Einleitung: Die Entstehung des Deutschen Reichsheeres
Im 19. Jahrhundert gab es in Europa fünf Großmächte. Das Königreich Preußen war die schwächste unter ihnen. Sein Aufstieg zu einer Militärmacht, die derjenigen Frankreichs ebenbürtig war, begann als Folge des preußischen Sieges über das Kaiserreich Österreich und das Königreich Sachsen bei Königgrätz im Jahr 1866. Mehrere deutsche Bundesstaaten hatten sich auf die Seite Österreichs geschlagen und mit ihren Truppen Krieg gegen Preußen geführt; das Königreich Hannover sogar erfolgreich. Nunmehr annektierte Preußen Schleswig-Holstein, das Königreich Hannover und Hessen-Kassel (Kurhessen). Es wurden 3 neue preußische Armeekorps gebildet: das IX. Armeekorps für Schleswig-Holstein, das X. Armeekorps in Hannover und das XI. Armeekorps in Kassel. Zuvor hatte es 9 preußische Armeekorps (Gardekorps und I. bis VIII. Armeekorps) gegeben, nunmehr waren es 12. Die Einfügung in die preußische Armee gelang in erstaunlich kurzer Zeit.
Ein weiterer - zweiter - Schritt zur Stärkung der preußischen Militärmacht war die Gründung eines Norddeutschen Bundes, in dem die deutschen Staaten nördlich des Mains zusammengefaßt wurden, durch Preußen. In militärischer Hinsicht geschah dies dadurch, dass Preußen mit den einzelnen Staaten Militär-konventionen abschloß, soweit solche nicht bereits bestanden. Das geschah vorzugsweise im Jahre 1867. Die Truppen der deutschen Kleinstaaten wurden in das preußische Heer und sein Militärsystem integriert. Nunmehr sprach man vom Bundesheer (des Norddeutschen Bundes). Dieses so verstärkte Heer wurde später das preußische Heeres-Kontingent innerhalb eines gemeinsamen Deutschen Heeres.
Mit dem Königreich Sachsen, das dem Norddeutschen Bund beitreten mußte, kam es bereits am 7. Februar 1867 zu einer Militärkonvention. Eine Annexion Sachsens durch Preußen war diesem aus politischen Grunden unmöglich, so wünschenswert sie im preußischen Staatsinteresse sein mochte. Aber die Militärkonvention enthielt Bestimmungen, die für Sachsen hart, ja sogar demütigend waren.
Die Königlich Sächsischen Truppen formierten ein in sich geschlossenes Armeekorps nach preußischem Vorbild. Sie bildeten das XII. Armeekorps des Norddeutschen Bundesheeres. Eine Bestandsgarantie wurde nicht gegeben; doch sollten der Verband und seine Gliederung möglichst erhalten bleiben. Die preußischen Reglements für die Ausbildung und Verwendung der Truppen waren ungesäumt zur Anwendung zu bringen. In die innere Verwaltung des Königlich Sächsischen Armeekorps wollte der König von Preußen nicht eingreifen. Jedoch "wollte" der König von Sachsen die Ernennung der Kommandos führenden Generale in jedem Einzelfall von dem Einverständnis des Bundesfeldherrn, also des Königs von Preußen und später des Kaisers, abhängig machen. Den Kommandierenden General des Sächsischen Armeekorps sollte der König von Preußen ernennen; dem König von Sachsen verblieb nur ein Vorschlagsrecht. An den Einrichtungen des Gesamtheeres einschließlich dem Großen Generalstabe sollte das Königlich Sächsische Armeekorps partizipieren.
Der dritte Schritt - der Abschluss von Militärkonventionen mit den süddeutschen Staaten - geschah erst im November 1870, also im Verlaufe des Französisch-Preußischen Krieges 1870. Zuvor hatte es ein Schutz- und Trutzbündnis gegeben. Nach der französischen Kriegserklärung an Preußen am 19. Juli 1870 erklärten die süddeutschen Staaten den Bündnisfall für gegeben und traten mit ihren Truppen an die Seite Preußens.
In der Militärkonvention zwischen Preußen und dem Großherzogtum Baden vereinbarten diese, daß die badischen Truppen unmittelbarer Bestandteil der preußischen Armee als deren XIV. Armeekorps wurden. Sie sollten als ein eigener Großverband innerhalb der preußischen Armee erhalten bleiben. Der König von Preußen übernahm alle Rechte und Pflichten des Kontingents- und Kriegsherrn.
Das Königreich Württemberg wahrte die Selbständigkeit seiner Truppen als ein in sich geschlossenes Armeekorps im Deutschen Reichsheer. Es erhielt die Bezeichnung XIII. Armeekorps. Maßgebend waren die preußischen Normen. Die Offiziere und Beamten wurden durch den König von Württem-berg bestimmt, der Kommandierende General des XIII. Armeekorps nach vorangegangener Zustimmung des Bundesfeldheern, also des Königs von Preußen, dem später die Bundesstaaten den Titel Deutscher Kaiser zuerkannten.
Das Königreich Bayern schloss keine Militärkonvention mit Preußen ab. Es schloß am 23. November 1870 mit dem Norddeutschen Bund, vertreten durch den König von Preußen, einen
"Vertrag, betreffend den Beitritt Bayerns zur Verfassung des Deutschen Bundes"
ab. Dieser Vertrag regelte in seinem Teil III. militärische Fragen. Die Kern-bestimmungen lauteten:
"Das Bayerische Heer bildet einen in sich geschlossenen Bestandteil des Deutschen Bundesheeres mit selbständiger Verwaltung unter der Miltärhoheit Seiner Majestät des Königs von Bayern, im Kriege - und zwar mit Begnn der Mobilisierung - unter dem Befehl des Bundes-feldherrn.
In bezug auf Organisation, Formation, Ausbildung und Gebühren, dann hinsichtlich der Mobilmachung wird Bayern volle Übereinstimmung mit den für das Bundesheer bestehenden Normen herstellen.
Bezüglich der Bewaffnung und Ausrüstung sowie der Gradabzeichen behält sich die Königlich Bayerische Regierung die Herstellung der vollen Übereinstimmung mit dem Bundesheer vor."
Für Bayern gelten die Artikel 61 bis 68 der Bundesverfassung - der späteren Reichsverfassung 1871 -, welche das Militärwesen betreffen, nicht. Im Übrigen sind nur die Militärgesetze des Bundes für Bayern maßgebend. Die preußischen Militär-Reglements kümmern Bayern nicht - so die Theorie.
Die Bayerischen Armeekorps, Divisionen und Regimenter führen selbst-verständlich wie bisher eine eigene Nummerierung. Für die Kosten des Bayerischen Heeres wurde ihm vom Reich eine Quote an dessen Militär-ausgaben pauschal überwiesen. Sie entsprach dem Anteil der Bevölkerung Bayerns an der Gesamtbevölkerung des Reiches. Dem Bundesrat wie dem Reichstag war lediglich die Überweisung dieser Summe an Bayern nachzu-weisen. Alles andere war Sache Bayerns.
Zusammenfassend läßt sich sagen:
Man kann der Meinung sein, dass der innere Zusammenhalt des Deutschen Heeres vorzugsweise durch diese Militärkonventionen zustande kam und gesichert wurde, da diese unmittelbare Pflichten gegenüber dem König von Preußen begründeten, aber auch, weil hier regionalen Besonderheiten Rechnung getragen wurde. Nachteilig wirkte sich aber aus, dass jede Heereskontingent seine eigene Versorgung durch ein eigenes Kriegs-ministerium hatte. Nachschub und Beschaffung waren nicht einheitlich.
Die Organisation des deutschen Heeres
Die Zuständigkeiten für das deutsche Heer oder Reichsheer waren in der Reichsverfassung von 1871 zwischen Gesetzgeber (Bundesrat und Reichs-tag) und Exekutive (Kaiser und Reichskanzler) aufgeteilt. Die Aufteilung soll im Folgenden dargestellt werden. Ein Übersichtsschema über die Aufteilung der Zuständigkeiten, was die Friedensorganisation angeht, wird diesem Aufsatz als Anlage beigegeben.
1.
Organisationsschema im Frieden
Hier: Die Gesetzgebung
Artikel 62 Absatz 4 der Reichsverfassung von 1871 lautet
"Bei der Feststellung des Militär-Ausgabe-Etats wird die auf Grundlage dieser Verfassung gesetzlich feststehende Organisation des Reichsheeres zu Grunde gelegt."
Der Militär-Ausgabe-Etat war Bestandteil des Reichshaushalt-Etats. Die Bestimmung setzt die Heeres-organisation mit dem Staatshaushaltsplan in Beziehung. Der Gesetzgeber übt sein verfassungsmäßiges Budgetrecht mit der Feststellung des Staatshaushalts durch das sogenannte Etatsgesetz aus. Dieses Budgetrecht wird eingeschränkt, indem die gesetzlich feststehende Heeresorganisation dem Haushaltsplan zugrunde zu legen ist. Die Exekutive, hier die Heeresverwaltung, wird dadurch vor willkürlichen Eingriffen des Gesetzgebers geschützt. Um diesen Schutz zu erhalten, bleibt ihr nichts anderes übrig, als die Heeresorganisation gesetzlich feststellen zu lassen.
Das Reichsmilitärgesetz vom 2. Mai 1874 enthält ein Organisationsschema:
1.1
Ursprüngliche Fassung
§ 2 Absatz 2
„In der Regel wird
bei der Infanterie aus drei Bataillonen,
bei der Kavallerie aus fünf Eskadrons,
bei der Artillerie aus 2-3 Abteilungen bzw. Bataillonen
ein Regiment formiert.
§ 3
Zwei oder drei Regimenter werden zu einer Brigade,
zwei oder drei Brigaden der Infanterie und Kavallerie zu einer Division vereinigt.
Aus zwei bis drei Divisionen
mit den entsprechenden Artillerie-, Pionier- und Train-Formationen
wird ein Armeekorps gebildet,
derart, dass die gesamte Heeresmacht des Deutschen Reiches im Frieden
aus 18 Armeekorps besteht.
......
Für je drei bis vier Armeekorps aus besteht eine Armee-Inspektion.
§ 5
Das Gebiet des Deutschen Reiches wird in militärischer Hinsicht
in 17 Armeekorps-Bezirke eingeteilt.“
1.2
Das Gesetz wurde hinsichtlich der Anzahl der Armeekorps und der Korpsbezirke wiederholt geändert:
ab 1. April 1890
gab es 20 Armeekorps und 19 Korpsbezirke
ab 1. April 1899
gab es 23 Armeekorps und 22 Korpsbezirke
ab 1. Oktober 1912
gab es 25 Armeekorps und 24 Korpsbezirke
1.3
Im Änderungsgesetz vom 25. März 1899 wurde die Artillerie in Feldartillerie
und Fußartillerie aufgespalten und zwischen Divisionen und Armeekorps aufgeteilt.
Der neue Wortlaut des § 3 ab 1. April 1899, soweit geändert:
„ Zwei oder drei Regimenter werden zu einer Brigade,
zwei oder drei Brigaden der Infanterie und Kavallerie
unter Zuteilung der nötigen Feldartillerieformationen
zu einer Division vereinigt.
Aus zwei bis drei Divisionen
mit den erforderlichen Fußartillerie-, Pionier- und Train-Formationen
wird ein Armeekorps gebildet, …..
1.4
Anmerkungen des Aufsatzverfassers:
Das Armeekorps war die höchste Organisationseinheit im Frieden. Als Verwaltungsbehörde wurde es Generalkommando genannt und stand unmittelbar unter den Kriegsministerien, die aber keine Befehls- und Kommandogewalt hatten. Befehligt wurde das Armeekorps von einem Kommandierenden General. Er besaß das Recht zum unmittelbaren Sachvortrag bei Seiner Majestät dem Kaiser.
Die Differenz von einem Armeekorps zwischen der Anzahl der bestehenden Armeekorps und den Armeekorps-Bezirken ist durch das preußische Gardekorps veranlasst, das keinen eigenen Armeekorps-Bezirk hatte (und außerdem eine eigene Numerierung der Regimenter und Divisionen!).
Die Einteilung des Heeres in Armeekorps war, soweit es die Bundesstaaten Baden, Bayern, Sachsen und Württemberg angeht, durch sogenannte Militärkonventionen zwischen ihnen und Preußen bzw. dem Norddeutschen Bund, vertreten durch dessen Präsidium - und das war der König von Preußen - geregelt. Bayern, Sachsen und Württemberg bestanden auf eigenen Armeen und das bedeutete, dass es für ihre Armeen eigene Armeekorps gab. Die Bayerischen Armeekorps hatten ihre eigene Zählweise. Für Baden gab es ein eigenes Armeekorps innerhalb der königlich preußischen Armee, das XIV. Armeekorps.
Von den 25 Armeekorps, welche das Heer seit 1. Oktober 1912 zählte, waren also 7 Armeekorps durch Militärkonventionen zwischen Preußen und den anderen Bundesstaaten vertraglich festgelegt.
Den Armee-Inspektionen stand ein Armee-Inspekteur vor. Seine Aufgabe bestand darin, bestimmte Armeekorps zu inspizieren. Darüber berichtete er auf dem Dienstweg und forderte gegebenenfalls Abstellung von Mängeln. Befehlsgewalt über die zu inspizierenden Armeekorps besaß er nicht. Für den Kriegsfall waren die Armee-Inspekteure als Armee-Oberbefehlshaber vorgesehen.
Es wird deutlich, dass auf der Organisationsebene der Divisionen bzw. der Armeekorps zusätzliche Einheiten zu den Infanterieregimentern bzw. - brigaden erforderlich waren.
Dass ein Armeekorps oder eine Division zu einem bestimmten Zeitpunkt aufgestellt oder neu gebildet wird, bedeutet nicht, dass die darin zusammengefassten Einheiten alle zu eben jenem Zeitpunkt neu aufgestellt worden wären. Die Aufstellung konnte bereits früher erfolgt sein oder zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt werden. Das ist im Einzelfall zu untersuchen.
2.
Die Friedenspräsenzstärke des Heeres
Hier: die Gesetzgebung
2.1
Die Reichsverfassung 1871 bestimmte in Artkel 60 Satz 2:
„Die Friedenspräsenzstärke des Heeres (wird) im Wege der Reichsgesetzgebung festgestellt.“
Die Feststellung konnte durch eigene Heeresgesetze, aber auch durch den alljährlichen Reichshaushalts-Etat erfolgen. Dieser wurde als Anhang zum sogenannten Etatsgesetz festgestellt. Das Etatsgesetz war formell ebenso ein Gesetz wie ein Heeresgesetz. Beide Alternativen waren zulässig.
Alternative 1 - Feststellung in eigenen Heeresgesetzen:
Als erstes Heeresgesetz zu nennen ist das Reichsmilitärgesetz vom 02. Mai 1874. Es stellte die Friedenspräsenzstärke für die Zeit vom 1. Januar 1875 bis zum 31. Dezember 1881 fest.
Das nächste Gesetz datierte vom 6. Mai 1880. Es änderte bzw. ergänzte das Reichsmilitärgesetz für die Zeit vom 1. April 1881 bis zum 31. März 1888. Auch dieses Gesetz enthielt eine Feststellung der Friedens-präsenzstärke.
Weitere Änderungs- bzw. Ergänzungsgesetze folgten in unregelmäßigen Zeitabständen. Das letzte Heeresgesetz dieser Art war das Heeresgesetz vom 3. August 1893, Reichsgesetzblatt 1893 Seite 233. Es wurde durch Gesetz vom 28. Juni 1896, Reichsgesetzblatte 1896 Seite 179, geändert.
Kennzeichnend für diese Feststellung ist, dass eine bestimmte Stärke bzw. Anzahl an Einheiten mit Beginn des Geltungsraumes für dessen gesamte Dauer festgestellt wird. Es ist ein starres System, das innerhalb des Geltungszeitraumes keine Änderung zuläßt. Will man gleichwohl eine Änderung haben, muss das Gesetz zu einem bestimmten Zeitpunkt aufgehoben und durch ein neues Gesetz ersetzt werden.
Alternative 2 Feststellung im jährlichen Reichshaushalts-Etat:
Mit dem Heeresgesetz 1899 - das die Friedenspräsenzstärke vom 1.10.1899 bis zum 31.3.1904 bzw. 31.3.1903 betraf - erfolgte ein militärischer und rechtlicher Systemwechsel. Erstmalig enthielt dieses Heeresgesetz keine Feststellung der Friedenspräsenzstärke, sondern Zielsetzungen, welche die Heeresverwaltung innerhalb eines bestimmten Zeitraumes allmählich erreichen sollte. Die Konkretisierung dieser Zielsetzungen erfolgte alljährlich, wie bereits gesagt, durch den jeweiligen Reichshaushalts-Etat.
Die erstmalige Feststellung der Friedenspräsenzstärke im Reichshaushalts-Etat dürfte für das Rechnungsjahr 1900 erfolgt sein. Grundlage des Reichs-haushaltsgesetzes war Artikel 69 der Reichsverfassung. Er bestimmte:
"Alle Einnahmen und Ausgaben des Reiches müssen für jedes Jahr veranschlagt und auf den Reichshaushalts-Etat gebracht werden. Letzterer wird vor Beginn des Etatjahres nach folgenden Grundsätzen durch ein Gesetz festgestellt...."
2.2
Der Begriff der Friedenspräsenzstärke, wie ihn die Reichsverfassung ver-wendete, umfaßte nicht die Offiziere, Ärzte und Beamte des Heeres. Das ist eine geschichtliche Eigenart. Die Logik würde es nahelegen, auch die Offiziere zur Friedenspräsenzstärke zu zählen. Aber der seinerzeitige Sprachgebrauch war ein anderer.
Die Anzahl der Offiziere, Ärzte und Beamten des Heeres richtete sich allein nach den im jährlichen Reichshaushalts-Etat für sie bei den einzelnen Heeresbereichen ausgewiesenen Planstellen, § 4 letzter Absatz des Reichsmilitärgesetzes vom 2. Mai 1874. Durch die Bestimmungen über die Friedenspräsenzstärke, soweit es um die Anzahl der Grundeinheiten ("Cadres") ging, machte sich der Gesetzgeber dabei selbst Vorgaben.
Die Friedenspräsenzstärke des Heeres umfaßte nur die Unteroffiziere und die Mannschaften, also die Wehrpflichtigen, die - im Regelfalle - ihren Grundwehrdienst ableisteten.
Im Reichsmilitärgesetz vom 2. Mai 1874 war noch eine einheitliche Zahl für Unteroffiziere und Mannschaften ausgeworfen worden. Dieses Verfahren wurde in späteren Heeresgesetzen nicht beibehalten. Nur noch die Anzahl der Mannschaften - also der Wehrpflichtigen - wurde im Heeresgesetz festgestellt, aber nicht mehr die der Unteroffiziere.
Erstmals im Heeresgesetz vom 3. August 1893 wurde dann ausdrücklich festgelegt:
"Die Stellen der Unteroffiziere unterliegen in gleicher Weise wie die der Offiziere, Ärzte und Beamten der Feststellung durch den Reichs-haushalts-Etat."
Es fand also eine Angleichung des Verfahrens für die Unteroffiziere an das Verfahren für die Offiziere statt.
Ab dem 1. Oktober 1899 unterlag dann auch - der letzte Schritt zur Herstellung des Etatrechts des Reichstags - die Erhöhung der Friedens-präsenzstärke bei den Mannschaften
und die Verteilung (der) Erhöhung auf die einzelnen Waffengattungen
ebenso wie die Zahl der Stellen für Offiziere, Ärzte, Beamte und Unteroffiziere der Feststellung durch den Reichshaushalts-Etat.
So formulierten es alle Heresgesetze ab dem "Gesetz, betreffend die Friedenspräsenzstärke des deutschen Heeres vom 25. März 1899".
Damit war die geschichtliche Entwicklung abgeschlossen. Für die Zukunft erfolgte die Festsetzung der Friedenspräsenzstärke des Heeres allein durch den Gesetzgeber. Ausschlaggebend war dabei der Reichstag.
2.3
Kommentar des Aufsatzverfassers:
Es hat seit der Reichsgründung bis zum Jahr 1899 eine geschichtliche Entwicklung gegeben. Ursprünglich hatte der Kaiser ein weitgehendes Recht, auf die Feststellung der Friedenspräsenzstärke des Heeres Einfluß zu nehmen. Dieses Recht hat ihm der Reichstag Schritt für Schritt beschnitten. Das Werkzeug hierzu war das sogenannte Budgetrecht des Reichstags. Am Ende stand die Feststellung der Friedenspräsenzstärke allein durch den Gesetzgeber. Auch wenn sich der Reichstag seine Befugnis zur Gesetz-gebung mit dem Bundesrat teilen mußte, so wurde er doch im Laufe der Zeit zum politisch ausschlaggebenden Verfassungsorgan. Dem Kaiser bzw. dem preußischen Kriegsminnister verblieb nur ein geringer Spielraum. Er bestand darin, dass die vom Reichstag jährlich festgestellte Friedens-präsenzstärke keine absolute Größe war, sondern als Jahresdurch-schnittsziffer definiert wurde. Innerhalb des Jahres durfte es Schwankungen geben, die sich auf das Jahr gesehen zur Durchschnittsstärke auszu-gleichen hatten.
3.
Es waren zwei Größen, welche der Gesetzgeber durch ein Reichsgesetz festlegte, nämlich
3.1
die Anzahl der Grundeinheiten (die Militärs sprachen von Cadres) des Heeres, aus denen sich die höheren Verbände zusammensetzten, siehe vorstehend 1.1 vor Regimentern. Dies waren Bataillone, Eskadrons und Batterien.
Das Reichsmilitärgesetz stellte für die Zeit bis zum 31.12.1881 in § 2 fest:
„Die Infanterie wird formiert in 469 Bataillonen,
die Kavallerie in 465 Eskadrons,
die Feldartillerie in 300 Batterien, von welchen je 2-4 eine Abteilung bilden; die Fußartillerie in 29,
die Pioniertruppe und der Train in je 18 Bataillonen.“
In den Heeresgesetzen 1912 und 1913, den letzten Heeresgesetzen vor Kriegsausbruch 1914, finden sich Zielsetzungen, die bis 31. März 1916 zu erreichen waren:
Infanterie 669 Bataillone
Kavallerie 550 Eskadrons
Feldartillerie 633 Batterien
Fußartillerie 55 Bataillone
Pioniere 44 Bataillone
Verkehrstruppen 31 Bataillone
Train 26 Bataillone
3.2
die absolute Höhe der Heeresstärke (Etatstärken)
Das Reichsarchiv gibt die Etatstärken mit folgenden Zahlen an:
für das Jahr 1875
Offiziere 17.213
Unteroffiziere 53.956
Gemeine und Gefreite 347.703
Summe 418.872
für das Jahr 1912
Offiziere 27.267
Unteroffiziere 92.347
Gemeine und Gefreite 531.004
Summe 650.618
für das Jahr 1913/14
Offiziere 30.459
Unteroffiziere 107.794
Gemeine und Gefreite 647.793
Summe 786.046
Die tatsächlich vorhandene Gesamtfriedensstärke bei Kriegsausbruch 1914 gibt das Reichsarchiv mit 725.000 Unteroffizieren und Mann an. Für die Offiziere fehlt eine entsprechende Angabe.
3.3
In den Darstellungen, die von Historikern zu dem hier behandelten Sachverhalt gegeben werden, finden sich Abweichungen. So wird behauptet,
Der Aufsatzverfasser stellt dazu fest, dass der Artikel auf das Etatsgesetz (Haushaltsgsetz) verweist. Die Feststellung des Etatsgesetzes liegt in der Zuständigkeit des Gesetzgebers, Artikel 69 Satz 2 der Reichsverfassung. Das Etatsgesetz wird alljährlich für ein Rechnungsjahr festgestellt.
Dem Aufsatzverfasser ist es nicht gelungen, derartige Sieben-Jahres-Militärbudgets zu finden. Im Reichsgesetzblatt zu finden waren nur die alljährlichen Haushaltsgesetze. Sie haben Anlagen, in denen die Einnahmen und Ausgaben des Reiches aufgegliedert werden. Unter den Ausgaben findet man regelmäßig eine Unterteilung der ordentlichen Ausgaben des Reiches in fortdauernde Ausgaben und einmalige Ausgaben. Jeweils eine Abteilung davon betrifft die „Verwaltung des Reichsheeres“.
Als Beispiel wird hier das
"Gesetz, betreffend die Feststellung des Haushalts-Etats des Deutschen Reichs für das Etatsjahr 1878/79"
Reichsgesetzblatt 1878 Nr. 8 Seite 17 - 83
genannt. Der Abschnitt V des Haushalts-Etats ist überschrieben mit "Verwaltung des Reichsheeres" und enthält über mehrere Seiten hinweg in 44 Kapiteln verschiedene Ausgabenpositionen.
4. Kommentierung des Aufsatzverfassers zur Friedenspräsenzstärke
Ein Vergleich der Zahlen von 1913/14 mit denen von 1874/75 zeigt:
4.1 Organisationsgrad
1874/75 wurden aus 469 Infanterie-Bataillonen (davon 26 Jäger-Bataillone) im Frieden 37 Divisionen gebildet.
1913/14 wurden aus 669 Infanterie-Bataillonen (davon 18 Jäger-Bataillone) im Frieden 50 Divisionen gebildet.
Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung:
Der Organisationsgrad der vorhandenen Bataillone zu Divisionen war 1874/75 höher als 1913/14.
Die Ursache des niedrigeren Organisationsgrades ist ohne weiteres feststellbar:
General v. Einem, Kriegsminister von 1903 bis 1909, hatte entschieden, für den Kriegsfall eine Verlagerung von Friedens-Bataillonen hin zu Reserve-divisionen vorzunehmen.
Das war eine Billiglösung, wie bereits General v. Schlieffen festgestellt hatte. Die Reservedivisionen waren den im Frieden bestehenden Divisionen nicht gleichwertig. General v. Einem wollte Kosten vermeiden.
1874/75 war das Deutsche Reich die militärisch vorherrschende Macht auf dem europäischen Festland. Keine der Armeen seiner Nachbarn hätte es wagen dürfen, sich mit ihm zu messen.
1913/14 war zweifelhaft, ob das Deutsche Reich und das ihm verbündete Österreich-Ungarn der überlegenen Macht der Triple-Entente (Frankreich Russland und England) würden standhalten können.
Der vorstehend beschriebene unzureichende Organisationsgrad des deut-schen Heeres, was die Zahl seiner Divisionen angeht, bietet eine erste Erklärung für diesen Sachverhalt.
Dass die führenden preußischen Generäle von 1913/14 dies nicht begrif-fen, wirft kein gutes Licht auf ihre militärische Qualifikation. Dass sie teil-weise hervorragende militärhandwerkliche Qualitäten besaßen, wird damit nicht bestritten.
4.2 Zu den einzelnen Waffengattungen ist zu sagen:
Verkehrstruppen
Zu ihnen gehörten Eisenbahn- und Kraftfahrtruppen, Telegraphentruppen sowie Luftschiffer- und Fliegertruppen. Sie gab es 1874 noch nicht (mit Ausnahme eines Eisenbahn-Bataillons), sondern sie kamen seit 1900 neu hinzu. Ihr bedarfsgerechter Ausbau wurde jedoch erst 1913 in die Wege geleitet. Dies geschah auf Verlangen des Generalstabs. Für eine neuzeit-liche Kriegführung waren die Verkehrstruppen unentbehrlich. Ihre verhält-nismäßig geringe Personalstärke durfte nicht über ihre hervorragende Bedeutung für die Kriegführung hinwegtäuschen.
Feldartillerie-Batterien
Die Verdoppelung der Batterie-Anzahl springt ins Auge. Sie zeigt die steigende Bedeutung diese Waffe. Bereits im Kriege 1870 war die Feld-artillerie die ausschlaggebende Waffe gewesen. Die Schaffung neuer Feldartillerie-Formationen in Frankreich führte ab 1890 zur Aufstellung neuer Feldartillerie-Batterien in Deutschland. Bis gegen 1900 hatte das Deutsche Reich fast mit Frankreich gleichgezogen, was die Anzahl neuer Feldkanonen angeht.
Etwa ab 1900 wurden leichte Feldhaubitzen eingeführt, welche die Kanonen-Batterien teilweise ersetzten. Die Zuweisung der Feldartillerie an die Divisionen (Änderungsgesetz zum Reichsmilitärgesetz vom 25. März 1899) schlug sich in einer Neugliederung nieder. Es gab zukünftig für jede Division 1 Brigade Feldartillerie. Als Lücken verblieben 2 fehlende Regi-menter Feldartillerie und bei den Bayerischen Divisionen je 1 Batterie Feld-artillerie.
In den Jahren von 1903 bis 1911 wurden keine neuen Artillerie-Formatio-nen für die Friedensdivisionen geschaffen. Es erfolgte jedoch eine Umrü-stung der Kanonen-Batterien auf Rohrrücklaufgeschütze, da die zuvor verwendete Feldkanone 96 nicht kriegstauglich war.
Die Schließung der vorhandenen Lücken in der Friedensorganisation und die Vereinheitlichung der Gliederung in 450 Kanonen-Batterien und 150 Batterien leichter Feldhaubitzen, die zu einem wesentlichen Teil neu geschaffen wurden, erfolgte erst in den Jahren 1912 bis 1913.
Fußartillerie
Bereits im Jahr 1900 gelangte die militärische Führung – jedenfalls der Generalstab – zu der Einsicht, dass das Feldheer schwere Artillerie benötige. Ursprünglich war die Fußartillerie nur für Belagerungen und zur Verteidi-gung von Festungen gedacht gewesen. Zweigte man hier Fußartillerie zugunsten des Feldheeres ab, entstand eine Lücke. Eine Vermehrung der Haubitz-Bataillone zugunsten des Feldheeres wurde daher notwendig.
Bei der Fußartillerie gab es Mörser-Batterien und Haubitz-Batterien. Die Umbewaffnung der Haubitz-Batterien auf Rohrrücklaufgeschütze zog sich aus Geldmangel über mehrere Jahre hin. Die Anzahl der Geschütze je Batterie wurde von 6 auf 4 herabgesetzt. Das bedeutete eine Verminderung der Geschützzahl um ein Drittel. Dadurch wurden Wehrpflichtige für eine andere Verwendung frei. Eine Vermehrung der Anzahl der Batterien, um diese Verminderung auszugleichen, fand nicht statt.
Jedoch bestanden bei einigen Einheiten Lücken in der Friedensorganisation. Ihnen wurde in den Jahren 1912 und 1913 durch eine Vermehrung der Feldhaubitzen um 16 Batterien bzw. 1 Batterie abgeholfen. Dafür konnten die zuvor freigewordenen Wehrpflichtigen verwendet werden. Eine Erhö-hung der Friedensstärke des Heeres wurde für diesen Zweck nicht erforder-lich. Das war dem Kriegsminister wichtig.
Die Vermehrung um 6 Bataillone für die neu geplanten Ostfestungen, die 1913 bewilligt wurde, wurde vor 1914 nicht mehr umgesetzt.
Infanterie
Die Vermehrung der Infanterie-Bataillone um 200 blieb hinter der Bevölke-rungsentwicklung zurück (1871 41 Millionen, 1910 65 Millionen). Außerdem wurden 33 Bataillone nicht zur Bildung von Friedens-Divisionen verwandt, sondern im Kriegsfall Reservedivisionen zugewiesen.
Nicht aus der Aufstellung ersichtlich ist die Einführung von Maschinen-gewehr-Kompanien. In den Jahren 1912/13 verdoppelte der Kriegsminister General v. Heeringen ihre Anzahl.
Kavallerie
Bei der Kavallerie fand nur eine geringe zahlenmäßige Steigerung der Eskadrons statt. Darin schlug sich die gesunkene militärische Bedeutung der Kavallerie nieder. Die letzte bedeutende Vermehrung nahm der Kriegs-minister im Heeresgesetz 1913 vor. Die Frage, ob dies nicht ein Ana-chronismus war, da die Feindaufklärung zukünftig von Flugzeugen getragen wurde, lag nahe.
Pioniere
Bereits 1900 hatte General Colmar v.d. Goltz eine Verstärkung gefordert, da er einen erhöhten Bedarf sah. Dem trugen die Bewilligungen des Heeres-gesetzes 1913 Rechnung. Sie wurden vor 1914 erst teilweise umgesetzt.
Train
Train-Bataillone gab es für jedes Armeekorps eines, zuzüglich ein Bataillon für das im Kriegsfall neu zu bildende Garde-Reserve-Korps. Die Bataillone hatten im Kriegsfall eine Vielzahl von Einheiten für den Nachschub des Heeres neu aufzustellen. Dazu gehörten auch Sanitätsformationen und Feldlazarette. Spätestens seit 1905 wurde ein erhöhter Bedarf gegenüber früheren Zeiten angenommen. Ihm wurde 1913 durch eine Verstärkung der Bataillone teilweise Rechnung getragen. Eine weitere Verstärkung in Zukunft war in Aussicht genommen.
An Schlussfolgerungen kann man formulieren:
Es bestand in verschiedenen Bereichen ein Bedarf nach Vermehrung bzw. Verstärkung der Einheiten. Dem wurde vor Kriegsausbruch 1914 nur teilweise Rechnung getragen.
Eine Bewertung der Vermehrung der Einheiten zeigt, dass insoweit in den Jahren 1913/1914 keine höhere Militarisierung des Reiches im Frieden bestand als im Jahr 1874. Eher ist das Gegenteil der Fall. Die gestiegene Bevölkerungszahl (60 %) und die gestiegene Wirtschaftsleistung des Reiches durch eine stärkere Industrialisierung sind dabei in Rechnung zu stellen. Die Anzahl der Friedens-Divisionen vermehrte sich um 13 von 37 auf 50 Friedens-Divisionen, das sind 35 %. Die Vermehrung blieb hinter den Mög-lichkeiten ebenso wie hinter dem Bedarf zurück.
4.3 Was die absolute Höhe der Heeresstärke im Frieden angeht, ist zu sagen:
a.
Artikel 60 Satz 1 der Reichsverfassung 1871 legte die Friedenspräsenz-stärke des Heeres bis zum 31. Dezember 1871 auf 1 % der Bevölkerung von 1867 fest.
Die 1 %-Regelung umfaßte sowohl Mannschaften als auch Unteroffiziere.
Mit der 1 %-Regelung wurde ein einheitlicher Maßstab für die Heranziehung der Bevölkerung in den einzelnen Bundesstaaten zum Wehrdienst gewonnen. Sie hatten jeweils 1 % ihrer Bevölkerung zum einheitlichen deutschen Heer aufzubringen. Eine dem entsprechende Anzahl von Truppen war aufzustellen. So findet man ein zusätzliches württem-bergisches Infanterieregiment beim XV. preußischen Armeekorps in Straßburg. Das XIII. (königl. württemberg.) Armeekorps war auch ohne dieses Regiment komplett. Im Gegenzug galt, dass anderweitig ein Ausgleich geschaffen werden mußte, sollte das 1 % der Bevölkerung nicht ausreichen, um die für den Bundesstaat bestehenden militärischen Einheiten aufzufüllen.
Dass die 1 %-Regelung für die Zukunft militärischen Notwendigkeiten entsprochen hätte, stand nicht in der Reichsverfassung. Sie schrieb für die Zukunft den Grundsatz einer gleichmäßigen Heranziehung der Bevölkerung aller Bundesstaaten fest. Mehr war der Verfassung nicht zu entnehmen. Für Bayern und für Sachsen führte die Bevölkerungszunahme zur Aufstellung von je einem neuen Armeekorps, unter Zugrundelegung der 1 %-Regelung. Das waren das III. Bayer. Armeekorps und das XIX. (2. Königl. Sächsische) Armeekorps (ab 1900). In Preußen stockte der Aufbau neuer Armeekorps nach 1900 trotz Bevölkerungszunahme.
Allen Heeresgesetzen seit dem Reichsmilitärgesetz vom 2. Mai 1874 diente die 1 %-Regelung als Orientierung. Sie steckte ab – so wurde es von Politikern und zumeist auch von Militärs gesehen -, was der Bevölkerung im Hinblick auf die steuerliche Belastung einerseits, die Inanspruchnahme der wehrpflichtigen Bevölkerung zum Wehrdienst andererseits als zumutbar erschien. Ob dies den militärischen Notwendigkeiten gerecht wurde, davon war nicht die Rede.
Nimmt man die vom Reichsarchiv für 1912 mitgeteilte Etatstärke von 92.347 Unteroffizieren und 531.004 Mann als Grundlage, so ergibt sich eine Summe von 623.351 als Gesamtfriedensstärke. 1 % der Bevölkerung nach der Bevölkerungszählung 1910 waren 650.000.
Die Friedenspräsenzstärke lag somit unter der 1 % - Marke.
b.
Die militärischen Verhältnisse von 1912 bzw. 1913/14 waren mit denen von 1874/75 nicht mehr vergleichbar.
Bei den Unteroffizieren hatte sich ein höherer Bedarf ergeben, nachdem die Wehrpflicht bei der Infanterie und der fahrenden Artillerie auf zwei Jahre verkürzt worden war. Für die dadurch gestiegene Anzahl von auszubil-denden Wehrpflichtigen brauchte man mehr Ausbildungspersonal. Dem wurde im Rahmen des Heeresgesetzes 1905 Rechnung getragen.
Seit 1900 hatten militärische und technische Entwicklungen zu einem sich immer weiter steigernden höheren Personalbedarf geführt. Einige Beispiele hierfür sollen genannt werden.
Auch für den Präsenzstand der Einheiten wünschten die Militärs nach der Verkürzung der Wehrpflicht eine Erhöhung, damit in ihnen mehr Wehr- pflichtige zur Verfügung standen, die bereits ihre Grundausbildung absolviert hatten.
Die etwa seit 1907/07 zu errichtenden Maschinengewehrkompanien führten bis 1913 zu einem Mehrbedarf an über 12.000 Wehrpflichtigen, selbstverständlich auch zu einem Mehrbedarf an Unteroffizieren und Offizieren.
Die Verkehrstruppen erforderten die Aufstellung neuer Bataillone, ebenso die Pioniere, der Train mußte verstärkt werden…
Man geht wohl nicht fehl, wenn man den Mehrbedarf an Wehrpflichtigen für Maschinengewehr-Kompanien und Verkehrstruppen seit 1900 auf eine Größenordnung auf mindestens 5 % des seinerzeitigen Bestandes schätzt.
Wurde der Mehrbedarf nicht befriedigt, blieb das Heer sowohl quantitativ als auch qualitativ hinter dem seiner Nachbarstaaten zurück. Dies war bei dem deutschen Heer vor 1914 der Fall.
c.
In den Erörterungen zwischen dem Generalstab und dem Kriegs-ministerium, die dessen Heeresvorlage 1913 vorangingen, argumentierte das Ministerium dahingehend, man sei gegenüber früheren Zeiten nicht zurückgeblieben. Die Zahl der einberufenen Wehrpflichtigen bewege sich nach wie vor im Bereich der 1 %-Regelung.
Der vorstehend beschriebene Mehrbedarf wurde in der Argumentation des Kriegsministeriums nicht berücksichtigt. Sie ist daher als nicht sachgerecht anzusehen.
5. Friedenspräsenzstärke
Zeitliche Abfolge der Heeresgesetze
Wer sich über die Militärpolitik des Kaiserreiches im Frieden unterrichten will, dem sei empfohlen, sich mit der zeitlichen Abfolge der Heeresgesetze zu befassen. Auf den ersten Blick erscheint dies als eine "trockene" Materie. Sie eröffnet aber den Blick zu wesentlichen Erkenntnissen. Es waren politische Prozesse, die hier abliefen, und die Heeresgesetze waren der Ausdruck und das Ergebnis dieser Prozesse. Die nachstehende Einteilung folgt rechtlichen, nicht inhaltlichen Merkmalen.
5.1 Zeitraum vom 1. Januar 1875 bis 30. September 1899
In diesem Zeitraum wurde die Friedenspräsenzstärke durch besondere Heeresgesetze festgestellt.
Es sind hier zu nennen:
Reichsmilitärgesetz vom 02. Mai 1874. Es stellte die Friedenspräsenzstärke für die Zeit vom 1. Januar 1875 bis zum 31. Dezember 1881 fest.
Gesetz, betreffend Ergänzungen und Änderungen des Reichsmilitärgesetzes vom 6. Mai 1880. Es stellte die Friedenspräsenzstärke für die Zeit vom 1. April 1881 bis zum 31. März 1888 fest.
Gesetz, betreffend die Friedenspräsenzstärke des deutschen Heeres vom 11. März 1887. Es stellte die Friedenspräsenzstärke für die Zeit vom 1. April 1887 bis zum 31. März 1894 fest. Bisherige Bestimmungen, soweit entgegenstehend, wurden zum 31. März 1887 außer Kraft gesetzt.
Gesetz, betreffend die Friedenspräsenzstärke des deutschen Heeres vom 15. Juli 1890. Es stellte die Friedenspräsenzstärke für die Zeit vom 1. Oktober 1890 bis zum 31. März 1894 fest. Bisherige Bestimmungen, soweit entgegenstehend, wurden zum 1. Oktober 1890 außer Kraft gesetzt.
Gesetz, betreffend die Friedenspräsenzstärke des deutschen Heeres vom 3. August 1893. Es stellte die Friedenspräsenzstärke für die Zeit vom 1. Oktober 1893 bis zum 31. März 1899 fest. Bisherige Bestimmungen, soweit entgegenstehend, wurden zum 1. Oktober 1893 außer Kraft gesetzt.
Gesetz, enthaltend Änderungen des Gesetzes, betreffend die Friedens-präsenzstärke des deutschen Heeres vom 3. August 1893, vom 28. Juni 1896. Es enthielt eine Neufestsetzung militärischer Grundeinheiten. Die absolute Höhe der Friedensstärke wurde nicht geändert.
Gesetz, betreffend die Friedenspräsenzstärke des deutschen Heeres vom 25. März 1899. § 1 des Gesetzes bestimmte, dass das Heeresgesetz vom 3. August 1893 mit den Änderungen durch das Gesetz vom 28. Juni 1896 bis zum 30. September 1899 in Kraft blieb.
Anmerkungen:
In diesem Zeitraum gab es 3 Heeresgesetze, welche die Heeresstärke verbindlich für 7 Jahre festlegten (sog. Septennate). Diese Zeiträume wurden nicht eingehalten, sondern die bestehenden Heeresgesetze jeweils vor Fristablauf durch neue Gesetze ersetzt. Die bisherigen Regelungen wurden außer Kraft gesetzt. Man sprach dann von einem "Bruch" des Septennats. Dies wurde als ein Mißstand angesehen. Die Reichsleitung sah sich mit heftigen Vorwürfen aus dem Reichstag konfrontiert. Warum verlange die Reichsleitung eine Feststellung für sieben Jahre, um bereits nach drei Jahren eine neuerliche Feststellung zu verlangen? Warum begnüge sie sich dann nicht mit einer Feststellung nur für drei Jahre?
Das Heeresgesetz vom 3. August 1893 verkürzte daher den neuen Feststellungszeitraum auf fünfeinhalb Jahre (sog. Quinquennat). Das Heeresgesetz vom 28. Juni 1896 vermied einen "Bruch" des Quinquennats, indem es den Feststellungszeitraum (bis zum 31. März 1899) unangetastet ließ, gleichwohl aber die Anzahl der Formationen änderte. Das war eine zukunftsweisende gesetzgeberische Lösung.
Auf die Feststellung der Friedenspräsenzstärke in einem besonderen Heeresgesetz über mehrere Jahre gibt es zwei unterschiedliche Sichtweisen:
Der Reichstag strebte eine Änderung an, um zu einer alljährlichen Festlegung der Heeresstärke im Reichshalts-Etat zu gelangen. Er berief sich dabei auf den wiederholten "Bruch" des Septennats durch die Reichsleitung.
5.2 Zeitraum vom 1. Oktober 1899 bis Kriegsausbruch 1914
Die Friedenspräsenzstärke wird alljährlich durch den Reichshaushalts-Etat festgestellt. Die Heeresgesetze legen verbindliche Ziele fest, die von der Heeresverwaltung innerhalb eines bestimmten Zeitraumes zu erreichen sind.
Es sind hier zu nennen:
Gesetz, betreffend die Friedenspräsenzstärke des deutschen Heeres vom 25. März 1899. Es enthielt verbindliche Zielsetzungen für die Heeres-verwaltung, die in dem Zeitraum vom 1. Oktober 1899 bis zum 31. März 1904 bzw. 31. März 1903 zu erreichen waren. Die gesetzlichen Bestim-mungen lauteten:
§ 2
Vom 1. Oktober 1899 an wird die Friedenspräsenzstärke des deutschen Heeres als Jahresdurchschnittsstärke
allmählich
derart erhöht, dass sie im Laufe des Rechnungsjahrs 1903 die Zahl von 495.500 Gemeinen, Gefreiten und Obergefreiten erreicht und in dieser Höhe bis zum 31. März 1904 bestehen bleibt.
§ 3
In Verbindung mit der durch § 2 bezeichneten Erhöhung der Friedenspräsenzstärke ist die Zahl der vorhandenen Informationen so zu vermehren, dass am Schlusse des Rechnungsjahrs 1902 bestehen:
bei der Infanterie 625 Bataillone
bei der Kavallerie 432 Eskadrons
bei der Feldartillerie 574 Batterien
bei der Fußartillerie 38 Bataillone
bei den Pionieren 26 Bataillone
bei den Verkehrstruppen 11 Bataillone
bei dem Train 23 Bataillone
§ 4
In den einzelnen Rechnungsjahren unterliegt die Erhöhung der Friedenspräsenzstärke nach Maßgabe des § 2 dieses Gesetzes und die Verteilung jener Erhöhung auf die einzelnen Waffengattungen, ebenso wie die Zahl der Stellen für Offiziere, Ärzte, Beamte und Unteroffiziere
der Feststellung durch den Reichshaushalts-Etat.
(Ende Gesetzestext)
Gesetz, enthaltend die Verlängerung des Gesetzes, betreffend die Friedens-präsenzstärke des Deutschen Heeres vom 22. Februar 1904. Es enthielt eine Verlängerung des § 2 des Heeresgesetzes vom 25. März 1899 (Text siehe vorstehend) bis zum 31.März 1905, also um ein Jahr. Hinsichtlich der Anzahl der Formationen, die das Gesetz vom 25. März 1899 in § 3 bis zum 31. März 1903 zu vermehren vorgeschrieben hatte, enthielt das Gesetz keine Bestimmung.
Gesetz, betreffend die Friedenspräsenzstärke des deutschen Heeres vom 15. April 1905. Es enthielt verbindliche Zielsetzungen für die Heeres-verwaltung, die in dem Zeitraum vom 1. April 1905 bis zum 31. März 1911 zu erreichen waren. Der Reichskanzler bzw. der preußische Kriegsminister hatten einen Zeitraum bis zum 31. März 1910 beantragt (Quinquennat). Der Reichstag verlängerte den Zeitraum auf das Schlussdatum 31.3.1911.
Der § 3 des Gesetzes entsprach dem § 4 des Heeresgesetzes vom 25. März 1899, dessen Text vorstehend wiedergegeben ist. Und im Gesetz fand sich folgende Bestimmung zur Reduzierung der Friedenspräsenzstärke:
"Von der Friedenspräsenzstärke gehen 2000 Ökonomiehandwerker ab, für deren Ersatz durch Zivilhandwerker die Vorbereitungen spätestens bis zum 31. März 1910 im Etat zu treffen sind. Die Verminderung der Zahl tritt mt dem Ersatz ein."
Gesetz, betreffend die Friedenspräsenzstärke des deutschen Heeres vom 27. März 1911. Es enthielt verbindliche Zielsetzungen für die Heeres-verwaltung, die in dem Zeitraum vom 1. April 1911 bis zum 31. März 1916 zu erreichen waren. Der § 3 des Gesetzes entsprach dem § 3 in dem Vorgängergesetz vom 15. April 1905 bzw. dem § 4 des Heeresgesetzes vom 25. März 1899, dessen Text vorstehend wiedergegeben ist.
(Erstes) Ergänzungsgesetz vom 14. Juni 1912 zum Gesetz, betreffend die Friedenspräsenzstärke des deutschen Heeres vom 27. März 1911. Die Zielsetzungen dieses Gesetzes wurden nach oben korrigiert. Das betraf sowohl die Anzahl der Formationen als auch die absolute Höhe der Friedenspräsenzstärke. Der Geltungszeitraum des Heeresgesetzes 1911 blieb unangetastet.
(Zweites) Ergänzungsgesetz vom 3. Juli 1913 zum Gesetz, betreffend die Friedenspräsenzstärke des deutschen Heeres vom 27. März 1911 und zum Ergänzungsgesetz vom 14. Juni 1912. Die Zielsetzungen dieses Gesetzes wurden nach oben korrigiert. Das betraf sowohl die Anzahl der Forma-tionen als auch die absolute Höhe der Friedenspräsenzstärke. Der Geltungszeitraum des Heeresgsetzes 1911 blieb unangetastet.
Kommentar des Aufsatzverfassers:
Die Heeresgesetze ab dem Gesetz vom 25. März 1899 bedeuteten eine Stärkung der Position des Reichstages. Er hatte seine verfassungsmäßige Budgethoheit durchgesetzt. Alle späteren Heeresgesetze hielten an der jährlichen Feststellung der Friedenspräsenzstärke durch den Gesetzgeber fest.
Mit den Belangen des Heeres waren diese Neuregelungen durchaus vereinbar. Das Heer brauchte beides: eine längerfristige Planung und die Möglichkeit, kurzfristig auf militärische oder technische Innovationen reagieren zu können. Die Heeresgesetze ab dem Gesetz vom 25. März 1899 gaben ihm beides. Wer dies nicht verstand, war General v. Einem, preußischer Kriegsminister von 1903 bis 1909.
Das Verständnis, dass das Heer eine längerfristige Planung brauchte, gewnn im Reichstag nur allmählich Raum. Forderungen, auf die Heeresgesetze Verzicht zu leisten und sich auf die Feststellung der Friedenspräsenzstärke im Rahmen des jährlichen Reichshaushalts-Etats zu beschränken, waren verfehlt. Manche Abgeordnete gingen sogar soweit, die Heeresstärke von der jährlichen Haushaltslage des Reiches abhängig machen zu wollen. Eine sinnvolle Militärpolitik wäre dann nicht mehr möglich gewesen.
Die Politik der Haushaltsanierung, welche die Reichsleitung ab dem Jahr 1909 unter Verminderung der Heeresausgaben betrieb, war eine Abkehr von einer längerfristigen Militärplanung. Das Heer hatte seine Ausgaben den erwarteten jährlichen Staatseinnahmen anzupassen. Die hohe Schuldenlast des Reiches ließ es nicht mehr zu, kurzfristige Kredite auf-zunehmen, um zeitweilige Einnahmerückgänge oder -ausfälle zu kompen-sieren. Die Folge war, dass ein in wenigen Jahren ein gewaltiger Investitionsstau auflief.
Inhaltlich gehörte das Heeresgesetz vom 25. März 1899 noch zum Komplex "Heeresvermehrung 1893". Die späteren Heeresgesetze füllten verbliebene Lücken aus, ein Bezug zu der Heeresvermehrung von 1893 wurde aber nicht mehr gesehen. Diese blieb daher letztlich, was die Anzahl der Divi-sionen anging, unvollendet. Mit dem Amtsantritt des General v. Einem als Kriegsminister hatte ein neues Zeitalter begonnen. Der Ausbau der Friedensorganisation des Heeres wurde eingestellt, die bestehenden Lücken in der Organisation nur teilweise und nach Gutdünken des Ministers und des Kaisers geschlossen.
Hervorzuheben ist, dass die Reichsleitung ihrer Vorlage für das Heeres-gesetz 1905 einen Fünfjahreszeitraum (Quinquennat) zugrunde legte, und dass es der Reichstag war, der diesen Zeitraum um ein Jahr, also auf sechs Jahre, verlängerte. Militärisch angebracht wäre eine Verkürzung des Fünf-jahreszeitraums um ein Jahr gewesen. Die Verlängerung, ja bereits der Fünfjahreszeitraum des Kriegsministers, entsprach nicht mehr den Erfor-dernissen einer sich schnell wandelnden militärischen Welt.
Dass es ab 1911 in drei aufeinanderfolgenden Jahren jeweils eine Heeres-vermehrung gab, ist unter anderem der Politik der Haushaltssanierung der Reichsleitung geschuldet. Das Heeresgesetz 1911 beschränkte sich, was das Rechnungs- und Militärjahr 1911 anging, auf einige wenige Maßnahmen. Alle Maßnahmen, die wegen ihres Umfanges kostenträchtig waren, wurden auf die Jahre 1914 und 1915 verschoben. Das Heeresgesetz 1912 korrigierte dies, indem es die Maßnahmen auf die Jahre 1912 und 1913 vorzog. Vernünftiger wäre es gewesen, diese Maßnahmen bereits ab 1911 zu planen und durchzuführen. Das hätte Überbrückungskredite erfordert.
Schlusskommentar:
In den Jahren von 1890 bis 1902 wurde das Heer aufgebaut, das in den Schlachten des 1, Weltkriegs vier Jahre lang zahlen- und materialmäßig überlegenen Gegnern standhielt. Das geschah in zeitweise heftigen Aus-einandersetzungen zwischen Reichsleitung und Reichstag. Dieser trat als eigenständig handelndes Verfassungsorgan in Erscheinung.
Am Anfang standen die Forderungen des Generals Julius Verdy du Vernois, (abgekürzt General v. Verdy), preußischer Kriegsminister von 1889 bis 1890. Er berief sich auf General Scharnhorst, der nach der Katastrophe, die das preußische Heer und mit ihm der preußische Staat 1806 erlitten hatten, das Heer neu aufgebaut hatte. General v. Verdy zitierte Scharnhorst:
"dass jeder Wehrpflichtige auch für den Dienst ausgebildet werden müsse".
Über den Zeitraum, in dem die Ausbildung der Wehrpflichtigen geschehen müsse, sagte die Reichsverfassung nichts. Dass dies im Rahmen eines dreijährigen Grundwehrdienstes geschehen müsse, läßt sich den Ausführungen des Generals v. Verdy nicht entnehmen. Die Möglichkeit einer stärkeren Heranziehung der Ersatzreservisten zu Ersatzübungen wird gesehen.
Wenn man General v. Verdy zitiert, muss man auch seine Forderungen nach einem Ausbau der Feldartillerie und weitere Forderungen erwähnen. Eine einseitige Fixierung auf die vollständige Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht findet sich bei General v. Verdy nicht.
Die Forderung des Generals v. Verdy stieß auf den entschiedenen Widerstand des Reichstages unter Führung der Zentrumspartei. v. Verdy nahm noch im Jahr 1890 seinen Abschied als Kriegsminister. Er wird zu den herausragenden Generälen des Heeres zwischen 1871 und 1914 gezählt.
Nach dem Abgang des Generals v. Verdy übernahm es der Reichskanzler General v. Caprivi, eine umfassende Heeresvermehrung durchzuführen. Er bot der Reichstagsmehrheit an, eine ihrer Hauptforderungen zu erfüllen, nämlich die Rückkehr von der dreijährigen zur zweijährigen Wehrpflicht. Seine Erwartung war, dafür als Gegenleistung die Zustimmung zur Erhöhung der Friedenspräsenzstärke des Heeres zu erhalten. Diese Erwar-tung trog. v. Caprivi sah sich genötigt, zum Mittel der Reichs-tagsauflösung zu greifen, um Neuwahlen herbeizuführen. Nach Abstrichen von seiner Vorlage fand er im neuen Reichstag eine knappe Mehrheit für eine Heeres-vermehrung. Durch die Verkürzung der Dauer des Grundwehrdienstes war sie ein wesentlicher Schritt hin in Richtung Verwirklichung der allgemeinen Wehrpflicht.
Die folgenden Heeresgesetze brachten nur unbedeutende Erhöhungen der Friedenspräsenzstärke. Ab 1905 wurden sie auf ein Maß beschränkt, das nicht zu verantworten war. Der prozentuale Anteil an der Bevölkerung, mit dem die Wehrpflichtigen zum Grundwehrdienst herangezogen wurden, wurde immer stärker abgesenkt. Eine Folge war, dass für den Kriegsfall die Anzahl der verfügbaren Reservisten nicht ausreichte. Es mußte in immer stärkerem Maße auf ältere Jahrgänge, also gediente Landwehrleute, zurückgegriffen werden. Das war eine Überalterung des Heeres in seiner Kriegsformation. Erst die Erhöhung der Friedenspräsenzstärke durch das Heeresgesetz 1912 hatte wieder einen vertretbaren Umfang.
Das Heeresgesetz 1913 brachte einen Kurswechsel. In seiner amtlichen Begründung heißt es:
"Die allgemeine Wehrpflicht ist die bewährteste Unterlage für Deutschlands Stärke. Nur wenn sie verwirklicht bleibt, können wir der Zukunft mit dem sicheren Gefühl erfüllter Pflicht und festen Vertrauens entgegensehen....
Leitender Gedanke der Vorlage ist deshalb der Ausbau der allgemeinen Wehrpflicht nach dem Stande der Bevölkerung."
Damit schließt sich der Kreis. Der Reichstag war einen weiten Weg gegangen, von der Ablehnung der tatsächlichen Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht im Jahr 1890 bis zu deren Umsetzung im Jahr 1913.
6. Friedenspräsenzstärke
Kommentar des Aufsatzverfassers, hier: die Verantwortlichkeiten
Im Rahmen dieses Aufsatzes können, was die Verantwortlichkeit für die ungenügenden Heeresgesetze der Vorkriegszeit angeht, nur einige wenige Gesichtspunkte angesprochen werden. Für die Jahre ab 1909 (Haushaltsjahr entspricht Militärjahr, jeweils vom 1.4. eines Jahres bis zum 31.3. des Folgejahres) darf man den Blick aber nicht auf die Heeresgesetze selbst beschränken. Denn die Reichsleitung führte ab 1909 eine Haushalts- und Finanzreform zur Sanierung der Staatsfinanzen durch. Zu diesem Zwecke nahm sie unmittelbar Einfluß auf die Militärausgaben. Der Militär-verwaltung wurde strikte Sparsamkeit verordnet, damit die Ansätze im Reichshaushalts-Etat auch wirklich eingehalten wurden. Die absolute Höhe der Schulden des Reiches sollte nicht mehr zunehmen. Die Folge war ein Rückgang der Ausgaben für das Heer in den Jahren 1909 bis 1911:
Das Heeresgesetz 1911 für die Zeit vom 1.4.1911 bis 31.3.1916 stand unter einem eisernen Sparzwang.
Für das Jahr 1912 forderten Kaiser und Reichsleitung vom Kriegsminister eine Heeresvorlage. General v. Heeringen kam dem nur widerwillig nach. Er stellte sich dann aber auf einen Standpunkt, der sich am besten mit den Worten wiedergeben läßt: Wenn schon eine Heeresvorlage, dann soll sie einen militärischen Effekt haben - und das wird Geld kosten. Das Reichs-schatzamt hatte seine Schwierigkeiten mit dieser Vorlage. Für das Jahr 1913 setzte die Reichsleitung ihren strikten Sparkurs fort. Die Anforderungen des Kriegsministers wurden zusammengestrichen. General v. Heeringen reagierte mit einem Schreiben vom 2. Dezember 1912 an den Reichskanzler, in dem er die militärischen Erfordernisse für die Jahre 1914 und 1915 darlegte. Mit den bisherigen Mitteln im Reichshaushalt war des nicht zu bewältigen. Unabhängig davon übermittelte am 21. Dezember 1912 der Generalstabchef dem Reichskanzler eine Denkschrift, in welcher die Notwendigkeit einer sofortigen deutichen Heeresverstärkung dargelegt wurde. Der Reichskanzler entsprach dem mit der Heeresvorlage 1913.
Im Kriegsministerium wurde die Finanzpolitik des Reichsschatzamtes nicht verstanden. Allen Anforderungen des Generalstabs wurde stereotyp der Einwand entgegengesetzt: Wir haben kein Geld. Die Finanzkraft des Reiches ist beschränkt. Die Haltung des Reichsschatzamtes war aber eine andere, nämlich eine formale. Der Staatshaushalt mußte ausgeglichen sein. Kam der Kriegsminister damit nicht zurecht, mußte er dem Reichskanzler eine Heersvorlage unterbreiten. Das Reichsschatzamt machte seine Arbeit, und der Kriegsminister hatte seine Arbeit zu machen.
6.1
Was den Bundesrat angeht, so sind die Staaten verantwortlich, die den Heeresvorlagen zustimmten. Preußen trifft eine erhöhte Verantwort-lichkeit, weil es sein Kriegsminister war, von dem die Vorlagen stammten. Zudem hatte es einen Informationsvorsprung gegenüber den kleinen Bundesstaaten, denen der Einblick in die militärische Lage des Reiches fehlte. Wurden sie vom preußischen Kriegsminister unterrichtet? Im Ergebnis mußten sie sich jedenfalls auf diesen verlassen. Was die Bundesstaaten mit eigener Militärverwaltung angeht, so ist deren Zustim-mung verwunderlich. Sie hatten militärische Fachleute, die zu einer Lage-beurteilung imstande waren. Diese mußten wissen, dass die Heeresvorlagen ungenügend waren.
Vertreter Preußens im Bundesrat war zumeist der preußische Kriegs-minister. Das war sachgerecht, da er ja in der preußischen Regierung der zuständige Fachminister war. Der preußische Kriegsminister war kein Zaun-gast im Gesetzgebungsverfahren, sondern mithandelnde Persönlichkeit. Seine Verantwortlichkeit steht daher außer Zweifel. Der Einwand, dass er nicht für das Reichsheer, sondern nur für das preußische Heereskontingent verantwortlich gewesen sei, greift nicht. Im Bundesrat ging es um das Reichsheer, und die Hauptverantwortlichkeit für dieses lag bei Preußen. Dass es Preußen war, das sein Heereskontingent ungenügend ausgebaut und seine Festungen vernachlässigt hatte, macht die Sache nicht besser.
Verantwortlich war der preußische Kriegsminister ebenso für die Mittei-lungen und Erklärungen, die er im Reichstag und in dessen Budget-kommission abgab. Von einer pflichtgemäßen Ermessensausübung kann bei den Ministern v. Einem und v. Heeringen nicht die Rede sein.
6.2
Was den Reichstag angeht, so ist zweifelhaft, ob dieser seiner verfassungsmäßigen Verantwortung gerecht wurde.
Es sind zwei gegensätzliche Denkweisen, um die es hier geht.
Aus militärischer Sicht wird der Sieg im Kriegsfall im Frieden vorbereitet. Was im Frieden unterlassen wurde, lässt sich im Krieg nicht mehr nach-holen.
Es wäre voreilig, hieraus ableiten zu wollen, dass das Deutsche Reich die allgemeine Wehrpflicht hätte vollständig durchführen und also in den Vorkriegsjahren die Friedensstärke seines Heeres auf 800.000 Mann oder noch mehr hätte erhöhen müssen. Die Anzahl der in zweijähriger Dienstzeit ausgebildeten Wehrpflichtigen war nur einer in einer ganzen Reihe militärischer Faktoren, die zu berücksichtigen waren. Das Heer brauchte Feldkanonen bzw. Feldhaubitzen ebenso wie Wehrpflichtige, und von beidem war 1914 nur eine ungenügende Anzahl vorhanden. Die einzelnen Faktoren mußten gegeneinander abgewogen werden und es mußten alternative Lösungsmöglichkeiten entwickelt werden. Für das preußische Kriegsministerium war aber unter General v. Einem die Konzeptionslosigkeit zum Markenzeichen geworden.
Damit dies nicht abstrakt stehen bleibt, sollen einige Hinweise auf Alternativen gegeben werden.
Eine Möglichkeit, sich auf die Herausforderung im Kriegsfall vorzubereiten, war die Ausbildung von Ersatzreservisten einerseits, die Planung überzähliger Truppeneinheiten andererseits.
Ersatzreservisten hatte es vor der Heeresreform 1893 gegeben. Das waren Wehrpflichtige, die für mehrere Wochen zu sogenannten Ersatzübungen - eine rudimentäre Grundausbildung erhielten und diese in späteren Übungen wieder aufzufrischen hatten. Im Kriegsfall war eine Grundlage geschaffen, auf der man aufbauen konnte.
Eine Anregung des Generalstabs im März 1909, die unausgebildeten Wehrpflichtigen wieder zu Ersatzübungen einzuziehen, schmetterte der Leiter des Allgemeinen Kriegsdepartments im Kriegsminsterium, Franz Wandel, mit einem kategorischen "nein" ab. Dafür brauche es eine Gsetzes-änderung, und zudem müßten ja die Mittel für solche Ersatzübungen zusätzlich beantragt werden. Der Oberst Ludendorff, von dem die Anregung stammte, kam nicht mehr darauf zurück. Er forderte nunmehr die vollständige Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht. Die billigere Lösung war dies gewiß nicht.
Wiederholt forderte der Generalstab die Planung und Vorbereitung überzähliger Einheiten im Kriegsfall. Das Kriegsministerium unternahm nichts. Das bezahlten 1914 Tausende von jungen Männern mit einem militärisch sinnlosen Tod. Die kurzfristig ins Leben gerufenen neuen Formationen waren Improvisationen, die nichts taugten. Und dass mit Improvisationen kein Erolg zu erreichen war, galt gerade in Preußen als militärisches Glaubensbekenntnis.
Im Reichstag erfreute sich eine bestimmte Argumentation großer Beliebt-heit, die im folgenden angedeutet werden soll. Sie lautete:
Wir dürfen uns im Frieden nicht verausgaben. Im Kriegsfall müssen noch genügend Geldmittel vorhanden sein, damit wir dann handeln können. Das Heer soll nur das Allernotwendigste erhalten - damit wir keine Steuern zu zahlen brauchen.
Diese Argumentationsweise stand in unmittelbarem Gegensatz zu den militärischen Erfordernissen. Sie war darüber hinaus unaufrichtig. Über 30 Jahre hinweg waren sogenannte einmalige Militärausgaben über Kredite finanziert worden. Später kamen außerordentliche Ausgaben hinzu. Vor dem Krieg hatte sich für das Reich eine Schuldenlast von über 5 Milliarden Mark aufgebaut. Rechnet man mit einem Zinsfuß von 3 % p.a, so waren dafür jährlich 150 Millionen Mark Zinsen aufzubringen. Die Folge war eine wirtschaftliche Schwächung des Reiches. Es war gerade im Kriegsfall nicht finanziell handlungsfähig. Die seit 1908/09 unternommenen Bemühungen des Reichsschatzamtes, eine Sanierung der Staatsfinanzen herbeizuführen, dürfen nicht unerwähnt bleiben.
(ist noch auszuführen)
7.
Heeresorganisation und Gliederung im Frieden
Hier: Der Kaiser
Die Reichsverfassung von 1871 sagt:
„Der Kaiser bestimmt …. die Gliederung und Einteilung der Kontingente des Reichsheeres sowie die Organisation der Landwehr, und hat das Recht, innerhalb des Bundesgebietes die Garnisonen zu bestimmen ….“
Anmerkungen des Aufsatzverfassers:
Der Kaiser ist bei der Ausübung seiner Befugnisse in mehrfacher Hinsicht gebunden.
So bestimmt Artikel 17 der Reichsverfassung 1871:
„Die Anordnungen und Verfügungen des Kaisers werden im Namen des Reichs erlassen und bedürfen zu ihrer Wirksamkeit der Gegenzeichnung des Reichskanzlers, welcher dadurch die Verantwortlichkeit übernimmt.“
Im militärischen Bereich ist der Kaiser an die Festlegungen des Reichs-militärgesetzes gebunden.
Dies vorausgeschickt, kann gesagt werden:
Der Kaiser bestimmte die Bezirke der Armeekorps und ihren Zuschnitt sowie die in ihnen enthaltenen Truppeneinheiten. Das galt jedenfalls für den Bereich des preußischen Heereskontingents.
Soweit es um die aktiven Einheiten des Reichsheeres geht, hatte also der Kaiser einen Spielraum zu bestimmen,
Das half dem Kaiser aber nicht. Denn soweit durch derartige Maßnahmen neue Planstellen für Offiziere und Unteroffiziere erforderlich wurden, mußte der Kaiser beim Gesetzgeber die Schaffung von Planstellen beantragen. Der Gesetzgeber bewilligte die Planstellen jedoch nicht pauschal, sondern stets für einen bestimmten Zweck, also z.B. für die Aufstellung von Brigade- oder Divisionsstäben. Im Ergebnis mußten also neue Formationen doch vom Gesetzgeber bewilligt werden. Entsprechendes gilt für den dadurch entstehenden Sachaufwand.
Ohne die Zustimmung des Gesetzgebers konnte der Kaiser wenig ausrichten – so war es in der Praxis. Denkbar wäre gewesen, dass der Kaiser seine verfassungsrechtlichen Kompetenzen dazu benutzte, bei der Heeresentwicklung politisch in die Offensive zu gehen. Was ihn daran hinderte, war sein eigenes Desinteresse an einer Weiterentwicklung des Heeres. Sein Engagement galt der Schlachtflotte. Zeitweilige Einzelaktionen zugunsten des Heeres ändern das Bild nicht.
8.
Heer und Reichskanzler
Der Reichskanzler war – als Einzelperson - die Regierung des Reiches. Er war für das Deutsche Heer zuständig. Allein er bestimmte, ob eine Heeresvorlage an den Gesetzgeber gerichtet werden und welchen Inhalt diese haben sollte. Und er – bzw. das ihm untergeordnete Reichsschatzamt - bestimmte, wie der Entwurf des jährlichen Haushaltsplans des Reiches gestaltet werden sollte, der dann dem Gesetzgeber zur Beschlussfassung vorzulegen war. Also entschied der Reichskanzler, welche Truppeneinheiten und welche Ausgaben für das Heer angefordert werden sollten.
8.1
Das Deutsche Reich nahm seinen Ausgang von einem Staatenbund und hätte sich in Richtung eines Bundesstaates entwickeln sollen. (Der Ausdruck Bundesstaat wird sowohl als Bezeichnung für den Gesamtstaat als auch für die einzelnen Gliedstaaten, die Bundesstaaten) verwendet. Der Gesamtstaat war die Summe der einzelnen Bundesstaaten. Er wurde von einem Präsidium geleitet.
Der Reichskanzler war Geschäftsführer des Präsidiums und somit ein Verfassungsorgan. Ihm standen der Vorsitz im Bundesrat und die Leitung der Geschäfte zu, Artikel 15 der Reichsverfassung. Anordnungen und Verfügungen des Kaisers bedurften zu ihrer Gültigkeit seiner Gegen-zeichnung, Artikel 17 der Reichsverfassung (konstitutionelle Monarchie). Der Kaiser konnte nicht ohne den Reichskanzler handeln. Entlassen konnte er ihn, ebenso wie die Ernennung vom Kaiser vorzunehmen war. Bei Licht betrachtet erscheint die Möglichkeit der jederzeitigen Entlassung als ein Gegengewicht zu der Machtfülle, mit der die Reichsverfassung den Reichskanzler ausstattet.
Gewissermaßen als selbstverständlich setzte Artikel 16 der Reichs-verfassung voraus, dass das Präsidium - also der Reichskanzler - das Recht hat, dem Bundesrat Vorlagen zu machen - insbesondere also Gesetzes-vorschläge -, die dann nach Maßgabe von dessen Beschlüssen in Namen des Kaisers an den Reichstag gebracht werden.
8.2
Einen Staatssekretär für das Heer gab es nicht. Es gab zwei Möglichkeiten:
War der Reichskanzler Berufssoldat, besaß er also die nötige Sachkunde, so konnte er unmittelbar mit dem Gesetzgeber über das Heer verhandeln. Mit dem Kaiser musste er sich abstimmen. Die Heeresvermehrung 1893 wurde vom Reichskanzler General v. Caprivi mit dem Reichstag ausgehandelt.
War der Reichskanzler Zivilist, so musste er sich die nötige Sachkunde beim preußischen Kriegsminister holen und sich seine Heeresvorlagen von ihm erstellen lassen. Das machte ihn vom Kriegsminister abhängig. Der Kriegs-minister verhandelte dann mit dem Reichskanzler und dem Reichsschatz-amt, was beim Gesetzgeber angefordert werden sollte. Ein wünschens-werter Zustand war dies nicht, da der Kriegsminister verfassungsrechtlich nicht für das Reichsheer verantwortlich war.
Die vom Reichsarchiv veröffentlichten Dokumente aus der Hand der Kriegsminister und ihrer Mitarbeiter zeigen, dass auf deren Sachkunde keineswegs Verlass war.
8.3
Der Generalstabchef des Feldheeres stand in keiner unmittelbaren Rechtsbeziehung zum Reichskanzler. Die Reichsverfassung 1871 erwähnt ihn nicht ausdrücklich. Man kann der Auffassung sein, dass er im Oberbefehl, der dem Kaiser über das Heer zusteht, mitinbegriffen ist. Denn im Kriegsfall gehört er zum Großen Hauptquartier des Kaisers, der durch ihn die Operationen des Heeres leiten lässt. Kommandogewalt hat der Generalstabchef nicht. Er hat die Befehle des Kaisers zu befolgen und handelt durch den Kaiser oder in seinem Auftrag.
Im Frieden ist zweifelhaft, ob der Generalstabchef Rechtssubjekt, also selbständiger Träger von Rechten und Pflichten war. Er hatte das Recht zum Immediatvortrag beim Kaiser, also zum unmittelbaren Vortrag. Ungeklärt war das Verhältnis zum preußischen Kriegsministerium. Einstmals war der Generalstab eine Abteilung des Ministeriums gewesen. Wollte der Generalstabchef Forderungen für das Heer stellen, so hatte er diese in einem förmlichen Verfahren beim Kriegs-ministerium anzumelden. Dem Kriegsminister stand es frei, ob er diese Forderungen berücksichtigen wollte. Die Verselbständigung des Generalstabs unter Kaiser Wilhelm I. hatte daran nichts geändert. Es ist paradox: Der Generalstabchef des Reiches hängt von den Entscheidungen des preußischen Kriegsministers ab.
Wünschenswert wäre es gewesen, dass der Generalstabchef seine Forderungen beim Reichskanzler anzumelden gehabt hätte. Denn dieser war der Leiter der Politik und die entscheidungsbefugte Stelle. Der Generalstabchef v. Moltke adressierte seine Denkschrift vom 21.12.1912 eben darum an den Reichskanzler und nicht an den preußischen Kriegsminister. Mit diesem Schritt stellte er sich gleichberechtigt neben diesen. Und dieser Schritt hatte den gewünschten Erfolg: Der Reichskanzler entschloss sich zu einer Heeresreform.
9.
Die Friedenspräsenzstärke des Heeres
Hier: Exekutive - der Kaiser
Die Reichsverfassung 1871 bestimmte:
„Der Kaiser bestimmt den Präsenzstand …. der Kontingente des Reichs-heeres ….“
Im Frieden hatten die militärischen Einheiten nur einen Teil ihrer Kriegsstärke. Dies war der sogenannte Präsenzstand. Dieser blieb nicht immer gleich, er konnte verändert werden und wurde wiederholt verändert.
Für die Infanterie-Bataillone sollen 2 Beispiele gegeben werden:
Friedens-Etatstärken seit 1911
Es gab 3 unterschiedliche Etatstärken:
Hoher Etat:
18 Offz. 3 Beamte 73 Unteroffz. 568 Mann
(93 Bataillone, seit 1912 erhöht auf 212 Bataillone)
Mittlerer Etat:
18 Offz. 3 Beamte 65 Unteroffz. 506 Mann
(326 Bataillone, seit 1912 vermindert auf 207 Bataillone)
Niedriger Etat (neu eingeführt 1911):
18 Offz. 3 Beamte 65 Unteroffz. 486 Mann
(196 Bataillone)
Friedens-Etatstärken nach der Heeresreform 1913
Es gab nur noch 2 unterschiedliche Etatstärken:
Neuer Niedriger Etat:
19 Offz. 3 Beamte 73 Unteroffz. 568 Mann
(354 Bataillone, bisher 212)
entspricht dem bisherigen Hohen Etat
Neuer Hoher Etat:
19 Offz. 3 Beamte 79 Unteroffz. 640 Mann
(297 Bataillone)
ist neu eingeführt
Zum Vergleich werden die Kriegsstärken mitgeteilt:
Kriegs-Etatstärke bis 1914 unverändert
26 Offiziere (einschließl. San.Offiziere und obere Beamte)
82 Unteroffiziere (einschließl. Unterbeamte)
920 Mann
52 Mann San. und Trainpersonal
Anmerkungen des Aufsatzverfasssers:
Ein hoher Präsenzstand im Frieden ermöglichte einen hohen Ausbildungs-stand der jeweiligen Einheit. Hier hatte das Deutsche Heer einen Vorsprung vor Frankreich - so wird gesagt. Die Verminderung des Präsenzstandes bei einem Teil der Infanteriebataillone - aber auch bei den Einheiten anderer Waffen - im Heeresgesetz 1911, die noch auf General v. Einem als Kriegsminister zurückging, war eine Verschlechterung des Heeres. Mit der Anhebung des Präsenzstandes im Heeresgesetz 1913 wurde der entgegen-gesetzte Weg eingeschlagen. Die Anhebung sollte dem Deutschen Heer einen qualitativen Vorteil über seine Gegner verschaffen.
Der Präsenzstand war eine der maßgebenden Größen für die Anzahl der ausgebildeten Wehrpflichtigen, die dem Heer im Kriegsfall zur Verfügung standen.
Nach der Reichsverfassung bestimmte der Kaiser den Präsenzstand. Dabei durfte er aber in keinem Fall die vom Gesetzgeber festgelegte Friedens-stärke des Heeres überschreiten. Kam der Gesetzgeber den Wünschen des Kaisers bzw. seines Kriegsministers nach einer Erhöhung der Gesamtstärke des Heeres nicht nach, so war eine Erhöhung des Präsenzstandes der Einheiten nicht möglich. Letztlich sass also der Gesetzgeber - und das hieß in der Praxis der Reichstag - am längeren Hebel.
Anmerkungen des Aufsatzverfassers:
Es war die Aufgabe des Preußischen Kriegsministers, die 3 Größen in ein optimales Verhältnis zu einander zu bringen. Dabei spielte auch die Haltung des Gesetzgebers eine Rolle. Ohne Kompromisse ging es dabei nicht ab.
Im Heeresgesetz 1911 wollte der Kriegsminister unbedingt die Gesamt-stärke des Heeres so niedrig wie möglich halten. Daher senkte er den Präsenzstand bei einem Teil der Infanterie-Bataillone, aber auch bei der Fußartillerie und möglicherweise anderen Einheiten ab. Insoweit lag eine qualitative Verschlechterung des Heeres vor.
Im Heeresgesetz 1913 gab der Kriegsminister einer zahlmäßigen Erhöhung der Gesamtstärke den Vorrang vor anderen Notwendigkeiten. Das war der Gegensatz zu der Konzeption des Heeresgesetzes 1911. Zweck war eine Steigerung des inneren Gehalts und der inneren Kraft der Einheiten - insoweit lag die Forderung ganz in der preußischen Überlieferung -, eine erhöhte Bereitschaft der Einheiten, vor allem derjenigen an den Reichsgrenzen, und letztlich die tatsächliche Durchführung der allge-meinen Wehrpflicht. Was fehlte, war die Schaffung neuer Kampfeinheiten. Dazu hätte man die zahlenmäßige Verstärkung des Heeres begrenzen müssen.
Im Heeresgesetz im Jahr 1912 hatte, so kann man vielleicht sagen, der Kriegsminister ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den 3 Größen hergestellt:
Schaffung neuer Kampfeinheiten unter Verstärkung der Artillerie, gleichzeitig aber auch Vermehrung der Zahl der Infanterie-Bataillone und eine maßvolle Anhebung der Etatstärken bei einem Teil der Infanterie- Bataillone. Ein solches ausgewogenes Verhältnis hätte man auch 1913 anzustreben sollen. Kritik am Heeresgesetz 1912 war nur insoweit zu üben, als keine ausreichende Vermehrung der Verkehrstruppen erfolgte.