der Niederlage im Weltkrieg und nach der Revolution von 1918/1919 kam es zu einer grundlegenden Reichsfinanzreform durch Matthias Erzberger von der Zentrumspartei als Reichsfinanzminister. Sie schuf die Grundlagen für das heute in Deutschland geltende Steuerrecht. Mit dieser Reform wurde das System der Matrikularbeiträge überwunden.
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Abschnitt K. Der Reichskanzler
K.1. Die Stellung des Reichskanzlers
Reichskanzler v. Bethmann-Hollweg beschrieb am 10. Dezember 1910 vor dem Reichstag seine Tätigkeit mit folgenden Worten:
„Meine Herren, ich diene nicht dem Parlament.“
(Bravo! rechts. – Zuruf von den Sozialdemokraten: Den Junkern!)
„Auch nicht den Junkern, so wenig wie Ihnen! Ich führe die Politik, ich schlage Ihnen die Gesetze vor, die nach meiner sachlichen Überzeugung dem Wohl des Vaterlandes dienen, solange ich dazu die Zustimmung des Kaisers und der verbündeten Regierungen finde.“
(Bravo! rechts.)
„Auf dieser Grundlage suche ich zu einer Verständigung mit Ihnen, mit dem Reichstag, zu gelangen. Gewähren mir bei dieser Politik Zentrum und Konservative ihre Hilfe und ihre Unterstützung, so nehme ich diese Unterstützung genauso gern und genauso dankbar an wie die Hilfe und Unterstützung irgend einer anderen Partei….“
Die Stellung des Reichskanzlers war in Artikel 15 der Reichsverfassung 1871 verankert. Ihm standen der Vorsitz im Bundesrat und die Leitung der Geschäfte des Reiches zu. Seine Ernennung und Entlassung erfolgte durch den Kaiser. Dessen Anordnungen und Verfügungen bedurften zu ihrer Gültigkeit seiner Gegenzeichnung, Artikel 17 der Reichsverfassung (konstitutionelle Monarchie). Der Reichskanzler war – als Einzelperson - die Regierung des Reiches. Ihm standen Reichsämter zur Verfügung, die von Staatssekretären geleitet wurden. Minister gab es nicht. Man sprach von der "Reichsleitung", nicht von der "Reichsregierung". Im Laufe der Jahre, besonders deutlich im Ersten Weltkrieg, stellte sich heraus, dass eine Koordinierung der Regierungstätigkeit auf diesem Wege nicht zu erreichen war. Die Reichsämter arbeiteten nebeneinander, nicht miteinander.
K.2. Der Reichskanzler und das Heer
Die politische Zuständigkeit für das Deutsche Heer lag allein beim Reichskanzler.
K.2.1.
Aus den militärischen Befugnissen des Kaisers darf nicht der Rückschluss gezogen werden, dass die politische Entscheidungsbefugnis bei ihm gelegen hätte. Es lag in der Zuständigkeit des Kaisers, neue Regimenter, Brigaden oder Divisionen zu errichten – aber ob dies geschehen sollte, darüber hatte der Reichskanzler zu befinden. Er bestimmte zusammen mit dem Reichsschatzamt, wie der alljährliche Entwurf des Reichshaushaltsetats gestaltet werden sollte und ob eine Heeresvorlage an den Gesetzgeber gerichtet werden sollte. Der letzte Schritt war dann der Befehl des Kaisers an das Heer, eine Maßnahme durchzuführen.
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K.2.2.
Die Schwierigkeit für den Reichskanzler, seine Befugnisse durchzusetzen, lag in seiner fehlenden Sachkunde und dem Fehlen militärischer Informationen. Diese liefen im preußischen Kriegsministerium zusammen. Einen Staatssekretär für das Heer – den Reichskriegsminister - gab es nicht. Das Reichsarchiv formuliert folgendermaßen (Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, Textband Seite 6):
„Nach der Reichsverfassung war der Reichskanzler auch für die Angelegen-heiten des Heeres, soweit sie in die Zuständigkeit des Reiches fielen, allein verantwortlich. Er verfügte hierfür aber nicht über ein besonderes Organ, wie es ihm in Gestalt der Reichsämter für seine sonstigen Obliegenheiten zu Gebote stand.“
War der Reichskanzler Zivilist, so musste er sich die nötige Sachkunde beim preußischen Kriegsminister holen. Das machte ihn von diesem abhängig. Durch seine Anforderungen an den Reichskanzler und an die Budgetkommission des Reichstags traf der Kriegsminister eine Vorauswahl, welche Rüstungsmaßnahmen in Betracht kamen. Korrekterweise hätte er dem Reichskanzler die möglichen Alternativen aufzeigen und seine Präferenzen darlegen, dem Reichs-kanzler aber die Entscheidung überlassen müssen. Inwieweit dies tatsächlich geschah, ist im Einzelfall zu untersuchen. Nicht übersehen werden darf dabei, dass der Kaiser als Oberbefehlshaber des Heeres dem Kriegsminister gegenüber weisungsberechtigt war.
Das Verhalten der Reichskanzler und der preußischen Kriegsminister gegenüber dem Heer läßt sich nicht auf einen Nenner bringen. Dazu waren die Persönlichkeiten zu unterschiedlich, und unterschiedlich war ihre Einstellung zu ihrem Amt und den Pflichten, die es mit sich brachte. Daher ist eine Einzelbetrachtung notwendig.
K.3.1.
Otto von Bismarck, geboren 1815, hatte als preußischer Ministerpräsident harte Auseinander-setzungen mit den Militärs zu bestehen, um den Primat der Politik durchzusetzen. Für ihn bedeutete ein Krieg keine Unterbrechung der Politik. Im Gegenteil mußte er seine Anstrengungen verstärken, um die Entwicklungen unter Kontrolle zu halten. Sein Platz war im militärischen Hauptquartier an der Seite des Königs. Die Gefahr eines allgemeinen europäischen Krieges war v. Bismarck jeden Augenblick gegenwärtig, und diesen galt es zu verhindern.
Als Reichskanzler (1871 – 1890) traf v. Bismarck die Entscheidungen über Heeres-verstärkungen letztlich immer selbst. Das Reichsarchiv schreibt (Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, Textband Seite 14):
„Ihm war die Wehrmacht niemals Selbstzweck, wie er auch die Rüstungspolitik stets als Glied der einheitlich geführten Reichspolitik behandelte…“
„Aber wie der Reichskanzler einem Präventivkriege durchaus ablehnend gegenüberstand, so war er auch ein Gegner jeder „forcierten“ Rüstungspolitik, weil sie mit seiner auf Erhaltung des Friedens und auf Festigung des europäischen Staatensystems gerichteten Politik nicht vereinbar war…“
Die Entscheidungen v. Bismarcks konnten gegen den Kriegsminister ausfallen. Es kam vor, dass dieser keine Erhöhung des Friedenspräsenzstandes wollte, der Reichs-kanzler eine solche aber für erforderlich hielt und sie durchsetzte. Umgekehrt kam es vor, dass die Militärs eine Heeresverstärkung wollten, der Reichskanzler sie aber ablehnte oder aufschob bzw. ihren Umfang reduzierte.
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K.3.2.
Reichskanzler v. Caprivi (1890 – 1894), geboren 1831, war Berufs-offizier, hatte am Krieg von 1870/71 teilgenommen und Generalsrang erreicht. Von 1883 bis 1888 war er Marinechef. Der Flotte maß er ausschließlich eine defensive Aufgabe zu. Im Jahre 1893 brachte er eine „große“ Heeresreform zustande, die in politischer wie in militärischer Hinsicht sein persönliches Werk war. Der Kriegsminister spielte eine Nebenrolle.
v. Caprivi betrieb eine Politik der Verständigung und des Ausgleichs. Das erstreckte sich auch auf den militärischen Bereich. Im Jahr 1890 war eine grundlegende Heeresverstärkung bereits im Vorfeld am Widerstand des Reichstags gescheitert; Kriegsminister v. Verdy du Vernois mußte zurücktreten. Es kam im Herbst 1890 nur zu einer „kleinen“ Heeresverstärkung. v. Caprivi nahm, was politisch möglich war.
v. Caprivi gab den Gedanken an eine „große“ Heeresverstärkung nach 1890 nicht auf. Er wollte über Zugeständnisse die Öffentlichkeit für die von ihm beabsichtigte Verstärkung gewinnen. Der Forderung des Reichstags nach einer Verkürzung der Dauer des Grundwehrdienstes von drei auf zwei Jahre bei der Infanterie sollte entsprochen, der Bewilligungszeitraum für die Heeresstärke von sieben auf fünf Jahre verkürzt, die Anzahl der Unteroffiziere zukünftig wie die der Offiziere, Ärzte und Beamten auf dem Wege über Planstellen im Staatshaushalt festgesetzt werden. (Im Gegenzug wurde den militärischen Belangen dadurch Rechnung getragen, daß die Heeresstärke zukünftig als Jahresdurchschnittsstärke festgestellt werden sollte).
Als im Jahre 1893 die Heeresvorlage trotz der Zugeständnisse im Reichstag scheiterte, ließ v. Caprivi den Reichstag auflösen. Nach weiteren Abstrichen nahm der neue Reichstag die reduzierte Vorlage mit zwei Stimmen Mehrheit an. Für die Dauer von 20 Jahren blieb dies die einzige „große“ Erhöhung der Friedenspräsenzstärke.
K.3.3.
Reichskanzler Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst (1894 – 1900), geboren 1819, war von 1866 bis 1870 bayerischer Ministerpräsident gewesen und somit kein Preuße. Dennoch wurde er auch zum preußischen Ministerpräsidenten ernannt. In seiner Amtszeit erfolgten entscheidende militärische Weichenstellungen:
Unter den Kriegsministern Walter Bronsart v. Schellendorf (1893 - 1896) und Heinrich v. Goßler (1896 – 1903) wurde die Heeresverstärkung von 1893 des Reichskanzlers v. Caprivi weiter geführt. Es kam zu einer Erweiterung der Heeresorganisation und einer Modernisierung des Heeres. Das Heer, das 1914 in den Krieg zog, wurde im wesent-lichen in dem Jahrzehnt von 1893 bis 1903 geschaffen. Jedoch wirkte sich bereits bei der Heeresvorlage 1899 der Aufbau einer deutschen Schlachtflotte nachteilig aus, indem der Reichstag die angestrebte Erhöhung der Friedenspräsenzstärke um 7000 Mann reduzierte.
1897 wurde Alfred v. Tirpitz zum Staatssekretär des Reichsmarineamtes ernannt und das blieb er bis zu seiner Entlassung in den Ruhestand im März 1916. Bereits in den vergangenen Jahren - spätestens seit 1880 - war mit dem Bau von Kriegsschiffen begonnen worden. Unter v. Tirpitz stieß der Aufbau der Kriegsmarine in neue Dimensionen vor und erhielt einen gänzlich anderen Charakter. Möglicherweise wurde v. Tirpitz durch das Werk von Alfred Thayer Mahan „The Influence of Sea Power upon History“, das 1890 veröffentlicht wurde, beeinflußt. Für die Zukunft des Reiches sei eine starke Flotte eine unabdingbare Notwendigkeit. v. Tirpitz entwarf einen Ausbauplan für eine deutsche Flotte, wie es ihn zuvor noch nicht gegeben hatte. Was er anstrebte, war eine deutsche Flottenstärke von 2/3 der britischen Flotte. Ein Angriff auf die deutsche Flotte sollte für die britische Flotte ein Risiko darstellen.
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Die beiden ersten Flottengesetze des Reiches wurden in schneller Reihenfolge verabschiedet (1. Flottengesetz vom 10. April 1898, Reichsgesetzblatt 1898 Seite 165, 2. Flottengesetz vom 14. Juni 1900, Reichsgesetzblatt 1900 Seite 255). Das 1. Flottengesetz sah 1 Flottenflaggschiff und 2 Geschwader zu je 8 Linienschiffen vor. Das 2. Flottengesetz verdoppelte diese Anzahl. In ihm wird erstmals das Wort „Schlachtflotte“ verwendet. In den Jahren 1906 und 1908 kamen es zu Flottennovellen (Aufbau einer Kreuzerflotte bzw. Beschaffung von Ersatzschiffen bereits nach 20 Jahren anstatt bisher 25 Jahren) und im Jahr 1912 eine weitere Flottennovelle, die drei aktive Geschwader zu je 8 Linienschiffen vorsah. Sie war also in Wahrheit ein 3. Flottengesetz.
Bei den Flottengesetzen war der Reichskanzler nicht die treibende Kraft. Staatssekretär v. Tirpitz wurde zu einer der beherrschenden Gestalten der deutschen Politik. An ihm kam keiner vorbei, auch kein Reichskanzler. Der Flottenbau erlangte innen- wie außenpolitisch entscheidende Bedeutung für die zukünftige Politik des Reichs. Mit dem 2. Flottengesetz war eine Festlegung dieser Politik auf Dauer erfolgt. Sie bedeutete eine militärische Herausforderung der damals führenden Weltmacht England und dieses nahm die Herausforderung an. Die Folge war ein Wettrüsten zur See, das v. Tirpitz unbeirrt bis zum Kriegsausbruch 1914 fortsetzte. Dies ist umso erstaunlicher, als die deutsche Flottenrüstung inzwischen durch britische Gegen-maßnahmen sinn- und zwecklos geworden war.
Die imperialistische und expansionistische Haltung des Staatssekretärs v. Tirpitz beruhte auf einer grotesken Überschätzung der Möglichkeiten des Reichs und wurde dessen Verhängnis. Das Reich in der Mitte Europas war eine Kontinentalmacht und mußte alle seine Kräfte anstrengen, um sich zwischen den Flügelmächten zu behaupten. Es ist nicht hilfreich, die Berechtigung Deutschlands zum Bau einer Schlachtflotte nachweisen zu wollen, oder zu argumentieren, dass der Bau der deutschen Schlachtflotte eine Reaktion auf den britischen Bau einer Schlachtflotte gewesen sei.
Die Entscheidung
zugunsten der Schlachtflotte
war von Anfang an mit einer Entscheidung
gegen den Heeresausbau
verbunden. Am 26. Juni 1890 hatte der Reichstag eine Entschließung verabschiedet, in der es hieß:
(Resolution des Reichstags:)
„die Erwartung auszusprechen, daß die verbündeten Regierungen Abstand nehmen werden von der Verfolgung von Plänen, durch welche die Heran-ziehung aller wehrfähigen Mannschaften zum aktiven Dienst durchgeführt werden soll, indem dadurch dem Deutschen Reich nahezu unerschwingliche Kosten erwachsen müßten“.
Gleichstarke Rüstungsanstrengungen zu Lande wie in Frankreich sah der Reichstag als nicht finanzierbar an – den Bau einer Schlachtflotte nach Maßgabe der Flottengesetze der Jahre 1898 und 1900 aber durchaus. Wo blieb da die Logik?
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Das Deutsche Reich konnte eine Seemacht nur dann sein, wenn es seine Landrüstung vernachlässigte. Und eben dies geschah. Dabei ging es nicht nur um eine höchstmögliche Friedenspräsenzstärke, sondern um die materielle Ausrüstung des Heeres und um die Herstellung einer ausreichenden Heeresorganisation, die beide ungenügend blieben. Und selbst unter dieser Voraussetzung gelang die Finanzierung der deutschen Schlachtflotte nicht. Die besitzende und/oder einkommens-starke Oberschicht des Reiches war nicht bereit, für die Machtstellung, die dieses erreichen sollte, finanzielle Opfer zu bringen.
Die Notwendigkeit, dass das Reich Maßnahmen zur Verteidigung seiner Küsten unternahm, soll nicht bestritten werden. Auch hier sollte man aber vorsichtig sein. Hätte England Truppen an der Nordseeküste landen wollen, so konnte es dies in Dänemark tun – gleichgültig, wie stark die deutsche Schlachtflotte war. Man kann allerdings meinen, dass sich in der Ostsee ein Anwendungsfall für die Thesen von Mahan und die Notwendigkeit einer eigenen Seestreitmacht finden läßt. Über die Zielsetzungen des 1. Flottengesetzes führt das jedoch nicht hinaus.
Bereits vor 1914 wurde von einsichtigen Zeitgenossen gesehen, dass das Deutsche Reich nicht in der Lage war, gleichzeitig eine Schlachtflotte in dem Umfang, wie ihn v. Tirpitz anstrebte, und ein starkes Heer, wie es die geographische Lage des Reiches in der Mitte Europas erforderte, zu unterhalten. Ohne ein starkes Landheer war die Schlachtflotte sinnlos.
K.3.3.
In den Jahren von 1900 bis 1909 war Bernhard v. Bülow, geboren 1849, Reichskanzler. Zuvor war er Staatssekretär des Äußeren gewesen (seit 1897). Seine Politik richtete er an den Wünschen Kaiser Wilhelms II. aus. Das „persönliche Regiment“ des Kaisers wurde Wirklichkeit. Im Vordergrund stand der Aufbau einer Schlachtflotte. Sie wurde als Instrument einer Weltpolitik gesehen, zu der eine wirtschaftliche Notwendigkeit zwang, nämlich die schnelle Entwicklung von Außenhandel, Industrie und Schiffahrt. Dazu gehörte auch die – angebliche – Notwendigkeit, sich Kolonien zu verschaffen. Die Flotte sollte schnell aufgebaut werden. Die Frage der Finanzierung war nach-rangig. Bis auf weiteres sollte das Heer sparen. Tatsächlich beschäftigte die Finan-zierungsfrage v. Bülow bis zum Ende seiner Amtszeit.
Einen nennenswerten Einfluß auf die Rüstungspolitik, soweit es um das Heer ging, auszuüben ist v. Bülow nicht gelungen. Zur beherrschenden Gestalt wurde Kriegsminister v. Einem, der im Jahr 1903 Heinrich v. Goßler im Amt nachfolgte. Wie bereits in Abschnitt H.3. ausgeführt, war v. Einem eine Art Neben-Reichskanzler für das Heer. v. Goßler hatte sich bemüht, trotz der ihm verordneten Sparsamkeit die Entwicklung der Heeresorganisation weiter voranzutreiben. Er wollte den Forderungen des Generalstabchefs v. Schlieffen entgegenkommen. v. Einem dachte nicht daran. Er brach die Weiterentwicklung der Heeresorganisation ab und reduzierte deren Ausbau auf ein Minimum ohne Rück-sicht auf die militärischen Notwendigkeiten. Eine längerfristige militärische Planung fand nicht statt. Hierin liegt der grundlegende Unterschied zur Kriegsmarine, deren Ausbau v. Tirpitz nach einem langfristig angelegten und konsequent verfolgten Plan vorantrieb.
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Die Auffassungen v. Einems lassen sich einer Niederschrift entnehmen, die er im Kriegsministerium als Chef der Armeeabteilung am 19. November 1899 fertigte. Das Reichsarchiv (Kriegsrüstung und Kriegswirt-schaft, Textband Seite 65) zitiert aus dieser Niederschrift unter anderem folgende Sätze:
„… dieses Wettrüsten (zwischen den europäischen Kontinentalmächten, der Aufsatzverfasser) muß doch einmal ein Ende nehmen, und es muss der Augenblick kommen, wo der … Chef des Generalstabs sich mit dem begnügen muß, was ihm die Heeresverwaltung zur Verfügung stellen kann… So hoch der Zahlenwert im Krieg auch ist, so würde es doch falsch sein, zu behaupten, ein Heer von 1 000 000 Soldaten sei einem solchen von 800 000 Mann überlegen. Ein Heer von 15 Armeekorps kann einem anderen von 8 Armeekorps als so überlegen bezeichnet werden, dass eine Aussicht auf Sieg ausgeschlossen ist. Aber
23 Armeekorps
(Deutschland)
gegenüber 25
(Frankreich)
(Hervorhebung durch den Aufsatzverfasser)
können doch wahrlich nicht als der unterlegene Teil angesehen werden…“
v. Einem nahm also bewußt eine zahlenmäßige Unterlegenheit der Formationen des deutschen Heeres gegenüber dem französischen Heer in Kauf. Damit legte er den Grundstein für die deutsche Niederlage von 1914. Die Überlegenheit Frankreichs wurde fortan als eine Gegebenheit hingenommen, die sich mit Rücksicht auf die finanzielle Leistungsfähigkeit des Reiches nicht ändern ließe. Der Öffent-lichkeit wurde dies nicht mitgeteilt. Dass die Auffassungen v. Einems abwegig waren, braucht weiter keine Begründung.
Die für die Zukunft des Reiches verhängnisvollen militärischen Entscheidungen
- Reduzierung der Anzahl der Armeekorps, die im Kriegsfall zu bilden waren, von 27 auf 25, kein Ausbau der 23 vorhandenen Friedens-Armeekorps auf die Stärke der 25 beabsichtigten Kriegs-Armeekorps, nur minimaler Ausbau der 23 vorhandenen Friedens-Armeekorps –
fielen im Herbst 1903 und wurden zwischen Kriegsminister, dem Chef des Militär-kabinetts und dem Kaiser abgesprochen. Das Reichsarchiv schreibt in einer Fußnote (Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, Textband Seite 75):
„Aufzeichnungen über diese Verhandlungen sind in den Akten nicht ermittelt; vermutlich sind sie vorwiegend mündlich geführt worden. In der … Zuschrift des Generalobersten v. Einem an das Reichsarchiv vom 6. Januar 1929 heißt es hierüber: „Graf Schlieffen wollte vier Armeekorps im Aufmarschgebiet durch Zusammenfassen verschiedener Truppenteile bilden… Die Auseinan-dersetzung mit Graf Schlieffen und mir fand vor seiner Majestät statt. Der Kaiser entschied sich für meine Auffassung und befahl, zwei Armeekorps nicht zu bilden…“
Ob v. Bülow als Reichskanzler hiervon Kenntnis erhielt, ist ungewiß.
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Es ist zweifelhaft, ob v. Bülow erkannte, in welchem Ausmaß in seiner Amtszeit eine militärische Schwäche des Reiches bestand. Sie hatte ihren Ursprung in einer militärischen Fehl-entscheidung bei der Feldartillerie, die mit der technisch überholten und kriegs-untauglichen Feldkanone Modell 1896 der Friedrich Krupp AG ausgestattet worden war. Sie war der französischen Feldkanone aus dem Jahr 1897 klar unterlegen. Das wurde von den verantwortlichen Militärs aber erst im Jahr 1901 erkannt. Man hätte bei der Rheinischen Metallwarenfabrik eine moderne Feldkanone kaufen können – aber dazu fehlte das Geld – und außerdem wäre man dann ja zu der Konkurrenz von Krupp gegangen….
So wurde im Kriegsministerium beschlossen, die Feldkanonen Modell 1896 unter Verwendung vorhandener Teile umzurüsten, um dadurch Geld zu sparen. Damit wurde aber erst im Jahr 1905 begonnen, und die Umrüstung zog sich bis 1908 hin.
Entsprechendes gilt für die leichten Feldhaubitzen Modell 1898 der Rheinischen Metallwarenfabrik, die sich im Schützengrabenkrieg des ersten Weltkrieges als die gefährlichste Waffe des deutschen Heeres erweisen sollten. Die Enscheidung über die Moder-nisierung wurde erst 1909 getroffen, und die Ummstellung auf das neue Modell 98/09 zog sich von 1910 bis Anfang 1912 hin.
Im Jahr 1906 unternahm v. Bülow einen Versuch, Kriegsminister v. Einem zu einer Heeresverstärkung zu bewegen. Er stellte v. Einem mehrere Fragen, die wohlüber-legt und sachlich berechtigt waren. Dieser wies den Wunsch nach einer Heeres-verstärkung, der in diesen Fragen zu Ausdruck kam, höflich, aber bestimmt und mit Scheinargumenten zurück. v. Einem war zu keinem Zeitpunkt bereit, eine Heeresvorlage, die über die dürftigsten Maßnahmen hinausging, vor dem Reichstag militärisch zu verantworten. Wenn der Reichskanzler eine größere Heeresvorlage wollte, dann sollte er das politisch begründen. Davor hütete sich v. Bülow ebenso, wie es alle anderen Reichskanzler der Kaiserzeit taten, angefangen mit v. Bismarck bis zu v. Bethmann-Hollweg. Denn eine politische Begründung hätte außenpolitisch einen Krieg heraufbeschwören können und innenpolitisch zur Ablehnung der Heeresvorlage geführt, wahrscheinlich sogar zum Sturz des Reichskanzlers. Im Reichstag herrschte ein gesundes Mißtrauen gegenüber Forderungen des Heeres. Militärischen Notwendigkeiten mußte man sich mehr oder weniger unterwerfen, aber niemand im Reichstag wollte die Armee als ein außenpolitisches Instrument sehen.
Unmittelbare Nachteile hatte die militärische Schwäche des Reiches nicht. Rußland war ihm gegenüber militärisch handlungsunfähig. Es führte in den Jahren 1904 und 1905 einen Krieg gegen Japan, den es verlor, und hatte im Jahr 1905 mit einem Revolutionsversuch im Inneren zu kämpfen. Der Neuaufbau des Heeres brauchte mehrere Jahre Zeit. Daraus zogen viele Abgeordnete im Reichstag den falschen Rückschluss, ein Krieg sei für die nächsten Jahrzehnte nicht zu fürchten und ein eigener Heeresausbau nicht erforderlich. Dass Frankreich ohne Unterstützung Rußlands kämpfen würde, war unwahrscheinlich.
Mittelbar führte die Schwäche des Heeres zu einer außenpolitischen Schwächung des Reiches, und der Bau der Schlachtflotte setzte eine außenpolitische Eigendynamik in Gang, die v. Bülow sicherlich nicht erwartet hatte. An seiner Verantwortung für eine Rüstungspolitik, die das Reich in den Untergang führte, ändert dies nichts.
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K.3.4.
Reichskanzler von 1909 bis 1917 war v. Bethmann-Hollweg, geboren 1856. Er und sein Staats-sekretär im Reichsschatzamt, Wermuth, betrieben eine rigorose Sparpolitik. Sie wurde ohne Rücksicht auf die militärischen Erfordernisse des Heeres durchgezogen. In den Jahren 1909 bis 1911 wurden die einmaligen Ausgaben – damit waren die Sach-Investitionen gemeint – in einem Ausmaß abgesenkt, der militärisch nicht zu verantworten war. Im Jahre 1911 wurden personelle Verstärkungen des Heeres nur noch in einem Umfang vorgenommen, den man als lächerlich bezeichnen muß, und nur unter gleichzeitiger Absenkung des Präsenzstandes anderer Einheiten. In der Öffentlichkeit wuchs die Kritik an dieser Politik. Im Jahr 1912 kam es zur Gründung eines deutschen Wehr-vereins, den die Regierung bekämpfte.
Nach der 2. Marokkokrise im Jahr 1911 wurde 1912 eine Flottennovelle beschlossen und eine Heeresverstärkung mit Bildung zweier neuer Divisionen bzw. zweier neuer Armeekorps durchgeführt.
Ob der Reichskanzler an der Flottennovelle aktiv beteiligt war oder ob er sie nur geschehen lassen mußte, weil er sie nicht verhindern konnte, ist unklar. Jedenfalls paßte die Flottennovelle zu seinen Bemühungen, die Beziehungen zu England zu verbessern, wie die Faust aufs Auge. Sie war in gewissem Sinne der Abschluss des Tirpitz'schen Bauprogramms einer Schlachtflotte (3 aktive Geschwader zu je 8 Linien-schiffen). Dazu war der Bau weiterer Schlachtschiffe erforderlich. Von einer Kurskorrektur durch v. Bethmann-Hollweg kann nicht die Rede sein. Nach der damals herrschenden Vorstellung in Regierungskreisen war die Schlachtflotte kein Ausdruck einer antibritischen Politik, sondern eines Verlangens nach Gleichberechtigung mit dem Empire. In London dürfte man das anders gesehen haben - jedenfalls war man nicht bereit, eine Gleichberech-tigung zuzugestehen.
Bei der Heeresverstärkung 1912 orientierte sich der Kriegsminister v. Heeringen an den Weisungen Kaiser Wilhelms II. Er bestand gegenüber dem Reichsschatzamt darauf, etwas militärisch Sinnvolles zustande zu bringen. Dennoch wurde Rücksicht auf die Verstärkung der Schlachtflotte genommen und die Sparpolitik gegenüber dem Heer beibehalten. Es wrde gekürzt, wo es nur möglich erschien. Von wem die Initiative zur Heeresverstärkung ausging, ist unklar. Ihre Entstehung war der Entscheidung über eine Flottenverstärkung zeitlich nach-geordnet. Kriegsminister v. Heeringen war kein Mann der Initiative.
Im Dezember 1912 entstanden im Kriegs-ministerium erste Planungen für eine Heeresverstärkung 1913. Der Generalstab erzwang durch seine Denkschrift vom 21. Dezember 1912 an den Reichskanzler eine „große“ Heeresverstärkung 1913. Die Entscheidung für diese und ihr Volumen - das von der Finanzierbarkeit abhing - traf der Reichskanzler selbst. Damit korrigierte er seine frühere Vernachlässigung des Heeres. Die Bildung neuer Divisionen und Armeekorps scheiterte aber am kompro-mißlosen Widerstand Kaiser Wilhelms II. und des Kriegsministers v. Heeringen. Militärisch durchführbar wäre zumindest die sofortige Neubildung von zwei oder drei Divisionen gewesen. Darüber wurde der Reichskanzler nicht unterrichtet. Der Kriegsminister v. Falkenhayn (1913 - 1915) verneinte dem Reichskanzler gegenüber sogar ausdrücklich die Zweckhaftigkeit weiterer Formationen. Es handelte sich um grobe Verletzungen militärischer Amtspflichten.
Die letzte Chance vor dem Ersten Weltkrieg, die zahlenmäßige Unterlegenheit des deutschen Heeres zu vermindern, wurde vergeben.
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L. Schlusswort
Das Königreich Preußen hat das Deutsche Reich gegründet, und an Preußen ist das Reich innenpolitisch und militärisch gescheitert. Seiner Aufgabe, das Reich zu führen, ist Preußen nicht gerecht worden. Das lag an seinen inneren Verhältnissen.
Preußen erwies sich als politisch nicht reformierbar. Die in ihm herrschenden politischen Parteien beharrten auf einem anachronistisch gewordenen Dreiklassenwahlrecht, das die Einführung einer Demokratie verhinderte. Sie widersetzten sich bis zuletzt der Einführung von Reichssteuern auf den Besitz und das Einkommen. Das einstmals als Übergangslösung gedachte Institut der Matrikularbeiträge war zur Dauerlösung geworden. Eine Bereitschaft der Vertreter, welche die finanz- und besitzstarken Bevöl-kerungskreise in die Parlamente entsandten, für ihre Klientel finanzielle Lasten zugunsten der äußeren Erhaltung des Staates auf sich zu nehmen, ist nicht feststellbar. Das Reich erhielt keine ausreichende Finanzausstattung und das Heer keine ausreichenden Mittel zu seiner personellen und materiellen Ausstattung. Die vermeintlichen oder angeblichen Belange des Königreiches Preußen hatten den unbedingten Vorrang vor denen des Deutschen Reiches.
Das militärische Scheitern Preußens im Frieden hat seine Ursache zunächst und vor allem im mentalen Bereich. Die Willensanspannung, dem Gegner im Westen (Frankreich, England sowie ggf. Belgien) an Formationen für den Kampf gewachsen zu sein, ließ nach. Die zahlenmäßige Unterlegenheit im Westen wurde als eine Gegebenheit hingenommen, die man nicht ändern könne. Im Jahr 1893 war eine Heeres-verstärkung begonnen worden, sie wurde aber bis Kriegsausbruch 1914 hinsichtlich der Heeresorganisation nicht zu Ende geführt. Die Forderung des Generalstabchefs v. Schlieffen, dies zu tun, wurde weder von Kaiser Wilhelm II., noch von seinem Kriegsminister v. Einem noch vom jeweiligen Chef des Militärkabinetts begriffen. Unter dem späteren Kriegsminister v. Heeringen war sie bereits in Vergessenheit geraten. Es handelte sich hierbei um einen zahlenmäßig begrenzten Ausbau des Heeres und keineswegs um eine Forderung nach einer maßlosen Vermehrung. Weitere Nachteile ergaben sich daraus, dass in den Jahren 1904 bis 1911 auch der innere Ausbau des Heeres auf äußerste Sparflamme zurückgeschraubt worden war ohne Rücksicht auf den tatsächlichen Bedarf. Die Heeresverstärkung 1913 konnte nicht in einem Jahr nachholen, was in acht Jahren unterlassen worden war. Fehleinschätzungen und Fehl-entscheidungen des Kriegsministeriums sollte man nicht verschweigen. Sie trugen zur Niederlage von 1914 bei.
Sicherlich liegt die Verantwortung nicht allein bei Preußen. Auch andere Bundesstaaten hatten ihren Anteil an der Finanzmisere des Reiches. Die Verfolgung eigener Interessen zu Lasten des Reiches war allen Bundesstaaten gemein. Schwer verständlich ist, dass andere Bundesstaaten, welche über eigene kompetente Militärs verfügten, nicht verstanden, auf welchen abschüssigen Pfad die Militärpolitik des Deutschen Reiches geraten war. Aber allein Preußen erhob einen Führungsanspruch, dem es sich nicht gewachsen zeigte.