Teil D Kriegsniederlage im Westen
Anfang August 1914 trat der Kriegsfall ein. Innerhalb von sieben Wochen nach Beginn war der Krieg im Westen zuungunsten des Deutschen Reiches entschieden. Die folgenden vier Kriegsjahre gelang es nicht mehr, die Niederlage rückgängig zu machen.
Als Wendepunkt im Kriege - und das heißt: als Eintritt der deutschen Niederlage – wird zumeist der Rückzug angesehen, den die 1. und die 2. Deutsche Armee am 9. September 1914 von der Marne antraten. Das Reichsarchiv wirft in seinem Rückblick (Der Weltkrieg, Band 4, Seite 543) die Frage auf, „ob an der Marne bloß eine Operation gescheitert oder der Krieg verloren war“. Die Frage lässt sich so beantworten, dass der Krieg verloren war. Die nachfolgenden Untersuchungen sollen dies begründen. Dabei darf man den Blick nicht auf die 1. und 2. Armee beschränken. Zeitgleich, aber unabhängig vom Marne-Rückzug kam es zu einem Rückzugsentschluss der 6. und der 7. Armee in Lothringen und im Elsaß. Der Rückzug der übrigen drei Armeen im Westen folgte ab 11. September. Die Bedeutung dieser Vorgänge ist ebenfalls zu untersuchen. Inwieweit stellen sie eine Niederlage dar?
Gibt es eine gemeinsame Ursache für den Rückzug der deutschen Armeen im Westen und die darin liegende Niederlage? Auch diese Frage ist zu beantworten.
War die deutsche Niederlage zu erwarten gewesen?
Darauf gibt es keine eindeutige Antwort.
Die französische Vorkriegssichtweise war von Siegeszuversicht bestimmt. Die mili-tärischen Gründe dafür legte der Reichskanzler v. Bethmann Hollweg in seiner Rede vor dem Reichstag am 7. April 1914 dar, in der er die deutsche Heeresvorlage 1913 begründete. Die Darlegungen waren zutreffend. Im Krieg erwies sich die französische Artillerie als die treffsicherste und es bestand eine französische Luftüberlegenheit. Nicht erfüllten sich die französischen Hoffnungen, es bestehe eine Überlegenheit in der Infanterie-Ausbildung, und dies führte bei Kriegsbeginn zu französischen Niederlagen.
Hinsichtlich der eigenen Erfolgsaussichten hielt sich der deutsche Reichskanzler bedeckt. Der preußische Kriegsminister und der deutsche Generalstabchef hatten sich auf das Wort „Zuversicht“ geeinigt. Das Wort „Sieg“ wurde vermieden. Das deutsche Heer sollte den Herausforderungen eines Krieges gewachsen sein. Eine wirklichkeitsnahe Abwägung der militärischen Faktoren unter Zugrundelegung eines Zeifrontenkrieges lag dem nicht zugrunde. Eine solche hatte der einstige Abteilungsleiter im Generalstab, Erich Ludendorff, durchgeführt. Er sah eine Erfolgsaussicht für gegeben an, wenn das Heer um mindestens drei Armeekorps verstärkt wurde. Die Warnung wurde in den Wind geschlagen. Es gab 1913 und 1914 bis Kriegs-beginn keine zahlenmäßige Erhöhung der Kriegsstärke des Heeres.
Die französische Armee hielt Ludendorff der deutschen für gleichwertig. Die Berichte der 3. französischen Abteilung des Generalstabs lagen ihm vor. Auch hier war der preußische Kriegsminister anderer Meinung. Für den Generalstabchef v. Moltke ist zu sagen, dass er im Frieden wie im Krieg den Gegner unterschätzte.
Die deutsche militärische Führung spielte, von den Ereignissen überrollt, auf Risiko – und verlor.
1. Die Ausgangslage im Westen
1.1
Die Grenze zwischen Frankreich und Deutschland erstreckte sich
von Belfort am Eingang der Burgundischen Pforte auf französischer und dem Sundgau auf der deutschen Seite
bis
nach Verdun auf der französischen und Diedenhofen (an der Grenze zu Luxemburg) auf der deutschen Seite
über eine Strecke von etwa 270 Kilometern. Zum Vergleich wird mitgeteilt, dass die deutsche Ostgrenze dreimal so lang war.
Frankreich hatte seine Ostgrenze zu Deutschland durch die vier Festungen Belfort, Épinal, Toul und Verdun gesichert. Zwischen ihnen gab es eine Vielzahl kleinerer Befestigungs-anlagen, so daß eine durchlaufende Befestigungslinie entstanden war. Es war die stärkste militärische Verteidigungslinie der Welt. Eine offene Stelle gab es zwischen den Festungen Épinal und Toul, der sogenannten Pforte von Charmes. Deren Zugang von Osten her wurde durch das Sperrfort Manonviller hart an der französischen Ostgrenze geschützt. Das Fort konnte die Vormarschstraßen in die Pforte von Charmes unter Artilleriefeuer nehmen. Östlich der Festung Toul, also außerhalb des Festungsgürtels, lag die Stadt Nancy; sie wurde durch ihr östlich vorgelagerte Befestigungen gesichert („Position de Nancy“).
Den französischen Festungsgürtel zu durchbrechen war das deutsche Heer nicht in der Lage. Dazu hätte es des Einsatzes schwerster Artillerie mit einer Anzahl von Geschützen und einer Munitionsausstattung bedurft, deren Beschaffung im Frieden für unmöglich gehalten wurde. Man brauchte ja auch Geschütze für die Verteidigung der eigenen Festungen im Westen wie im Osten und eine schwere Artillerie für das Feldheer. Mit der vorhandenen schweren und schwersten Artillerie konnte man wohl einzelne feindliche Festungen bezwingen, aber die deutsche Seite konnte nicht hoffen, im Westen durch Belagerung der französischen Festungen einen militärischen Sieg über Frankreich zu erzielen.
1.2
Deutscher Generalstabschef von 1891 bis 31. Dezember 1905 war Alfred Graf v. Schlieffen. Die von ihm im Kriegsfall geplanten Operationen im Westen überprüfte er in General-stabsreisen und Kriegsspielen. Es war eine schrittweise Entwicklung der Gedanken. Eines folgte aus dem anderen. Zum Ende seiner Amtszeit im Dezember 1905 verfaßte v. Schlieffen eine Denkschrift für seinen Amtsnachfolger, wie ein Krieg im Westen geführt werden solle. Sie wird als Schlieffenplan bezeichnet und ist aus einem Guß. Es handelt sich um das Ergebnis jahrelanger Gedankenarbeit und nicht um einen augenblicklichen Geistesblitz. v. Schlieffen faßte die Vielzahl der Gesichtspunkte und seiner Überlegungen unter dem Dach eines einheitlichen Operationsplans zusammen. Hierin liegt seine geistige Leistung.
v. Schlieffen sah es so: „Ganz Frankreich muß als eine große Festung betrachtet werden.“ Frankreich war ein Land, das von Festungen starrte. Wie man diese Festungen und Festungslinien überwand, darum ging es v. Schlieffen.
Da war zunächst der Festungsgürtel der französischen Ostgrenze. v. Schlieffen erkannte, dass ein Angriff keine Aussicht auf Erfolg bot und suchte nach einer Alternative. Es lag nahe, den Festungsgürtel nördlich von Verdun zu umgehen. Die dafür erforderlichen Truppen konnten nur angesetzt werden, wenn man Luxemburg und den Süden Belgiens durchquerte. Es war zu erwarten, dass der französische Generalstab mit dieser Möglichkeit rechnete und Verteidi-gungslinien gegen einen solchen Angriff aufbaute, die dann zu überwinden waren.
Im Inneren Frankreichs gab es „eine starke Höhenstellung, deren Stützpunkte die Festungen Reims, Laon und La Fère – bilden“ – so v. Schlieffen. Der Erfolg eines frontalen Angriffs war zweifelhaft. Man konnte die Stellung indessen nördlich umgehen, mußte dazu aber weiter nach Norden ausholen. Wie sah es im Norden Frankreichs aus?
An der Nordgrenze Frankreichs gab es die befestigte Linie Dünkirchen – Lille – Maubeuge - Mézières. Die Befestigung dieser Linie war lückenhaft. „Hier müssen wir in die Festung einzudringen versuchen“ sagte v. Schlieffen. Das erforderte eine weit nach Westen ausholende Umgehung, für die man ganz Belgien durchqueren mußte. Mit einem Widerstand des belgischen Heeres war zu rechnen. Eine Eroberung von Lüttich – aus deutscher Sicht das Eintrittstor nach Belgien - und eine Blockierung von Antwerpen, welche Städte Belgien zu starken Festungen ausgebaut hatte, wurden notwendig. Die Landung eines britischen Expeditionskorps zur Unterstützung Frankreichs oder Belgiens war möglich und mußte berücksichtigt werden.
1.3
Das Ziel v. Schlieffens war die Vernichtung des französischen Heeres. Nur wenn dies gelang, konnte Deutschland einen Krieg gewinnen. Als einziger Weg dazu erschien ihm eine Umgehung der französischen Festungslinien durch Belgien und Nordfrankreich hindurch, um sie von der Flanke oder sogar vom Rücken her zu bezwingen.
Die Masse des deutschen Heeres sollte sich in einem Raum zwischen Wesel am Niederrhein und der Festung Metz in Lothringen versammeln. Mit einer Linksschwenkung sollte in drei großen Gruppen gegen die Linie Dünkirchen – Verdun vorgerückt werden. Die nördlichste Gruppe sollte gegen den Raum zwischen den Festungen Antwerpen und Namur vorgehen. Dieser Raum war eine Enge für den Vormarsch und sollte schnell durchschritten werden, bevor es zu einem Zusammenstoß mit dem französischen Heer kam. Erst jenseits dieses Raumes konnten sich die Armeen zu einer breiten Linie in Richtung Nordfrankreich entfalten. Eine mittlere Gruppe hatte gegen die „Maasstrecke“ Namur – Mézières vorzurücken, also das westliche Maasufer zu gewinnen, eine südliche Gruppe gegen die Linie Mézières – Verdun, also ebenfalls die Maas zu überschreiten. Der Raum zwischen Verdun und Metz war durch weitere Truppen zu decken.
Eine letzte mögliche französische Defensiv-Stellung sah v. Schlieffen hinter der Oise, „die sich rechts an La Fère, links an die Riesenfestung Paris anlehnt. Gegen diese Stellung hat sich der deutsche Angriff auf der ganzen Front zu richten“. (Darstellung des Reichsarchivs, Der Weltkrieg Band 1, Der Feldzugsplan für den Westen, Seite 58). Die letzte große Festung, welche das deutsche Heer nach einem unterstellten erfolgreichen Vormarsch durch Nordfrankreich Richtung Süden vor sich fand, war die Hauptstadt Paris. Das Reichsarchiv zitiert v. Schlieffen:
(Zitat)
„Aber eine völlige Entscheidung wird auch dieser Angriff (auf die französische Defensiv-Stellung hinter der Oise, der Aufsatzverfasser) kaum bringen. Es bleibt nichts übrig, als ihn mit einer Umgehung westlich und südlich um Paris herum zu verbinden. Diese Bewegung ist auf alle Fälle notwendig….
„Wir tun also wohl daran, uns beizeiten auf einen Übergang über die Seine unterhalb der Oise-Mündung und auf eine Einschließung von Paris zunächst auf der West- und Südfront einzurichten. Es muss durchaus versucht werden, die Franzosen durch Angriff auf ihre linke Flanke in östliche Richtung gegen ihre Moselfestungen, gegen den Jura und gegen die Schweiz zu drängen. Das französische Heer muss vernichtet werden. Das Wesentliche für den Verlauf der gesamten Operationen ist, einen starken rechten Flügel zu bilden, mit dessen Hilfe die Schlachten zu gewinnen und in unausgesetzter Verfolgung den Feind mit eben diesem starken rechten Flügel immer wieder zum Weichen zu bringen“.
(Zitat Reichsarchiv Ende)
Soweit zu den Ausführungen, die das Reichsarchiv zum Schlieffenplan macht.
1.4
An Kampfverbänden war Frankreich mit dem britischen Expeditionskorps den deutschen Truppen, die im Westen eingesetzt werden konnten, überlegen. v. Schlieffen rechnete daher in seiner Denkschrift 1905 mit eigenen Truppenverbänden, die nicht vorhanden waren. General Ludendorff kommentiert in seiner Autobiographie (Mein militärischer Werdegang, Chef der 2. Abteilung, Seite 88):
„Damit bewies er (v. Schlieffen, der Aufsatzverfasser) zwar strategische Theorien und die Richtigkeit seines mit dieser Truppenstärke gewählten Aufmarsches, aber er gab der Kriegführung damit keine sichere Grundlage“.
Wie die zahlenmäßige Unterlegenheit ausgeglichen werden sollte, dazu entwickelte v. Schlieffen Vorstellungen. Zu diesen gehörte seine Forderung für die sofortige Neuaufstellung von Truppenverbänden im Kriegsfalle, sogenannter „über-planmäßiger“ Einheiten, die im Frieden geplant und vorbereitet werden sollten. Die Forderung wurde vom Kriegs-ministerium abgelehnt. Es hielt solche Einheiten für militärisch wertlos. Bis zum Kriegs-ausbruch 1914 gab es keine Planungen für die Aufstellung von „über-planmäßigen“ Divisionen und Armee-korps. Erst im Krieg wurden zusätzliche Einheiten aufgestellt – und das war zu spät. Es handelte es sich um Improvisationen, denen nur ein geringer Kampfwert zukam, die aber hohe Verluste hatten. Eine weitsichtige Planung hätte dies vermieden.
1.5
Der Denkschrift vom Dezember 1905 entsprach der Aufmarschplan, den v. Schlieffen für das Jahr 1906 erstellte. Er berücksichtigte nur die 72 Divisionen, die damals tatsächlich vorhanden waren. Die Reservedivisionen wurden dabei mitgerechnet. Falls im Osten gegen Russland aufmarschiert werden mußte, sollten dort 10 Divisionen eingesetzt werden. Für den Westen blieben dann 62 Divisionen (einschließlich der Reservedivisionen) verfügbar. v. Schlieffen teilte diese Divisionen in zwei Gruppen auf:
Divisionen Verhältnis
rechter deutscher Heeresflügel
und deutsche Heeresmitte:
nördlich der deutschen Festung Metz 54 7,5
linker deutscher Heeresflügel:
südöstlich der deutschen Festung Metz 8 1
Südlich von Straßburg waren keine eigenen Divisionen vorgesehen.
v. Schlieffen ging davon aus, dass das französische Heer nicht, jedenfalls nicht in Lothringen und im Elsaß, angreifen werde. Im Jahr 1905 war das vermutlich zutreffend; das französische Heer pflegte eine Defensiv-Strategie. Der Übergang zu einer Offensiv-Strategie erfolgte erst im Jahr 1911. Im Aufmarschplan v. Schlieffens bestand eine Wechselbeziehung: ein starker rechter Heeresflügel war nur durch einen schwachen linken Heeresflügel zu erreichen. Den ersteren hielt v. Schlieffen für kriegsentscheidend. Er sollte daher so stark wie irgend möglich ausgestaltet werden. v. Schlieffens Wort „Macht mir den rechten Flügel stark“ ist zu einem geflügelten Wort in Deutschland geworden, meist mit einem ironischen Unterton.
v. Schlieffen hielt seinen Aufmarschplan für denjenigen, der die größtmögliche Aussicht auf Erfolg bot – und nur wenn eine „schnelle“ Kriegsbeendigung im Westen gelang, konnte das Deutsche Reich den Krieg gewinnen.
1.6
Bei seinem – unfreiwilligen – Ausscheiden aus dem Amt des Generalstabchefs zum 31. Dezember 1905 hinterließ v. Schlieffen seinem Amtsnachfolger v. Moltke dem Jüngeren zwei ungelöste Fragen:
Zur zahlenmäßigen Unterlegenheit ist zu sagen:
Eine Lösung dieses Problems gelang bis Kriegsausbruch 1914 nicht. Das deutsche Heer trat 1914 in starker zahlenmäßiger Unterlegenheit an Infanterie in den Krieg ein, Zwar hatte v. Moltke im Frieden die Bildung zusätzlicher Reservedivisionen durchgesetzt. Jedoch verstärkte auch Frankreich seine Truppen weiter (Stichwort Kolonial-truppen), sodaß kein Ausgleich eintrat. Konkrete Vorschläge zur Bildung neuer Friedens-Divisionen, die möglich war, wurden im Generalstab nicht erarbeitet – was unverständlich ist. Das hätte v. Moltke veranlassen müssen. Die Bildung von „Ersatzkommandeuren zu besonderer Verwendung“, in irreführender Weise „Ersatz-Divisionen“ genannt, war eine Notlösung und kein Ausgleich. Der militärische Nutzen dieser Einheiten war gering.
Das Reichsarchiv teilt mit (Der Weltkrieg, Band 1, Seite 67/69): Nach den Berechnungen des deutschen Generalstabs standen bei der Infanterie 950 deutsche Bataillone 1397 franzö-sischen Bataillonen gegenüber, verstärkt durch mögliche 78 Bataillone des britischen Expe-ditionskorps. Trotz dieser Unterlegenheit sprach v. Moltke von „Zuversicht“, dass das deutsche Heer im Westen Erfolg haben werde. Er verkannte die Bedeutung der Kräfte-verhältnisse, selbst im Kriege noch, - und er klammerte sich an sein Amt als Generalstabchef. Bei Kriegsausbruch 1914 war er 66 Jahre alt und litt unter gesundheitlichen Beein-trächtigungen, die seine Leistungsfähigkeit minderten. Ein Rücktritt aus Gesundheitsgründen wäre angebracht gewesen, aber v. Moltke wollte sein Amt keinesfalls aufgeben.
Zu einem möglichen französischen Angriff in Lothringen ist zu sagen:
Der Aufmarschplan v. Schlieffens gründete sich auf Annahme, daß es in Lothringen zu keinem Angriff des französischen Heeres kommen werde. Wie aber stellte sich die Lage dar, wenn die Annahme nicht mehr zutraf? General Ludendorff formuliert in seiner Autobiographie (Mein militärischer Werdegang, Sektionschef in der 2. Abteilung, Seite 99) die Problemstellung, wie er sie als Abteilungsleiter im Generalstab vor dem Krieg sah, so:
(Zitat)
„Der Franzose stand (dann) in Lothringen mit überlegenen Kräften viel eher im Rücken unseres Heeres, als wir bei unserem Durchmarsch durch Belgien in seinem. Das war nicht nur eine Nervenprobe, sondern die kriegerischen Tatsachen hätten dahin geführt, dass der linke deutsche Heeresflügel, wenn er auch noch durch Landwehr verstärkt würde, schon erhebliche Schlappen erlitten haben musste, bevor unser rechter in taktische Berührung mit dem feindlichen linken Heeresflügel getreten war. Das gab zu denken.“
(Zitat Ende)
Hier fand Generalstabchef v. Moltke eine Lösung. Sie wird im folgenden Abschnitt beschrieben.
2. Generalstabchef v. Moltke und sein Operationsplan 1914
Deutscher Generalstabchef vom 1. Januar 1906 bis 14. September 1914 war Helmuth von Moltke der jüngere. Oberquartiermeister I von Frühjahr 1908 bis September 1912 war Hermann Stein, ein bürgerlicher Artillerieoffizier, der 1913 geadelt wurde. Leiter der 2. deutschen Abteilung vom Frühjahr 1908 bis zum 27. Januar 1913 war Erich Ludendorff, der von Herbst 1906 bis zum Frühjahr 1908 Lehrer für Taktik und Kriegsgeschichte an der Militärakademie in Berlin gewesen war. Sein Nachfolger wurde der bisherige Armeereferent im Generalstab Gerhard Tappen, der im Krieg zwei Jahre lang die Operationsabteilung des Heeres leitete.
2.1
v. Moltke übernahm den Grundgedanken seines Amtsvorgängers für den Westaufmarsch und –vormarsch des Heeres. Die Hauptkräfte von 52 Divisionen (33 Friedensdivisionen und 19 Reservedivisionen) sollten einen „Schwenkungsflügel“ mit starkem rechten Teil bilden. Das Reichsarchiv schreibt (Der Weltkrieg Band 1 Der Feldzugsplan für den Westen Seite 66):
(Zitat)
„In den für das Mobilmachungsjahr 1914/1915 gültigen Aufmarschanweisungen war die operative Absicht folgendermaßen ausgedrückt:
„Die Hauptkräfte des deutschen Heeres sollen durch Belgien und Luxemburg nach Frankreich vorgehen. Ihr Vormarsch ist – sofern die über den französischen Aufmarsch vorliegenden Nachrichten zutreffen – als Schwenkung unter Festhalten des Drehpunktes Diedenhofen – Metz gedacht. Maßgebend für das Fortschreiten der Schwenkung ist der rechte Heeresflügel. Die Bewegungen der inneren Armeen werden so geregelt werden, daß der Zusammenhang des Heeres und der Anschluß an Diedenhofen – Metz nicht verloren geht. Den Schutz der linken Flanke der Hauptkräfte sollen neben den Festungen Diedenhofen und Metz die südöstlich Metz aufmarschierenden Heeresteile übernehmen.“
(Zitat Ende)
Wie das Vorgehen der Hauptkräfte durch Belgien erfolgen sollte, wird in den vorstehenden Anweisungen nicht ausgeführt. Zum Verständnis empfiehlt es sich, einen Blick auf die Landkarte von Belgien und Nordfrankreich zu werfen. Das Reichsarchiv hat die beiderseitigen Aufmärsche in der Karte 1 zu seinem Kriegswerk „Der Weltkrieg 1914-1918 Band 1“ dargestellt. Auf deutscher Seite erkennt man
Die 1. Armee hatte in dem nur wenige Kilometer breiten Raum zwischen der holländischen Grenze und Lüttich vorzumarschieren, die 2. Armee südlich anschließend mit ihrem rechten Flügel durch Lüttich hindurch. Voraussetzung hierfür war eine Eroberung der Festungswerke von Lüttich. In einem Handstreich sollten gleich zu Kriegsbeginn sechs vorausbeförderte Brigaden der beiden Armeen zwischen den zwölf Sperrforts, welche die Stadt Lüttich umgaben, in die Stadt hinein durchbrechen und die Zitadelle in der Stadt besetzen. Die Eroberung der Sperrforts mußte binnen weniger Tage folgen. Danach sollte die 1. Armee versuchen, die belgische Armee von der Festung Antwerpen, in die sie sich voraussichtlich zurückziehen wollte, abzudrängen. Den engen Raum zwischen Brüssel und Namur sollten beide Armeen schnell durch-schreiten und sich dann zu einer breiten Front in den Nordwesten Frankreichs hinein entwickeln.
Die 3. deutsche Armee stellte das Bindeglied zwischen den beiden vorstehenden Armee-gruppierungen dar. Sie war die schwächste Armee des „Schwenkungsflügels“ mit 3 Armee-korps und einem Reserve-Korps.
Was den sogenannten „Schlieffenplan“ ausmacht, ist das Vorgehen der 1. und 2. Armee durch den Norden Belgiens zwischen Brüssel und Namur hindurch.
Dieses Vorgehen sollte es ermöglichen, den Gegner westlich zu umfassen und in seine voraussichtlich dort offene Flanke hinein-zustoßen. Das hätte seine Niederlage bedeutet.
2.2
Der Vormarsch der insgesamt 5 Armeen des "Schwenkungsflügels" zielte etwa in Richtung der Linie Dünkirchen – Verdun. Die französische Festung Verdun war der nördliche Eckpfeiler einer Befestigungslinie, die in Belfort (Burgundische Pforte) im Süden begann. Sie musste nördlich umgangen werden und bildete daher den linken Endpunkt des „Schwenkungs-flügels“. Sein rechter Endpunkt war in den Planungen nicht festgelegt, sondern frei beweglich nach Erfordernis.
Was die Absichten v. Moltkes angeht, so ist man auf Rückschlüsse aufgrund überlieferter Äußerungen, angewiesen. Ein unmittelbarer Rückgriff auf die Überlegungen des früheren Generalstabchefs v. Schlieffen ist nicht angebracht. Auf dessen Lösungen festgelegt hatte sich v. Moltke keineswegs. Vermutlich war beabsichtigt, dass der rechte Heeresflügel mit seinen drei Armeen, als Einheit verstanden, den Gegner großräumig umfassen sollte. Die 1. Armee sollte ihrerseits versuchen, die ihr gegenüberstehenden feindlichen Truppen zu umfassen und in die äußere Flanke zu kommen. Beide Umfassungsbewegungen, die großräumige durch den rechten Heeresflügel insgesamt, und die konkrete, von der 1. Armee auszuführende Umfassung, um in die Flanke ihres Gegners zu gelangen, sind voneinander zu unterscheiden.
Sollte der deutsche Vormarsch Erfolg haben, so musste er vom äußersten rechten Heeres-flügel, also von der 1. Armee aus, gedacht werden. Gelang es dieser, durch einen Flankenstoß feindliche Divisionen zu vernichten, so ergab sich der Erfolg der übrigen Armeen zu ihrer Linken von selbst. Das konnte den Krieg entscheiden. Der Generalstabchef des Feldheeres gehörte daher zu Beginn der Kämpfe auf den äußersten rechten Heeresflügel zur 1. Armee, um dort eine Umfassungsbewegung zu erreichen und die Bewegungen der anderen Armeen zu steuern. v. Moltke blieb jedoch im Großen Hauptquartier in Koblenz.
2.3
v. Moltke setzte die Reservedivisionen vom Beginn an zum Kampf in vorderster Linie ein, in gleicher Weise wie die aktiven (Friedens-) Divisionen. Das hatte er von seinem Amts-vorgänger übernommen. Nur dadurch war die erstrebte Umfassung durch den Norden Belgiens hindurch weit nach Westen ausgreifend möglich. Es war ein hohes militärisches Risiko. Denn die Reservedivisionen hatten nur die Hälfte der Feldartillerie der aktiven Divisionen und waren auch in anderer Hinsicht ihnen nicht gleichwertig. Dass die Reservekorps keine Flugzeuge besaßen, hinderte sie an einer erfolgreichen Feindaufklärung.
Die sofortige Verwendung der Reservedivisionen in vorderster Linie hatte es in früheren Kriegen nicht gegeben. Der französische Generalstabchef Joffre erwartete auf deutscher Seite nur den Einsatz der vermuteten 44 aktiven (Friedens-)Divisionen in vorderster Linie.
Das erlaubte einen deutschen Angriff durch Luxemburg und durch den Süden Belgiens hindurch. Er war zur Umgehung der Festung Verdun notwendig.
Dagegen traf General Joffre Vorsorge, wie sich aus der Karte 1 ergibt, die das Reichsarchiv seinem Werk Der Weltkrieg 1914-1918, Band 1 beigab. Die 3. französische Armee stand ostwärts der Festung Verdun, die 4. Armee blieb zunächst in Reserve. Bei einem deutschen Vormarsch durch den Süden Belgiens sollten die 3. und die 4. Armee zum Angriff vorgehen. Der linke französische Heeresflügel, die 5. Armee, marschierte im Raum zwischen den Orten Hirson und Vouziers an der Aisne auf; ihr linker Flügel nordwestlich von Hirson war durch weitere Truppen gedeckt. Das war der Plan XVII Variante, den der französische Generalstabchef am 2. August 1914 abends in Kraft treten ließ.
An ein massiertes deutsches Vorgehen durch den Norden Belgiens hindurch glaubte General Joffre in den beiden ersten Kriegswochen nicht. Die vom einstigen deutschen Generalstabchef v. Schlieffen beabsichtigte strategische Überraschung des Gegners gelang.
Die 1. deutsche Armee hatte auf ihrem rechten Flügel zu Beginn der Grenzschlachten keinen Gegner vor sich. Dieser hatte ihr gegenüber eine ungedeckte äußere Flanke und war an Truppenstärke klar unterlegen. Das Reichsarchiv (Der Weltkrieg, Band 1 Rückblick Seite 653 und Seite 658) meint, der 1. deutschen Armee habe sich in den Grenzschlachten (20. bis 24. August 1914) die Chance zu einer operativen Umfassung des britischen Expeditionskorps geboten:
(Zitat)
„Den deutschen Waffen hatte sich eine seltene Gelegenheit zu einem Vernichtungs-schlage geboten, eine Gelegenheit, wie sie in solcher Gunst vielleicht im Laufe des ganzen Krieges nie wiedergekehrt ist. Der Feldzug im Westen konnte mit einem großen Schlage entschieden werden. Dieser höchste Erfolg, dessen Erreichung für Deutschland … von schicksalhafter Bedeutung war, sollte trotz dem Siege und der über alles Lob erhabenen Leistungen der Truppe und ihrer Führer in den Grenzschlachten dem deutschen Westheere versagt bleiben.“
(Zitat Ende)
Die Gunst des Augenblicks wurde auf deutscher Seite nicht erkannt. Das Oberkommando der 1. Armee versuchte erst ab dem 25. August, eine Umfassung des britischen Expeditionskorps zu erreichen. Dieses hatte aber, frontal geschlagen, bereits seinen Rückzug angetreten und brachte es fertig, sich dem ihm zugedachten Flankenstoß, der seine Vernichtung bedeutet hätte, zu entziehen. Wenig später hätte ein Fehler eines britischen Generals bei Le Cateau eine Umfassung ermöglicht, doch verpaßte das Ober-kommando der 1. Armee die Gelegenheit. Sie kehrte nicht wieder.
Es war kein Fehler des deutschen Aufmarschplanes, dass der erhoffte Erfolg nicht eintrat.
2.4
v. Moltke wandte sein besonderes Augenmerk dem linken Flügel des deutschen Heeres östlich und südöstlich der Festung Metz zu. Dort erwartete er den Hauptangriff des franzö-sischen Heeres. General Ludendorff – der im Frieden zu den engsten Mitarbeitern v. Moltkes gehörte - schreibt in seiner Autobiographie (Mein militärischer Werdegang, Chef der 2. Abteilung, aus Seiten 125 - 128) über den Generalstabchef:
(Zitat)
… die großen Generalstabsreisen und die Operationsstudien innerhalb des Generalstabes (hielt) General v. Moltke im gleichen Rahmen wie sein großer Vorgänger und immer auf gleicher Grundlage des Zweifrontenkrieges ab…
General v. Moltke legte seinen vielen Studien meistens Operationen zu Grunde, wie sie sich aus einem Westaufmarsch des Heeres an der belgisch-französischen Grenze entwickeln konnten.
Es war dabei bemerkenswert, dass die Führer des französischen Heeres immer wieder in Lothringen angriffen.
(Hervorhebung vom Aufsatzverfasser)
General v. Moltke rechnete auch für den Ernstfall mit unbedingter Sicherheit auf diesen Angriff und in steigendem Maße auch mit dem des russischen Heeres…
Das Ergebnis der Operationsstudien führte General v. Moltke dahin, den linken Flügel des deutschen Westaufmarsches in den Jahren, in denen er Weisungen für den Aufmarsch
gab, allmählich zu verstärken. Zunächst ließ er auf Bitten des Großherzogs von Baden zum Schutze Badens das XIV. Badische Armeekorps südlich Straßburg. Später verstärkte er den linken Flügel weiter, ohne indes in der Front weniger Kräfte einzusetzen, als General Graf v. Schlieffen es getan hatte. Er konnte das, da eine Anzahl Reserve-divisionen neu gebildet wurden. Er sah auch zur Erleichterung der Operationen in Lothringen eine Stellung an der Nied im Anschluss an die Festung Metz bis zu ihrer Mündung in die Saar vor,…
General v. Moltke dachte daran, dass die in Lothringen aufgestellte Armee den Feind weiter nach Lothringen hinein lassen solle, um ihn dann mit den zur Verfügung stehenden Truppen aus Metz heraus und aus der Richtung Straßburg umfassend anzugreifen, wie das ja auch General Graf v. Schlieffen bei dem Aufmarsch 1904/1905 zu tun erhoffte…
Wegen der Kräfteverteilung an der Westfront ist General v. Moltke von den blinden Anhängern des Grafen Schlieffen und den strategischen Theoretikern heftig angegriffen worden. … Ich habe seine Weisungen auch als durchaus richtig angesehen und sehe sie nach den Erfahrungen des Krieges erst recht als richtig an.“
(Ende des Zitats)
2.5
v. Moltke gestaltete seinen Aufmarschplan im Westen flexibel, damit einem etwaigen französischen Hauptangriff in Lothringen entgegengetreten werden konnte. Das Reichsarchiv (Der Weltkrieg Band I Die Grenzschlachten im Westen) zitiert auf Seite 63 aus Aufzeichnungen, die v. Moltke im Juli 1915 anfertigte. Darin heißt es:
Zitat)
„Sichere Anzeichen dafür, dass (der französische Offensivgedanke, der Aufsatzverfasser) durch den Versuch eines mit starken Kräften zu unternehmenden Vorstoßes beiderseits Metz sich verwirklichen würde, lagen uns nicht vor. Immerhin war mit dieser Wahr-scheinlichkeit zu rechnen und deshalb die 6. Armee stark gemacht und so in Lothringen bereitgestellt, dass sie sowohl nördlich wie südlich Metz eingesetzt werden konnte. Ebenso war die 7. Armee in der Gegend von Straßburg versammelt, um einem Vorgehen des Gegners von Belfort und in das Oberelsass entgegenzutreten. Mit diesem Unter-nehmen rechnete ich fast mit Sicherheit.“
(Zitat Ende)
Dementsprechend sah der Aufmarschplan v. Moltkes für den Krieg im Westen einen starken linken Heeresflügel (= südöstlich von Metz) vor:
Divisionen Verhältnis
nördlich von Metz 54 3,375
südöstlich von Metz 16 1
Zur Stärke des linken Heeresflügels trug bei, dass er aus 12 aktiven (Friedens-) Divisionen und aus nur vier Reserve-Divisionen bestand. Ein so günstiges Verhältnis gab es nördlich von Metz nicht. Von den 54 Divisionen waren nur 33 aktive (Friedens-) Divisionen und 21 Reserve-Divisionen. Außerdem ist die Zahl 54 unzutreffend, denn 2 Reserve-Divisionen gehörten zur „Nordarmee“ in Schleswig-Holstein. Sie wurden in den Raum vor der Festung Antwerpen überführt, nachdem sich die belgische Armee dorthin zurückgezogen hatte. Um den Rücken des Schwenkungsflügels zu sichern, reichten sie nicht aus. Daher wurden aus ihm 2 Reserve-Divisionen für diesen Zweck abgezweigt (III. Brandenburgisches Reserve-Korps). Es waren von vornherein nur 50 Divisionen nördlich von Metz, die gegen die französisch-britischen Armeen eingesetzt werden konnten.
Die Stärke des deutschen linken Heeresflügels zu Beginn der Kämpfe ist nicht zu beanstanden. Bereits am 7. August 1914 fielen Einheiten der 1. französischen Armee von Belfort aus ins Ober-elsaß ein. Sie wurden in einer Frontalschlacht zurückgeschlagen. Etwa eine Woche später begann ein Vormarsch auch der 2. französischen Armee über die Reichsgrenze in den deutschen Teil Lothringens. Zur Abwehr dieser Angriffe waren die von v. Moltke bereit-gestellten beiden Armeen mit ihren 16 Divisionen erforderlich. Einzelheiten hierzu werden ab dem Abschnitt 7 behandelt.
Die sogenannten Ersatzdivisionen (86 Infanterie-Bataillone), die als Einsatzreserve gedacht waren, setzte v. Moltke ebenfalls auf dem linken Heeresflügel ein. Für Kampfhandlungen waren sie ungeeignet, wurden aber dennoch eingesetzt. Ihre Verwendung war richtigerweise im Aufmarschplan nicht festgelegt worden, ihre frühzeitige Festlegung im Krieg an dieser Stelle ein Fehler.
2.6
War v. Moltke davon überzeugt, dass die Kriegsentscheidung auf dem rechten deutschen Heeresflügel fallen würde, wie es sein Amtsvorgänger v. Schlieffen sah?
Das Reichsarchiv verneint in seinem Kriegswerk („Der Weltkrieg 1914–1918 “) diese Frage. Es sieht „tiefgehende Unterschiede zwischen Schlieffenscher und Moltkescher Auffassung“:
(Reichsarchiv, Der Weltkrieg, Band 1, Unterschied der Auffassungen Moltkes und Schlieffens, Seite 65)
v. Schlieffens Ziel war es, das französische Heer zu vernichten. Nur so konnte man zu einem Sieg gelangen.
(Zitat)
„Ergriff der Feind seinerseits die Offensive an anderer Stelle, etwa in den Reichslanden (Elsaß-Lothringen), so wurde das weite Ausholen durch Belgien … gegen-standslos. (v. Moltke) war dann entschlossen, die Entscheidung da anzunehmen, wo der Feind sie anbot“. (Zitat Ende)
(Reichsarchiv, Der Weltkrieg, Band 1, Rückblick Seite 643)
v. Moltkes Aufmarschplan war vorsichtig. Er deckte verschiedene Angriffsmöglichkeiten des französischen Heeres ab. Die 5. deutsche Armee, die zwischen Metz und Diedenhofen aufmarschierte, konnte bei Bedarf südlich von Metz auf dem linken Heeresflügel eingreifen.
Am 16. August 1914 änderte v. Moltke seine Meinung, wonach die Hauptmasse des fran-zösischen Heeres in Lothringen angreifen werde. Er erkannte, dass sich der Angriff auf die 1. und 2. französische Armee beschränkte. Erst von diesem Augenblick an suchte v. Moltke die Entscheidung auf dem rechten deutschen Heeresflügel. Dies war indessen nicht von Dauer. Zwei Wochen später, am Abend des 30. August 1914, gab v. Moltke seinen ursprünglichen Feldzugsplan auf. Das amtliche Eingeständnis der Aufgabe folgte im Tagesbefehl vom 5. September 1914 (Reichsarchiv, Der Weltkrieg, Band 4 Seite 3).
3. Die deutsche Heeresleitung (OHL) vom 2. August bis 14. September 1914
Das deutsche Heer wurde von drei Offizieren geleitet, dem Generalstabchef v. Moltke, dem Generalquartiermeister Hermann v. Stein und dem Leiter der Operationsabteilung, Gerhard Tappen. Die Behörde, in der sie arbeiteten, war das „Große Hauptquartier seiner Majestät des Kaisers“. Eine ausführliche Beschreibung gibt das Reichsarchiv im 1. Band seines Werkes „Der Weltkrieg“ auf Seite 179. Es war Operations-, Verwaltungs- und Regierungsstelle zugleich (so das Reichsarchiv aaO auf Seite 607). Die Ausscheidung einer Filiale der Opera-tionsabteilung zum Einsatz hinter dem kriegsentscheidenden rechten Heeresflügel lag nahe. Sie wurde aber nicht durchgeführt. Das „Große Hauptquartier“ wurde nach Kriegsbeginn von Berlin nach Koblenz und von dort am 30. August 1914 nach Luxemburg verlegt.
Man spricht abgekürzt von der „Obersten Heeresleitung“ (OHL) mit dem Kaiser als Spitze.
3.1
Der deutsche Generalstabchef Helmuth v. Moltke der jüngere traf eine Reihe von Fehl-entscheidungen, teils durch Erteilung von Befehlen, teils durch Unterlassung von Befehlen. In ihrer Summe führten diese Fehl-entscheidungen zum Rückzug des deutschen Heeres im Westen und der in ihm liegenden Kriegsniederlage. Man kann einen Grundfehler v. Moltkes feststellen: Ihm fehlte die Einsicht in die Beschränktheit der eigenen Mittel und der daraus folgenden Notwendigkeit, sich in den eigenen Zielsetzungen zu beschränken.
v. Moltke war 1848 geboren und lange Zeit als Adjutant seines Onkels gleichen Namens tätig gewesen und später als Flügeladjutant Kaiser Wilhelms II. Er erwarb sich das Vertrauen des Monarchen, zu dessen engster Umgebung er jahrelang gehörte. Dies mag der ausschlag-gebende Grund für seine Ernennung zum Generalstabchef gewesen sein. Die persönliche Beziehung zum Monarchen war die Grundlage seiner Tätigkeit. Nur in seinen jungen Jahren war v. Moltke in der Truppe tätig gewesen. In reiferen Jahren hatte er keine Gelegenheit, im Truppendienst seine Persönlichkeit als Offizier weiter zu entwickeln.
v. Moltke plagten Zweifel, ob er seinem Amt als Generalstabchef gewachsen sein würde. Er verblieb aber trotz gesundheitlicher Beeinträchtigungen, die seine Leistungsfähigkeit minderten, in seinem Amt. An einen günstigen Ausgang eines künftigen Krieges glaubte er nicht, sprach aber von „Zuversicht“, mit der man „unter den augenblicklichen Verhältnissen auch den schwer(st)en Aufgaben noch entgegensehen“ könne. v. Moltke wußte um die zahlenmäßige Unterlegenheit des deutschen Heeres und meinte, sie durch dessen Qualität – die er als gegeben annahm - wettmachen zu können. Im Kriege forderte er von den Soldaten rücksichtslosen Einsatz bis zur äußersten Erschöpfung. Ihm fehlte jedes Gefühl dafür, was er den Soldaten zumuten durfte, und jegliches Mitgefühl für deren Leiden.
v. Moltke erwies sich als nicht dialogwillig. Er hatte die Armeen auf ein von ihm zu bestimmendes Ziel hin auszurichten und zu koordinieren. Die Führung der Armeen erforderte einen Gedankenaustausch vor Ort mit deren Oberbefehlshabern und ihren Generalstabchefs. Da v. Moltke dies nicht tat, war ein planloses Nebeneinander der Armeen die Folge. Jede Armee kämpfte für sich. v. Moltke traf Entscheidungen bisweilen gegen den ausdrücklichen Willen der Armeeoberkommandos. Stellte sich nachträglich heraus, dass eine Entscheidung fehlerhaft war, so hielt er gleichwohl an ihr fest. Das Reichsarchiv spricht von einer Scheu, einmal getroffene Entscheidungen zu widerrufen. Willensschwäche paarte sich mit Eigensinn und Uneinsichtigkeit.
Bezeichnend ist eine Äußerung des Generals Josias v. Heeringen, der in der Ära v. Moltke Oberbefehlshaber der 7. deutschen Armee war. Das Reichsarchiv berichtet, dass dieser am 7. September 1914 eine Fahrt aus Lothringen nach Belgien zu seinem neuen Wirkungsort antrat. Auf der Durchreise meldete er sich in Luxemburg bei Generalstabchef v. Moltke. Das Reichsarchiv schreibt (Der Weltkrieg, Band 4, Die deutsche OHL während der Marne-schlacht Seite 143):
(Zitat)
„Auf … v. Heeringen … machte v. Moltke „einen bedrückten, leidenden, ja pessi-mistischen Eindruck“… Zu einer Aussprache, „wie man sich eine solche mit einem das Große Hauptquartier passierenden Armee-Oberbefehlshaber denken sollte“, sei es über-haupt nicht recht gekommen.“ (Zitat Ende)
In persönlichen Gesprächen mit den Offizieren der Armee-Oberkommandos konnte der Generalstabchef zu neuen Einsichten und Erkenntnissen gelangen. Auf diesen Gedanken ist v. Moltke niemals gekommen.
In den Tagen vom 6. bis zum 9. September 1914 – sogenannte Marneschlacht - blieben die Armee-Oberkommandos ohne jede grundlegende Weisung (Reichsarchiv, Der Weltkrieg, Band 4, Rückblick Seite 541). Vermutlich wußte er selbst nicht, was er tun sollte. Es wäre die Pflicht v. Moltkes gewesen, selbst zu den Armeen, die zwischen den Festungen Paris und Verdun im Kampfe standen, zu fahren. Stattdessen entsandte er den Oberstleutnant Hentsch zu ihnen und setzte sich damit über die bestehenden Zuständigkeitsregeln hinweg. Hentsch war Leiter der Nachrichtenabteilung im Großen Hauptquartier. Er hatte die Nachrichten über die feindlichen Armeen und ihre Verteilung zu sammeln und darüber dem Generalstabchef zu berichten. Eine Einwirkung auf die Operationen des Feldheeres kam ihm nicht zu. Wie kam v. Moltke dazu, einen Offizier mit einer Aufgabe zu betrauen, die nicht zu seinem Tätigkeitsbereich gehörte?
Hentsch befahl den Oberkommandos der 1. und 2. Armee den Rückzug. Eine schriftliche Vollmacht dazu hatte er nicht. Der Auftrag, den ihm v. Moltke erteilte, ist nirgends schrift-lich niedergelegt. Über seinen Inhalt gibt es widerstreitende Meinungen (Reichsarchiv, der Weltkrieg, Band 4 Das Eingreifen der OHL in die Schlachtentscheidung, Seite 223 ff). Wie kann es sein, dass Gerhard Tappen als Leiter der Operationsabteilung über den Inhalt des Auftrages, den v. Moltke Hentsch erteilte, nicht unterrichtet war? Das Reichsarchiv berichtet von einem Meinungsgegensatz zwischen Hentsch und Tappen (Der Weltkrieg, Band 4 Rück-blick Seite 432). Warum entsandte v. Moltke nicht seinen Adjutanten oder seinen Stellvertreter an die Front? Die Verantwortlichkeit für die Folgen der Entsendung – den von Hentsch befohlenen Rückzug und die dadurch eingetretene deutsche Niederlage - liegt jeden-falls bei v. Moltke. Er w o l l t e den Rückzug.
Erstmals seit Kriegsbeginn am 2. August 1914 trat v. Moltke am 11. September 1914 um 5.00 Uhr morgens eine Fahrt zu den Oberkommandos der 5., 4. und 3. Armee an. Anlass der Fahrt vom 11. September 1914 war der Rückzug der 1. und der 2. Armee am 9. September 1914 und die durch den Rückzug entstandene unklare Lage der Westfront. Das Reichsarchiv schreibt (Der Weltkrieg, Band 4, Die deutsche OHL vom 08. bis 10. September, Seite 332 letzter Absatz):
(Zitat)
„Die ungeklärten Verhältnisse auf dem rechten Heeresflügel bestimmten Generaloberst v. Moltke, seine für den nächsten Tag beabsichtigte Fahrt …. auch bis zur 2. Armee auszudehnen, um persönlich Klarheit zu gewinnen über die nun schon
seit sechs Tagen bestehende Krisis (Hervorhebung vom Aufsatzverfasser)
und sie, wenn möglich, durch Eingreifen an Ort und Stelle zu beheben. Jetzt endlich, gleichsam in letzter Stunde, geschah, was schon seit Beginn der Operationen dringend gewesen war:
die Herstellung persönlicher Fühlung und unmittelbaren Gedankenaustausches zwischen dem Chef des Generalstabes des Feldheeres und den an der Front befehligenden Führern.“ (Hervorhebung vom Aufsatzverfasser)
(Zitat Ende)
Was v. Moltke vor Ort tat, war, der 5. und der 4. Armee den Rückzug zu befehlen. Bei der 1. und 2. hatte dies bereits sein Abgesandter Hentsch getan. Das Ziel war die Wiederherstellung einer einheitlichen Frontlinie, die im Laufe der letzten beiden Wochen verloren gegangen war.
3.2
Ein ungelöstes Problem des deutschen Generalstabchefs im Frieden war der drohende Zweifrontenkrieg. Auf dem östlichen Kriegsschauplatz drohte im Kriegsfall eine Niederlage.
Die für Ostpreußen vorgesehene 8. Armee war ihrem voraussichtlichen Gegner, der 1. und der 2. russischen Armee, um die Hälfte unterlegen. Eine militärische Konzeption, wie sie gleichwohl erfolgreich sein sollte, gab es nicht. v. Moltke schob die Frage als ein ungelöstes Problem vor sich her. Seine Denkschrift vom 21. Dezember 1912, die er an den Reichs-kanzler richtete, enthält eine krasse Fehleinschätzung der Lage:
(Zitat)
„Augenblicklich ist Rußland mit der Reorganisation seines Heeres, mit seiner Ausrüstung und seiner Bewaffnung noch sehr im Rückstand. Zur Zeit würde daher auch ihm gegen-über der Dreibund einen Waffengang trotz seiner numerischen Unterlegenheit nicht zu scheuen brauchen… “ (Zitat Ende)
Im Frühjahr 1914 lautete die Beurteilung des deutschen Generalstabs anders. Das Reichs-archiv führt aus (Der Weltkrieg, Band 2, Die Rüstungen und Stärkeverhältnisse bis zum Sommer 1914, Seite 15/16)
(Zitat)
„In Bezug auf Ausbildung, Bewaffnung und Ausrüstung wurde das russische Heer als vollwertig angesehen, obgleich seine aktiven Verbände in der Stärke der Geschütz- ausrüstung hinter gleichartigen deutschen Verbänden zurückstanden; dafür waren sie den österreichisch-ungarischen in dieser Hinsicht umso mehr überlegen.“ (Zitat Ende)
Ob der Reichskanzler vor Kriegsbeginn über die drohende Niederlage des Reiches im Osten unterrichtet wurde, hat der Aufsatzverfasser nicht feststellen können.
Die militärische Bedrohung des Reiches durch Rußland trat in den letzten Julitagen 1914 in ein akutes Stadium. Es ist ein Märchen, dass man auf deutscher Seite noch im
Jahre 1914 mit einer russischen Mobil-machungsdauer von sechs Wochen gerechnet habe. Der deutsche Generalstab beurteilte 1914 die Dauer einer russischen Mobilmachung wie folgt (Reichsarchiv
aaO):
(Zitat)
„daß die Kriegsbereitschaft Rußlands… sich in einigen Punkten über die Kriegs-bereitschaft der übrigen Großmächte einschließlich Deutschlands erhebt, nämlich…“
(Diese Punkte werden sodann aufgezählt, der Aufsatzverfasser.)
Rußland (habe) „die Möglichkeit außerordentlicher Beschleunigung der Mobilmachung mit Hilfe einer „Kriegsvorbereitungsperiode“. Unter deren voller Ausnutzung könne Rußland schon bis zum 18. Mobilmachungstage 63 Infanterie- und Reserve-Divisionen und 22 Kavallerie-Divisionen an seiner europäischen Grenze bereitzustellen.“ (Zitat Ende)
Bereits am 25./26. Juli 1914 - unmittelbar nach der Beendigung des Besuches des französischen Ministerpräsidenten Poincaré in Rußland - begann dieses mit seiner „Kriegsvorbereitungsperiode“. Darüber lagen dem deutschen Generalstab zuverlässige Nachrichten vor. Bereits am 17. August 1914 überschritten Einheiten der 1. russischen Armee im Osten von Ostpreußen die Reichsgrenze. Drei Tage später überschritten Einheiten der 2. russischen Armee die Südgrenze Ostpreußens. Ohne die vorangegangene Vorbereitungsperiode wäre dies nicht möglich gewesen.
3.3
Das Deutsche Reich war aufgrund des Zweibundvertrages mit Österreich-Ungarn vom 8. Oktober 1879 verpflichtet, diesem im Falle eines russischen Angriffs militärisch beizustehen. Divisionen, um das österreichisch-ungarische Heer zu unterstützen, hatte das Deutsche Reich nicht. v. Moltke besaß nicht die moralische Stärke, sich die Unmöglichkeit einer Hilfe-leistung einzugestehen. Der deutsche Reichskanzler v. Bülow sprach von „Nibelungentreue“ gegenüber Österreich-Ungarn – aber im Ernstfall war Deutschland nicht in der Lage, seiner Bündnisverpflichtung nachzukommen.
Ohne deutschen Beistand war im Kriegsfalle eine Niederlage Österreich-Ungarns zu erwarten. In dem zu erwartenden Zweifrontenkrieg zog diese zwangsläufig die Niederlage des Deutschen Reiches nach sich. Wie man dies vermeiden wollte, diese Frage schob v. Moltke im Frieden ungelöst vor sich her. Es regierte das "Prinzip Hoffnung“, dass das Feldheer Österreich-Ungarns sich gegen das russische Heer behaupten werde. Die 5. Abteilung des deutschen Generalstabs, die für Österreich-Ungarn zuständig war, erkannte wohl eine Schwäche dessen Heeres, verkannte aber deren Ausmaß, vor allem, was die Schwäche der Artillerie anging.
Ein Angriff deutscher Truppen aus Ostpreußen im Zusammenwirken mit einem Angriff österreichisch-ungarischer Truppen aus Polen und Galizien war 1909 lediglich angedacht worden. Deutsche und Österreicher beurteilen die Absprachen jeweils anders. v. Moltke eierte in seinen Äußerungen herum, ohne sich festzulegen. Er muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass er es an Aufrichtigkeit gegen-über seinem Kollegen Conrad v. Hötzendorf fehlen ließ. Dieser soll sein Einverständnis damit erklärt haben, dass das deutsche Heer zunächst im Westen gegen Frankreich die Entscheidung suchte. v. Moltke soll ihm die deutschen sogenannten Ersatzdivisionen schriftlich als Hilfe zugesagt haben, setzte dies aber nicht in die Tat um.
Davon, dass die Niederlage Österreich-Ungarns im Kriege überraschend kam, kann nicht die Rede sein.
4.4
Die ungelösten Probleme holten v. Moltke im Kriege mit voller Wucht ein. Am 20. August 1914 wurde der OHL der Rückzug der 8. Armee in Ostpreußen gemeldet. Deren Ober-befehlshaber wollte seine Armee bis hinter die Weichsel zurückführen. Als Folge dieser Mitteilung konzentrierte sich die OHL auf die Ostfront und war am 21. und 22. August 1914, soweit es die Kämpfe an der Westfront ging, handlungsunfähig. Das Reichsarchiv schreibt (Der Weltkrieg, Band 1, Die deutsche OHL während der Grenzschlachten Seite 431):
(am 21. und 22. August 1914) (Zitat)
„..wurde die Aufmerksamkeit der OHL durch die Vorgänge auf dem östlichen Kriegs-schauplatz stark in Anspruch genommen, wenn nicht gar abgelenkt.“ (Zitat Ende)
Ein Rückzug zur Weichsel wäre einer Niederlage gleichgekommen.
Die psychologischen Auswirkungen, was die deutsche und die inter-nationale Öffentlichkeit anging, wären bedenklich gewesen. Aus militärischer Sicht überwogen ebenfalls die Bedenken. Zwar hoffte v. Moltke darauf, bereits nach sechs Wochen Kriegsdauer Truppen aus dem Westen nach dem Osten fahren zu können. Dann konnte man die Lage dort durch einen Angriff wiederherstellen. Aber das war ein Wechsel auf die Zukunft, dessen Einlösung ungewiß war. Besser war es, wenn man gar nicht erst durch einen Rückzug der 8. Armee unter einen solchen Zeitdruck geriet.
Im Verhältnis des Deutschen Reiches zu Österreich-Ungarn hätte ein deutscher Rückzug zur Weichsel zur Folge gehabt, dass eine Unterstützung des österreichisch-ungarischen Feldheeres durch deutsche Truppen unmöglich wurde. Dessen Niederlage war dann nur eine Frage der Zeit. Zwar war die Lage am 20. August noch nicht kritisch. Aber mit dem Erscheinen weiterer russische Armeen in Galizien war in Kürze zu rechnen, und dann war ohne eine deutsche Unterstützung eine Niederlage nicht zu vermeiden. v. Moltke mußte sich daher die Möglichkeit einer Unterstützung offen halten, und das ging nur, wenn sich die 8. Armee in Ostpreußen behauptete. Der Rückzug der 8. Armee war daher zu vermeiden - aber wie?
Mit der Amtsenthebung des Generalstabchefs der 8. Armee, Georg Graf Waldersee, und der Entsendung Ludendorffs nach Ostpreußen als neuer Generalstabchef (21./22. August 1914) zog v. Moltke die Notbremse. Er hatte Vertrauen zu Ludendorff wie zu keinem anderen Offizier. Vielleicht konnte dieser die Lage noch retten. Die Einstellung des Rückzugs und eine neue Schlacht wurden befohlen. Am 27. August 1914 gelang der 8. Armee der schlachtentscheidende Durchbruch gegenüber der 2. russischen Armee. Die unmittelbare Gefahr war damit beseitigt.
Am 25. August 1914 traf v. Moltke die weitere Entscheidung, zwei Armeekorps aus dem Westen nach Ostpreußen zu entsenden. Eine militärische Notwendigkeit dafür bestand zu jenem Zeitpunkt nicht. Ludendorff hatte keine Unterstützung angefordert, und für die in Ostpreußen unmittelbar bevorstehende Schlacht kamen die Korps zu spät. Der Befehl v. Moltkes wurde am 27. August durch die Verladung der Truppen auf die Eisenbahn umgesetzt. Sie konnten zu jenem Zeitpunkt noch angehalten oder umgeleitet werden. v. Moltke lehnte dies ab.
Mit seiner Entscheidung, Truppen aus dem Westen nach Ostpreußen anstatt von Galizien zu fahren, besiegelte v. Moltke die Niederlage der Armee Österreich-Ungarns. Dessen Generalstabchef Conrad v. Hötzendorf hatte Unterstützung angefordert, und ohne eine deutsche Unterstützung war die Niederlage unausweichlich. Sie hatte den Untergang der Monarchien Österreich und Ungarn zur Folge. Es war eine Fehlentscheidung.
Zuzugeben ist, dass eine Unterstützung der Verbündeten im Großen Hauptquartier in Koblenz schwierig durchzusetzen gewesen wäre. Wer wäre schon bereit gewesen, das eigene Land zum Vorteil des Verbündeten zu benachteiligen? Vielleicht hätte v. Moltke im Frieden dem Reichskanzler sagen sollen, dass Österreich-Ungarn einen Krieg gegenüber Russland verlieren würde?
4.5
„Hauptberater des Generalstabchefs war während der ersten Monate des Krieges unbestritten der Chef der Operationsabteilung, Oberstleutnant Tappen“ (Reichsarchiv, Der Weltkrieg, Band 1, Seite 181). Er verdankte sein Amt dem Umstand, dass Erich Ludendorff am 27. Januar 1913 von heute auf morgen als dem Kriegsminister mißliebig aus dem Generalstab zur Infanterie versetzt worden war. Gerhard Tappen stand als damaliger Armeereferent im Generalstab gerade als Ersatz zur Verfügung. Für die Stellung als Leiter der Aufmarsch-abteilung und im Krieg der Operationsabteilung war er als ein Mann von mittelmäßiger Begabung und mangelnder militärischer Vorstellungskraft nicht qualifiziert. Die Berücksichtigung örtlicher Gegebenheiten war Tappens Sache nicht. Er war ein Schreibtisch-Krieger. Sein Name ist mit Fehlentscheidungen des Generalstabchefs verbunden, die zur Niederlage des Heeres führten.
4.6
v. Stein war seit 1903 Leiter der 2. Deutschen Abteilung und seit 1908 Oberquartiermeister I im Generalstab gewesen. Der Oberquartiermeister I faßte im Generalstab die Aufmarsch-abteilung und die Eisenbahnabteilung zusammen und vertrat den Generalstabchef. Er führte die Gespräche mit dem Kriegsministerium über die Ausstattung des Heeres. Im September 1912 erhielt v. Stein das Kommando über die neu gebildete 41. Division und schied aus dem Generalstab aus – nach einer neunjährigen Tätigkeit in überwiegend leitender Stellung.
General Ludendorff, der im Frieden sieben Jahre lang Untergebener Steins war, sieht einen „ausschlaggebenden“ und „maßgebenden“ Einfluss Steins auf v. Moltke (Ludendorff, Mein militärischer Werdegang, Sektionschef in der Aufmarschabteilung Seite 90 - 91). v. Stein war auf das Genaueste mit dem Operationsplan des Generalstabchefs vertraut, möglicher-weise hat er ihn selbst durch seine Beratung beeinflußt.
Mit Kriegsbeginn 1914 wurde v. Stein als Generalquartiermeister in den Großen Generalstab berufen und in dieser Eigenschaft wiederum Stellvertreter des Generalstabchefs. Er galt als willensstark und durchsetzungsfähig und sollte v. Moltke, der gesundheitlich angeschlagen war, zur Stütze dienen. Bei den Vorträgen, die der Generalstabchef dem Kaiser hielt, war v. Stein zugegen.
4.7
Das Reichsarchiv schreibt, v. Stein sei die Rolle als erster Gehilfe des Generalstabchefs zugedacht gewesen. Diese Rolle habe er wegen Arbeitsüberlastung nur unvollkommen ausfüllen können und sich von der Leitung der Operationen mehr und mehr zurückgezogen. (Reichsarchiv, Der Weltkrieg, Band 1, Seite 180). Überzeugend ist diese Erklärung des Rückzugs nicht. Der fortschreitende Ausfall v. Moltkes hätte durch einen verstärkten Einsatz seines Stellvertreters kompensiert werden sollen. v. Moltke war nicht bereit, dies zuzulassen.
Das Reichsarchiv führt Einzelfälle an, in denen v. Stein für die OHL eine Entscheidung traf. Das konnte er nur solange und soweit tun, als er sich im Einvernehmen mit dem ihm über-geordneten Generalstabchef wußte. Während der kriegsentscheidenden sogenannten Marne-schlacht (5. bis 9. September 1914) bestand offenbar ein solches Einvernehmen nicht. Bei der Besprechung des Generalstabchefs am Vormittag des 8. September, in welcher die Entsendung des Leiters der Nachrichtenabteilung in der OHL, Richard Hentsch, zu den Armee-Oberkommandos beschlossen wurde, war v. Stein
– „auffallenderweise“, sagt das Reichsarchiv (Der Weltkrieg, Band 4, Das Eingreifen der Obersten Heeresleitung in die Schlachtentscheidung Seite 222) –
nicht zugegen. Das deutet darauf hin, dass er mit dem, was da vor sich ging, nichts zu tun haben wollte. Am 9. September 1914 widersprach v. Stein, als v. Moltke dem Kaiser den Rückzug vorschlug (Reichsarchiv, Der Weltkrieg, Band 4, Die deutsche Oberste Heeres-leitung vom 8. bis 10. September, Seite 318). Die Entsendung von Hentsch führte zum deutschen Rückzug von der Marne am 9. September und damit zur Kriegsniederlage.
Es stand v. Moltke frei, am 8. September 1914 statt des Leiters der Nachrichtenabteilung Richard Hentsch seinen Stellvertreter v. Stein zu den Armee-Oberkommandos zu entsenden. v. Stein konnte kraft seines Amtes den Armee-Oberbefehlshabern vor Ort Befehle erteilen, um die an der Front aufgetretenen Schwierigkeiten zu meistern. Warum tat v. Moltke dies nicht? Ein Rückzug wäre dann vermieden worden.
Erst als v. Moltke krankheitsbedingt nicht mehr handlungsfähig war, durfte v. Stein am 13. und 14. September (zusammen mit Gerhard Tappen) eine Reise zu den Armeen der Heeres-mitte und des rechten Heeresflügels unternehmen. In persönlichen Gesprächen mit den Oberbefehlshabern der Armeen und ihren Generalstabchefs ordnete er Maßnahmen an, um einen Gegenangriff französischer und britischer Truppen abzuwehren und einen Zusammen-bruch der Front zu verhindern.
Als v. Stein am Morgen des 15. September 1914 ins Große Hauptquartier zurückkehrte, fand er auf seinem Schreibtisch den Befehl vor, das Kommando über ein Reservekorps zu über-nehmen. Der Verdacht drängt sich auf, dass „man“ seine Abwesenheit dazu benutzt hatte, ihn als Generalquartiermeister abzusägen.
5. Generalstabchef v. Moltke und seine Heeres-Kommunikation
Unter den Ursachen für die deutsche Niederlage spielt die mangelhafte Kommunikation zwischen der OHL und den Armee-Oberkommandos sowie zwischen den Armee-Ober-kommandos untereinander eine besondere Rolle. Die Ursachen für den Mangel liegen sowohl in der technischen Rückständigkeit des deutschen Heeres im Frieden als auch in der Person des Generalstabchefs v. Moltke und des Generalquartiermeisters v. Stein.
5.1
In seinen Ausführungen über die „Grenzschlachten“ (20. bis 25./27. August 1914) spricht das Reichsarchiv von dem
(Zitat)
„Fehlen ausreichender Nachrichtenmittel und Verbindungen zur Front. Man hatte sich im Frieden wohl kein völlig zutreffendes Bild davon gemacht, welche gewaltigen Anfor-derungen der moderne Krieg gerade an die Nachrichtenmittel stellen würde. Ihre technische Vervollkommnung hatte noch nicht den Grad erreicht, dass sie allen Anforderungen gerecht werden konnten. Insbesondere war die Funkentelegraphie, auf die sich die Oberste Heeresleitung beim Verkehr mit den weit entfernten Armee-Ober-kommandos 1 und 2 schon jetzt fast ausschließlich angewiesen sah, in bezug auf Reichweite, Betriebssicherheit und Zahl der Stationen den starken Anforderungen nicht gewachsen. Ein einigermaßen genügender Fernsprechverkehr bestand damals nur mit den Armeen des linken Flügels und der Mitte sowie mit dem Armee-Oberkommando 3.“
(Reichsarchiv, Der Weltkrieg, Band 1, Die deutsche OHL vor Beginn der Grenz-schlachten, Seite 260)
(Zitat Ende)
Zu ergänzen ist, dass es die Kriegsminister v. Einem und v. Heeringen waren, die entgegen der zuständigen Fachbehörde, der Inspektion der Verkehrstruppen, die Bedeutung der technischen Kommunikationsmittel in grober Weise unterschätzten.
In der sogenannten Marneschlacht (5. – 9. September 1914) unternahm die OHL nichts, um dem Übelstand mangelhafter Kommunikation abzuhelfen. Das Reichsarchiv schreibt (Der Weltkrieg, Band 4, Die deutsche OHL während der Marneschlacht am 5., 6. und 7. September Seite 139/140):
(Zitat)
„Das Große Hauptquartier in Luxemburg war … mit den Oberkommandos 4, 5, 6 und 7 durch Fernsprecher verbunden. Mit den Oberkommandos 1, 2 und 3 bestand lediglich Funkverbindung, die namentlich zur 1. Armee sich zur letzten Zeit mit zunehmender Entfernung sich als durchaus unzuverlässig erwiesen hatte…
Der Versuch der Herstellung einer unmittelbaren Fernsprechverbindung … wurde nicht unternommen, obwohl dies … verhältnismäßig schnell zu bewerkstelligen gewesen wäre…
Lediglich zwischen den Armeen der Mitte und des linken Flügels des Heeres bestand eine unmittelbare Drahtverbindung, während eine solche zwischen den Armee-Ober-kommandos des rechten Flügels … fehlte….
Bei einheitlichen Anweisungen und planmäßigem Einsatz aller personellen und materiellen Mittel hätte diesem Übelstand zweifellos abgeholfen werden können….
Die unzureichende Verbindung … sollte verhängnisvolle Folgen haben und die operative Einwirkung der Obersten Heeresleitung auf den Verlauf der Schlacht fast ausschalten.“
(Zitat Ende)
Zuständig wäre für derartige Maßnahmen der Generalquartiermeister v. Stein gewesen. Die Untätigkeit des Generalstabchefs wird dadurch aber nicht entschuldigt.
5.2
Eine eigenständige Meinung setzte ein eigenständiges Bild von der Lage voraus. Dies hätte v. Moltke in persönlichen Gesprächen mit den leitenden Offizieren der Armee-Ober-kommandos oder durch Berichte von Nachrichtenoffizieren gewinnen können:
(Zitat)
„Um unabhängig von den Auffassungen der Armeen zu klarem eigenem Wollen zu kommen, bedurfte der Leiter der Gesamtoperation allerdings einer zutreffenden, den wechselnden Lagen an der Kampfesfront schnell folgenden Berichterstattung über die Vorgänge bei den einzelnen Armeen. Dadurch, daß er weit rückwärts den Kampf-vorgängen fernblieb, vermochte er sich ein selbständiges Urteil über die Lage an der Front nicht zu bilden; er sah diese in den Farben der langsamen, oft durch die Ereignisse überholten Berichterstattung der Armee-Oberkommandos und war dauernd von ihr abhängig. Fehler, die hier unterliefen, fanden bei der Obersten Heeresleitung keinen Ausgleich und konnten sich daher verhängnisvoll auswirken…“ (Zitat Ende)
(Reichsarchiv, Der Weltkrieg, Band 1, Die deutsche OHL in den Grenzschlachten, Seite 437)
v. Moltke verließ sich statt eigener Ermittlungen auf die Berichterstattung der Armee-Ober-kommandos, „die die Lage begreiflicherweise nur zu leicht aus den besonderen Verhält-nissen ihrer eigenen Front beurteilten“. So schreibt es das Reichsarchiv (Der Weltkrieg, Band 1, die deutsche OHL vor Beginn der Grenzschlachten, Seite 258). Die Armee-Oberkommandos neigten dazu, eigene Erfolge überzubewerten. In ihren Äußerungen gaben sie subjektive Einschätzungen wieder. Das sollte man nicht kritisieren, wohl aber den Generalstabchef, der darauf sein Urteil stützte.
Ein übliches Mittel für eine höhere Führung, sich zu unterrichten, war die Entsendung von Nachrichtenoffizieren zu den unmittelbar unterstellten militärischen Einheiten, bei v. Moltke also zu den Armee-Oberkommandos. Diese Offiziere hatten Gespräche zu führen, sie wohnten internen Beratungen bei und erhielten dadurch ein vertieftes Verständnis der Sachlage. Entsprechend konnten sie der höheren Führung berichten. Ein Versuch, einen Nachrichtenoffizier zur 5. Armee zu entsenden, den die OHL am 22. August unternahm, brachte ein günstiges Ergebnis (Reichsarchiv, Der Weltkrieg, Band 1, Seite 324).
v. Moltke lehnte die Entsendung von Nachrichtenoffizieren dennoch ab. Er hielt dies für ein Mißtrauen gegenüber den Offizieren in den Armee-Oberkommandos, das diese nicht verdienten (Reichsarchiv, Der Weltkrieg Band 1 die OHL während der Verfolgungs-kämpfe... Seite 605, Band 4, Die deutsche OHL während der Marneschlacht, Seite 139). Das war ein grundlegendes Mißverständnis. Der höhere militärische Führer konnte nicht überall gleichzeitig sein und mußte daher zu seiner Unterrichtung dritte Personen einschalten. v. Moltke tat dies nicht. Er traf schwerwiegende Entscheidungen von oben herab ohne eine ausreichende Informationsgrundlage. Fehlentscheidungen waren die unvermeidliche Folge.
5.3
Die OHL erhielt Siegesmeldungen deutscher Armeen, in denen dem Gegner eine „entscheidende“ Niederlage zugesprochen wurde, was sich im Rückblick als unzutreffend herausstellte.
Am 24. August 1914 um 11.45 Uhr abends berichtete das Oberkommando der 2. Armee der OHL (Reichsarchiv, Der Weltkrieg, Band 1, Die Schlacht bei Mons und Namur, Seite 406 und Die deutsche OHL in den Grenzschlachten Seite 438):
(Zitat)
„2. Armee hat am 24., dem zweiten Tage der Schlacht bei Namur, den gegenüber-stehenden Feind trotz hartnäckigen, zum Teil offensiven Widerstandes unter schweren Kämpfen
entscheidend
(Hervorhebung durch den Aufsatzverfasser)
geschlagen. Zahlreiche Geschütze erbeutet… 1. Armee westlich Maubeuge im Kampf mit englischer Armee,
Umfassung eingeleitet
(Hervorhebung durch den Aufsatzverfasser)
Höherer Kavalleriekommandeur 2 zersprengte englische Brigade, Divisionskommandeur und zahlreiche Offiziere gefangen. Höherer Kavalleriekommandeur 1 meldet flucht-artigen Rückzug der Engländer aus ihren Stellungen…
Angriffstruppe Namur (Garde-Reservekorps und XI. Armeekorps, der Aufsatzverfasser) bis auf eine halbe Division für andere Verwendung frei geworden…“
(Zitat Ende)
Am Abend des 25. August 1914 setze der Oberbefehlshaber der 5. Armee, der deutsche Kronprinz Wilhelm - eine Siegesmeldung an die OHL ab, in der es hieß (Reichsarchiv, Der Weltkrieg, Band 1, Die Kämpfe der deutschen Mitte bis zum 25. August, Seite 566):
(Zitat)
„Meine Armee hat vier Tage hindurch in schweren, blutigen Kämpfen den Gegner aus einer Stellung in die andere getrieben. Eine vollständige Vernichtung der uns gegenüber befindlichen französischen Armee wurde im Laufe des heutigen Tages durch eine starke feindliche Offensive aus der Gegend südlich Verdun verhindert. Eine große Zahl von Geschützen und eine Unzahl Gefangener sind uns in die Hände gefallen. Meine Truppen haben sich überall hervorragend geschlagen. Die Verluste sind sehr groß.“
„Noch zuversichtlicher äußerte sich sein (des Kronprinzen Wilhelm, der Aufsatz-verfasser) Generalstabchef eine halbe Stunde später bei einem Ferngespräch mit der Obersten Heeresleitung: Der Feind wäre nach vier Tagen schweren Kampfes verschwunden und anscheinend „zertrümmert“. Die Flankenbedrohung sei nicht imstande, der Armee etwas anzuhaben, da die übrige französische Armee nicht mehr angriffsfähig wäre. Die 5. Armee könne alles tun, was von ihr verlangt würde.“
(Zitat Ende)
Das Reichsarchiv gibt den Eindruck in der OHL Stand 24./25. August mit folgenden Worten wieder (Der Weltkrieg, Band 1, Die deutsche OHL in den Grenzschlachten Seite 439):
(Zitat)
„… Ein Sieg schien errungen, dessen Auswirkung der Feind sich offenbar nicht mehr entziehen konnte: Die große Feldzugsentscheidung im Westen schien zugunsten der deutschen Waffen gefallen zu sein…“ (Zitat Ende)
Im „Rückblick“ (Reichsarchiv, der Weltkrieg, Band 4 Seite 508) wird die Einschätzung in der OHL Stand 27. August 1914 unter anderem mit folgenden Worten wiedergegeben:
(Zitat)
„Der schwerste Teil der Kampfaufgabe im Westen schien bewältigt. Der Feind war überall geschlagen, zwar nicht so entscheidend, wie es in den ersten Tagen nach den Grenzschlachten den Anschein gehabt hatte, aber doch wohl gründlich genug, um die berechtigte Aussicht auf baldige Vollendung des Sieges zu eröffnen…“ (Zitat Ende)
Es handelte sich um Wunschdenken. Der Feind war keineswegs „überall geschlagen“, man denke nur an die Niederlage der 6. Armee in der Pforte von Charmes. Die OHL verdrehte die Tatsachen: Sie behauptete, die 6. Armee habe einen französischen Vorstoß zum Halten gebracht. In Wirklichkeit hatte die 2. französische Armee einen Angriff der 6. Armee in einem Gegenangriff zurückgeschlagen. Bei der 1. Armee war eine Umfassung des englischen Expeditionskorps bisher nicht gelungen. Die Behauptung der OHL, der Feind habe „Maas-linie verloren“, war eine Erfindung. Die 4. Armee stand am Beginn von schweren Kämpfen um diese Linie, die 5. Armee hatte die Maas noch nicht einmal erreicht. Man hatte der Feind zurückgeworfen – ob er geschlagen war, musste sich erst zeigen.
5.4
v. Moltke traf seine weiteren Entscheidungen aufgrund der Siegesmeldungen zweier Armee-Oberkommandos. Er befahl am Abend des 25. und am Vormittag des 26. August 1914 die Entsendung von drei Armeekorps der Westfront nach dem Osten. Das Reichsarchiv führt aus (Der Weltkrieg, Band 1, Die deutsche OHL in den Grenzschlachten Seite 440):
(Zitat)
„Daß für die Abbeförderung der … Armeekorps nach dem Osten lediglich die günstige Beurteilung der Lage auf dem westlichen Kriegsschauplatz maßgebend gewesen war und nicht etwa schwächliche Rücksicht auf die schwierige Lage im Osten, geht auch aus einer Mitteilung des Generalobersten v. Plessen
(Diensttuender Generaladjutant des Kaisers und erster Kommandant des Großen Hauptquartiers, der Aufsatzverfasser)
hervor, in der es heißt: „Ich habe den täglichen Vorträgen des Chefs des Generalstabs beim Kaiser regelmäßig beigewohnt und kann auf das Bestimmteste versichern, daß die Auffassung des Chefs des Generalstabes nach Eingang der ausführlichen Meldung des Armee-Oberkommandos 2 über den Verlauf der der Schlacht im Sambre-Maasbogen am 25. August eine außerordentlich optimistische war. Der Generalstabchef sowie der Chef der Operationsabteilung, Oberstleutnant Tappen, vertraten die Auffassung, daß die Grenz-schlachten die Entscheidung im Westen zugunsten der Deutschen voll herbeigeführt hätten.
Lediglich aus dieser zu optimistischen Auffassung heraus erklärt sich der Entschluß zum Abtransport des Garde-Reserve- und XI. Armeekorps nach dem Osten. Am 25 August äußerte Oberstleutnant Tappen wörtlich zu mir:
„In sechs Wochen ist die ganze Geschichte erledigt.“
(Hervorhebung vom Aufsatzverfasser)
(Zitat Ende)
v. Moltke und Tappen unterlagen einer katastrophalen Fehleinschätzung der Lage.
Es dürfte unstreitig sein, dass in der vorzeitigen Schwächung der Westfront um zwei oder drei Armeekorps eine Hauptursache für den deutschen Rückzug von der Marne und damit für die deutsche Niederlage im 1. Weltkrieg liegt. Generalstabchef v. Moltke sah dies später ebenso.
5.5
Dass die Auffassung, den Niederlagen des Gegners komme entscheidende Bedeutung zu, unzutreffend war, wurde bereits innerhalb der nächsten drei Tage erkannt. Gleichwohl legte Generalstabchef v. Moltke seinem Verhalten weiterhin eine übertrieben optimistische Lage-beurteilung zugrunde. Er lehnte es ab, seine Entscheidung zur Entsendung von Armeekorps nach dem Osten zurückzunehmen. Die Befehle der OHL vom 27. August (Reichsarchiv, Der Weltkrieg, Band 3 Seite 6) zeigen, dass seine Lagebeurteilung, soweit es um die Heeresmitte und den linken Heeresflügel ging, den Tatsachen widersprach. Die OHL schuf sich eine Wirklichkeit nach ihrem Bilde, nach ihren Phantasievorstellungen, nicht nach den objektiven Tatsachen. Dies ist die zentrale Wurzel der deutschen Niederlage.
Die OHL hielt weiterhin den Gegner für gründlich geschlagen. Ein Anhalten der eigenen Truppen und eine Neugruppierung schien v. Moltke nicht erforderlich. Die Einschätzung in der OHL gibt das Reichsarchiv so wieder (Der Weltkrieg, Band 4, Rückblick Seite 508):
„…Es kam offenbar nur noch darauf an, durch rücksichtslose Verfolgung auf der ganzen Linie die Ernte der bisherigen Kampfesarbeit einzubringen. Gewiß war man darauf gefaßt, daß der Feind auf seinem Rückzuge … noch hartnäckigen Widerstand leisten würde, aber nicht mehr, um sich in einer zweiten großen Feldschlacht zum Entscheidungskampf zu stellen, sondern wohl nur noch, um die Wucht der deutschen Verfolgung zu lähmen …“
Das war unprofessionell, um nicht zu sagen größenwahnsinnig. In nur fünf Kampftagen sollte bereits der kriegsentscheidende Sieg errungen sein! Der Verfolgung wurde die Über-legenheit vor dem Rückzug des Gegners zugesprochen. Das erwies sich sehr schnell als unzutreffend. Dem Gegner gelang es, mit begrenzten Kräften den Verfolgern schwerste Verluste zuzufügen. Die Frage, ob die eigenen Verluste in einem vernünftigen Verhältnis zu denen des Gegners standen, wurde auf deutscher Seite gar nicht gestellt. Die eigenen Nachschubprobleme wurden ignoriert. Die Truppen brannten aus.
5.6
Der Katzenjammer bei v. Moltke folgte am 6. September 1914. Das Reichsarchiv führt aus (Der Weltkrieg, Band 4, Die deutsche OHL während der Marneschlacht am 6. und 7. September Seite 137):
(Zitat)
„Die bisherige, durch wiederholte Meldungen der Armee-Oberbefehlshaber entstandene Auffassung von der schweren Erschütterung der Westgegner,
deren Reihen infolge der wochenlangen, rücksichtslosen Verfolgung jeden Tag mehr der inneren Auflösung anheimzufallen schienen
(Hervorhebung vom Aufsatzverfasser)
hatte sich nach der Ansicht des Generalobersten v. Moltke bereits in den letzten Tagen als ein verhängnisvoller Irrtum enthüllt. Der Feind war offenbar planmäßig ausgewichen und hatte während des Rückzugs seine Kräfte neu gruppiert und seinen gelichteten Reihen neuen Ersatz und frische Kampfeskraft aus dem reichen Hinterlande mit seinem weitverzweigten, vortrefflichen Eisenbahnnetz zugeleitet. Sein Schlachtplan schien klar zutage zu liegen. Während die feindliche Front die deutsche Verfolgung zwischen Marne und Seine zum Stehen brachte, sollten überraschende Vorstöße von Paris und Verdun her in die augen-blicklich fast ungeschützten deutschen Flanken die Entscheidung bringen.
Der feindliche Angriff hatte das deutsche Westheer in großer operativer Schwäche überrascht
(Hervorhebung vom Aufsatzverfasser)
Heeresreserven in der Hand der Obersten Heeresleitung waren außer den beiden durch Befehl vom gestrigen Abend aus der Front des linken Heeresflügels gezogenen Armeekorps nirgends verfügbar. Bei den Armeen waren anscheinend alle Verbände in vorderster eingesetzt. Die Gefahr schien riesengroß.
Würden die durch die übermenschlichen Anstrengungen der letzten Wochen stark erschöpften Truppen, deren Gefechtsstärken durch Marsch- und Kampfabgänge zum Teil um 50 Prozent gesunken waren, (Hervorhebung vom Aufsatzverfasser)
dieser furchtbaren Belastungsprobe, diesem überraschenden Ansturme des Gegners gegen Front und Flanken standhalten können? Woher sollten die Kräfte zur Abwehr der Gefahr in Flanke und Rücken genommen werden? Die operativen Pläne und Hoffnungen des Generalstabchefs schienen in wenigen Minuten in sich zusammenzustürzen.“
(Zitat Ende)
Die Kampfschilderungen des Reichsarchivs über die Zeit vom 5. bis 14. September 1914 (Der Weltkrieg, Band 4) zeigen durchgängig schwere Kämpfe der deutschen Heeresmitte und des rechten Heeresflügels. Einer Krise folgte die nächste. Die deutschen Armeen erlitten durch französische Artillerie schwerste Verluste und waren am Ende ihrer Kräfte.
In diese Lage stieß ein Gegenangriff des französischen Heeres hinein. Bei einer deutschen Infanterie-Brigade war am Nachmittag des 6. September ein Heeres-Tagesbefehl des französischen Generalstabchefs Joffre aufgefunden worden, „der sämtliche französische Armeen zur großen Entscheidungsschlacht auf der ganzen Front aufrief“ (Reichsarchiv, Der Weltkrieg, Band 4, Die Marneschlacht am 6. und 7. September, Seite 109 und 135).
Makaber mutet es an, wenn der Leiter der Operationsabteilung, Gerhard Tappen, darin „eine günstige Wendung der Lage“ erblicken will (Reichsarchiv, aaO Fußnote 2):
„Na endlich kriegen wir sie zu fassen. Jetzt geht es hart auf hart. Da werden unsere braven Truppen die Sache schon machen“.
Das Reichsarchiv bemüht sich ebenfalls, den Aufruf von General Joffre als eine günstige Gelegenheit für die deutsche Seite zu werten. Der Aufsatzverfasser kann dem nicht folgen.
Die Einzelheiten der Kämpfe sind an dieser Stelle nicht darzustellen. Hier geht es allein um die Verkennung der Wirklichkeit durch die OHL, also v. Moltke und Gerhard Tappen, und die fatalen Auswirkungen. Ein Generalstabchef, dem nichts anderes einfiel, als einen vermeintlich entscheidend geschlagenen Gegner „rücksichtslos“ zu verfolgen und der dadurch die eigenen Truppen ruinierte, war eine Fehlbesetzung.
6. Die Ausübung der Heeresleitung durch Generalstabchef v. Moltke
6.1
Die Hauptkräfte des deutschen Heeres im Westen formierte v. Moltke zu einem „Schwen-kungsflügel“, der durch Belgien und Luxemburg vorzugehen hatte. Dies wurde bereits vorstehend in Abschnitt 3.1 wiedergegeben. Das Reichsarchiv schreibt (Der Weltkrieg, Band 1, Die deutsche OHL vor Beginn der Grenzschlachten, Seite 258/259):
„Der OHL schwebten für die Schlachtenführung klare und bestimmte Ziele vor. Wie beim Vormarsch, so sollte auch beim Angriff der deutsche rechte Heeresflügel das Zeitmaß angeben; ihm war der entscheidende Angriff und der Vortritt zugedacht, während die Mitte, wenn der Gegner hier vorging, sich zurückhalten und vorläufig sich verteidigen sollte, nur wenn der Gegner sie nicht angriff, mußte auch die Mitte, um ihn zu fesseln, zum Angriff übergehen, dabei jedoch den Anschluß an den Drehpunkt der Schwenkung Diedenhofen festhalten. Der Schutz der linken Flanke des deutschen Westheeres blieb Aufgabe der Truppen in den Reichslanden. Diese klaren Gedanken wurden indes nicht in Form eines einheitlichen Heeresbefehls zur Kenntnis der Armee-Oberkommandos gebracht...“
Offenbar wurde ein solcher einheitlicher Heeresbefehl nicht für erforderlich gehalten. Dies ergibt sich aus einer Nachkriegs-Stellungnahme, die das Reichsarchiv vom ehemaligen Leiter der Operationsabteilung, Gerhard Tappen, einholte. Tappen bezeichnet die operativen Ziele der OHL als die „denkbar einfachsten“ und fügte wörtlich hinzu:
(Zitat)
„Welche Rolle bei der zu erwartenden Schlacht jeder Armee zufiel, war in vielen Kriegsspielen und Generalstabsreisen durchgesprochen. Bei diesen waren sogar, soweit möglich, die in Aussicht genommenen Armeechefs als Führer bei ihren Armeen eingeteilt. Irgendein Zweifel, wie sich jede Armee zu verhalten habe, konnte also m.E. nicht bestehen. Mir gegenüber ist im August 1914 auch nie ein solcher geäußert worden.
Im übrigen glaubte Generaloberst v. Moltke in absichtlich geübter Zurückhaltung und auch auf Grund unserer Friedensansichten und Friedensausbildung die Selbständig-keit und Verantwortlichkeit der unterstellten Armeeführer wahren zu müssen, in der Annahme, daß die vorn befindlichen Armeeführer die Verhältnisse beim Feinde zuverlässiger zu beurteilen imstande wären, als er selbst weit hinter der Front in Coblenz.“ (Zitat)
Eine gründliche Vorbereitung im Frieden, wie sie Tappen hier beschreibt, ist kein Ersatz für einen Befehl im Krieg. v. Moltke legte sich gegenüber den Armee-Oberbefehlshabern nicht fest. Sie hatten nichts in der Hand.
6.2
Tappens Ausführungen zeigen eine im Ansatz verfehlte Grundeinstellung. Ihre Folge war, dass der „Schwenkungsflügel“ ohne eine einheitliche Leitung durch den Generalstabchef blieb. Jede Armee kämpfte für sich. Das Reichsarchiv meint, dass dadurch mehrfach Gelegenheiten zu einem Erfolg verpasst wurden und die Armee-Oberbefehlshaber wiederholt Fehlentscheidungen trafen, weil sie keinen Überblick über die Gesamtlage der Westfront hatten. Den hatte freilich Generalstabchef v. Moltke auch nur in beschränktem Umfang und zudem ließ er sich von Wunsch-vorstellungen leiten. Aber eben dies hätte nicht sein dürfen. Ohne eine klare zentrale Leitung war eine Ausrichtung der Armeen auf ein Gesamtziel unmöglich. In den Tagen der sogenannten Marneschlacht berichtet das Reichsarchiv von einem Durcheinander von Befehlen der Armee-Oberkommandos und Eingriffen der OHL.
Bereits zu Kriegsbeginn war nicht klar, wie die Armeeführer handeln sollten. Das Verhalten des Gegners war ungewiss. Zumeist gab es zwei oder sogar mehrere Möglichkeiten zu handeln. Zwischen den Oberbefehlshabern der 1. und der 2. Armee kam es von Anbeginn an zu Meinungsverschiedenheiten. Sie wirkten sich verhängnisvoll aus. Der Oberbefehlshaber der 2. Armee entschied. Die 1. Armee hatte zu Kriegsbeginn nur eine eingeschränkte Handlungsfreiheit. Was die 3. Armee anging, so befand sich deren Oberbefehlshaber Max v. Hausen in einem Dauerkonflikt. Die 2. Armee zu seiner Rechten forderte seine Unter-stützung, die 4. Armee zu seiner Linken sandte Hilferufe. Beiden gerecht zu werden, dafür fehlten der 3. Armee die Truppen. Das Armee-Oberkommando musste ohne Kenntnis der Gesamtlage auf gut Glück handeln, in der Hoffnung, das richtige zu treffen. Das ging daneben. Bei der 6. und 7. Armee griff v. Moltke durch seine Befehle unmittelbar ein.
Damit die Armee-Oberbefehlshaber die Gesamtlage der Westfront bei ihren Entscheidungen berücksichtigen konnten, brauchten sie Weisungen und Aufträge des Generalstabchefs. Mehrfach forderten einzelne Armee-Oberkommandos solche an, aber vergeblich. Sie wurden auf gegenseitige Vereinbarungen verwiesen. Das Verhalten v. Moltkes war widersprüchlich. Einerseits übte er eine Zurückhaltung, die sich in der sogenannten Marneschlacht bis zu völliger Selbstausschaltung steigerte. Bisweilen griff er jedoch zu Einzeleingriffen, welche die Lage verschlechterten. Das markanteste Beispiel dafür ist die Entsendung des Leiters der Nachrichtenabteilung, Richard Hentsch, zu den Armee-Oberkommandos, die zur Niederlage führte. Außerdem handelte v. Moltke mehrfach den Auffassungen der Armee-Ober-kommandos zuwider. Dabei übte er keine Zurückhaltung. Statt eines Gedankenaustauschs mit den leitenden Offizieren in den Armee-Oberkommandos verließ v. Moltke sich auf seinen Leiter der Operationsabteilung, Tappen. Dieser erhielt dadurch eine überragende Bedeutung.
Das Reichsarchiv spricht von einem „Versagen“ des deutschen Generalstabchefs (Der Welt-krieg, Band 4, Rückblick Seite 533).
6.3
v. Moltke verfolgte mehrere Zielsetzungen gleichzeitig. Er ließ dabei außer acht, dass die deutschen Streitkräfte ihren Gegnern zahlenmäßig unterlegen waren und dass die Munition für eine Beschießung von Festungen nur in geringem Umfang zur Verfügung stand. Eine Setzung von Prioritäten und Schwerpunkten wäre erforderlich gewesen.
Die beiden wesentlichen ungelösten Probleme während des Vormarsches des rechten Heeresflügels waren die Festungen Antwerpen und Maubeuge.
6.3.1 Anwerpen
Die belgische Armee hatte sich in die Festung Antwerpen zurückgezogen und bedrohte von dort aus die rückwärtigen Verbindungen des nach Süden vormarschierenden deutschen Heeres. Eine schnelle Eroberung war nicht möglich. Die Festung mußte durch deutsche Truppen blockiert werden. Hierzu wurden das III. und das IX. Reservekorps (zuvor „Nordarmee“) herangezogen. Das waren ungenügende Kräfte, aber ein Mehr war nicht entbehrlich. Die OHL hielt die belgische Armee nicht für fähig, Angriffe aus der Festung heraus durchzuführen. Das war eine Unterschätzung des Gegners, und derartige Unterschätzungen sind kennzeichnend für die OHL in der Zeit, in der v. Moltke das Amt des Generalstabchefs des Feldheeres bekleidete.
König Albert von Belgien war eine willensstarke und tatkräftige Persönlichkeit. Am 25. August kam es zu einem Ausfall des belgischen Heeres, der zurückgeschlagen wurde, und am 9. September folgte ein weiterer Ausfall. Er unterbrach eine Eisenbahnlinie, welche deutsche Armeen bei ihrem Vormarsch nach Frankreich versorgte. Zum Glück für die deutsche Seite waren gerade Verstärkungen aus dem linken deutschen Heeresflügel im Anrollen, und mit ihrer Unterstützung wurde die Krise überwunden. Die Belagerungstruppen blieben indessen weiterhin vor Antwerpen gebunden.
6.3.2 Maubeuge
Beim Vormarsch der 2. deutschen Armee von der Sambre zur Marne blieb die französische Grenzfestung Maubeuge unbezwungen in ihrem Rücken liegen und mußte belagert werden. Die Festung war ein Eisenbahn- und Straßenknotenpunkt und daher von Bedeutung für die Versorgung der Armee. Solange sie in feindlicher Hand blieb, war sie ein Unsicherheits-faktor. Der hätte so schnell wie möglich beseitigt werden müssen.
Es lag nahe, nach der Eroberung der Festung Namur am 25. August die dort frei werdenden Kräfte – das waren das Garde-Reserve-Korps und das XI. Armeekorps - für die Belagerung von Maubeuge zu verwenden. Auf diesen Gedanken kam v. Moltke nicht. Stattdessen zog er weitere Truppen aus der Vormarsch-Front der 2. Armee heraus. Mehr als drei Reserve-Brigaden konnten dafür nicht abgezweigt werden, was völlig unzureichend war. Ein weiteres Erschwernis kam hinzu. Die Munition für die Mörser zum Beschuss der Befesti-gungsanlagen traf nicht ein. Die Beschießung konnte mit den vorhandenen Geschützen nur notdürftig aufrechterhalten werden. Wider Erwarten gelang das Unternehmen, dank des Geschicks der deutschen Generäle, und weil der französische Kommandeur die Schwäche der deutschen Belagerungstruppe, die der Festungsbesatzung weit unterlegen war, nicht erkannte. Aber bis zur Kapitulation der Festung wurde es der 7. September 1914, und die deutschen Belagerungskräfte fehlten in der sogenannten Marne-schlacht, bei der es auf jedes einzelne Bataillon ankam.
Man konnte nicht gleichzeitig Antwerpen, Maubeuge, die Position de Nancy und die Sperr-forts an der Maas südlich von Verdun belagern. Dafür fehlten die Truppen und die Munition. Es war ein Fehler v. Moltkes, nicht für eine schnelle Wegnahme der Festung Maubeuge gesorgt zu haben. Die Belagerung der Position de Nancy hätte nicht unternommen werden dürfen. Die Wegnahme der Sperrforts südlich von Verdun war wünschenswert.
6.4
Ende August/Anfang September 1914 reiften in v. Moltke Überlegungen, dass sich der ursprüngliche Feldzugsplan nicht mehr verwirklichen lasse. Die Kampfhandlungen hatten eine Eigendynamik entwickelt, die den ursprünglichen Zielsetzungen der OHL widersprach. In den zusammen-fassenden Anweisungen, die am 5. September den Armeen übermittelt wurden
(Reichsarchiv, Der Weltkrieg, Band 4, Die Einleitung der Marneschlacht, Seite 3 ff)
zog v. Moltke die Folgerungen aus diesen Entwicklungen. Darin hieß es:
(Zitat)
„Der Gegner hat sich dem umfassend angesetzten Angriff der 1. und 2. Armee entzogen und mit Teilen den Anschluß an Paris erreicht. Meldungen und sichere Agenten-nachrichten lassen ferner den Schluß zu, daß der Feind aus der Linie Toul – Belfort Truppen nach Westen befördert, sowie daß er vor der Front der 3. bis 5. Armee ebenfalls Heeresteile herauszieht. Ein Abdrängen des gesamten französischen Heeres gegen die Schweizer Grenze in südöstlicher Richtung ist somit nicht mehr möglich. Es muß vielmehr damit gerechnet werden, daß der Feind zum Schutze der Hauptstadt und zur Bedrohung der rechten deutschen Heeresflanke stärkere Kräfte in der Gegend von Paris zusammenzieht und Neubildungen heranführt.“
(Zitat Ende)
Als neues Ziel bestimmte v. Moltke der Heeresmitte (5. und 4. Armee) ein Vorgehen in süd-östlicher Richtung. Sie sollten dem linken Heeresflügel (6. und 7. Armee) zwischen den Festungen Épinal und Toul den Übergang über die obere Mosel öffnen. Realistisch war diese Zielsetzung nicht:
Die befohlenen Zielsetzungen waren von vornherein unerreichbar. Die OHL musste sich an demselben 5. September, an dem sie den Armeen ihre neuen Zielsetzungen zukommen ließ, dazu entschließen, den „Schwenkungsflügel“ durch Truppen des linken Heeresflügels zu verstärken. Das bedeutete unausgesprochen die Aufgabe der soeben befohlenen Ziel-setzungen und kam zu spät, um seinen allgemeinen Rückzug zu vermeiden. Fünf Tage früher hätte die Verstärkung die deutsche Niederlage vermieden. Der deutschen OHL und ihrem Generalstabchef stellte ihre kurzsichtige Handlungsweise ein verheerendes Zeugnis aus.
v. Moltke war auf der ganzen Linie gescheitert. Er hatte in den Kriegswochen, in denen er als Generalstabchef amtierte, keine einzige realitätsnahe Neukonzeption von operativen Zielsetzungen zuwege gebracht, sondern war persönlichen Wunschvorstellungen gefolgt.
6.5
Die Verfahrensweise v. Moltkes bei der Ausübung der Heeresleitung war unterschiedlich. Seinen Aufmarschanweisungen entsprechend ist zu unterscheiden zwischen dem linken Heeresflügel und dem „Schwenkungsflügel“, der sich in Heeresmitte und einen rechten Heeres-flügel gliederte. Das ist im Einzelnen zu untersuchen.
7. Linker Heeresflügel (6. und 7. Armee) süd(öst)lich der Festung Metz
Ausübung der Heeresleitung durch Generalstabchef v. Moltke
Südlich und südöstlich der deutschen Festung Metz stand zu Kriegsbeginn der linke deutsche Heeresflügel. Ihm war die Flankensicherung der deutschen Hauptkräfte, die nördlich von Metz angesetzt wurden (der sogenannte „Schwenkungsflügel“) übertragen worden. Dieses Ziel wurde in drei Tagen erreicht. Danach dachte sich v. Moltke eine neue Zielsetzung aus.
Generalstabchef v. Moltke nahm gestaltenden Einfluss auf die Kampfhandlungen. Er erwartete den Angriff der Hauptkräfte des französischen Heeres in Lothringen (Reichsarchiv, Der Weltkrieg Band 1, Seite 200/201). Daher hatte er im Frieden Vorstellungen entwickelt, wie diesem begegnet werden sollte, und für den deutschen Truppenaufmarsch eingehende Weisungen erteilt. Vor einer französischen Übermacht sollten die deutschen Truppen ausweichen. Im Krieg änderte v. Moltke seine Ansicht erst am 16. August 1914. Der französische Angriff in Lothringen und im Elsaß, so wurde es jetzt in der deutschen OHL verstanden, umfaßte lediglich die Südgruppe des französischen Heeres (1. und 2. Armee). Das war zutreffend. Der Übersichtlichkeit halber werden im folgenden Text drei Kampf-abschnitte unterschieden.
7.1 Kampfabschnitt 1: Abwehr des französischen Angriffs 20. bis 22. August 1914
(Schlacht von Saarburg und Mörchingen)
(Reichsarchiv, Der Weltkrieg, Band 1 Seite 263 ff)
Im Elsaß und in Lothringen griffen die 2. und 1. französische Armee über die Reichsgrenze hinweg auf deutsches Gebiet an. In dem Raum zwischen Metz und dem Waldgebirge der Vogesen von etwa 75 km Breite lag der Schwerpunkt des Angriffs. In dessen Erwartung hatte v. Moltke dort die 6. Armee und Teile der 7. Armee konzentriert. Sie zogen sich vor den französischen Armeen bis zu 40 km in das deutsches Reichsgebiet zurück.
Es fand ein laufender telefonischer Austausch zwischen der OHL und dem Oberkommando der 6. Armee statt. Wesentlich beteiligt hieran war der Generalquartiermeister v. Stein. Er gab dem Armee-Oberkommando 6 für den Zeitpunkt, an welchem der deutsche Gegenangriff stattfinden sollte, freie Hand (Reichsarchiv, Der Weltkrieg, Band 1 Seite 210/211). Dass der Oberbefehlshaber, der bayerische Kronprinz Rupprecht, bei der Wahl des Angriffszeit-punktes eigenmächtig handelte, trifft nicht zu. Er setzte den deutschen Gegenangriff für den 20. August 1914 fest.
In der Schlacht von Saarburg und Mörchingen (20. bis 22. August 1914) erlitten die beiden französischen Armeen eine Niederlage, die teilweise empfindlich war. Sie mußten sich hinter die Reichsgrenze in den Schutz ihrer Festungen zurückziehen. Eine südliche Umfassung der 2. französischen Armee durch die 7. deutsche Armee war beabsichtigt, gelang aber nicht. Die Kämpfe der 7. Armee in den Vogesen gestalteten sich schwierig und verlustreich, der Gegner leistete zähen Widerstand.
Kronprinz Rupprecht beabsichtigte nicht, den Gegenangriff über die Meurthe hinweg zu führen. Der vom Generalstabchef v. Moltke beabsichtigte Zweck, die Sicherung der deutschen Hauptkräfte nördlich von Metz, war erreicht. Von den geschlagenen beiden französischen Armeen war in den nächsten Tagen keine ernsthafte Gefahr zu besorgen. Der linke deutsche Heeresflügel konnte Truppen zu anderweitiger Verwendung abgeben.
7.2 Kampfabschnitt 2: Die Niederlage der 6. deutschen Armee in der Pforte von Charmes
(Trouée de Charmes) 23. bis 27. August 1914
(Reichsarchiv, Der Weltkrieg, Band 1 Seite 568 und Seite 584)
Am Abend des 22. August 1914 erteilte v. Moltke Befehle für das weitere Vorgehen der 6. und 7. Armee. Sie sollten in die Pforte von Charmes, eine geographische Senke, die zwischen den französischen Festungen Épinal und Toul lag, sowie in die Vogesen vorrücken. Im Oberkommando der 6. Armee stand man dem Vorhaben mit berechtigten Zweifeln gegenüber. Die Erfolgsaussichten waren von vornherein gering. Der befohlene Angriff führte in den Raum der unein-nehmbaren französischen Festungsfront hinein. Dort war das französische Heer am stärksten.
Ein Gegenangriff der 2. französischen Armee ab dem 25. August war die Antwort. Er zwang die 6. Armee zum Rückzug. Es war eine verlustreiche Niederlage. Diesen Ausdruck vermeidet das Reichsarchiv. Seine inhaltlichen Ausführungen sind indessen eindeutig. Der Rückzug wurde im wesentlichen am 27. August abgeschlossen. Es stellte sich eine Gleich-gewichtslage beider Seiten her. Gegenüber dem Zustand vom 22. August war dies eine Verschlechterung.
Die geschlagenen Einheiten der 6. Armee wären an anderer Stelle dringend erforderlich gewesen. Das Reichsarchiv (Der Weltkrieg, Band 1, Rückblick Seite 657) urteilt:
„Durch die von der OHL (am Abend des 22. August 1914) angeordnete Operation auf dem linken deutschen Flügel war der große und schnelle entscheidende Sieg der Deutschen im Westen ernstlich in Frage gestellt worden“.
7.3 Kampfabschnitt 3: Deutsche Angriffe gegenüber der französischen Festungsfront
Nancy – Épinal bis zum 9. September 1914)
(Reichsarchiv, Der Weltkrieg, Band 3 Seite 276 und Band 4 Seite 145/158)
Die Niederlage in der Pforte von Charmes wurde in der OHL nicht zur Kenntnis genommen, vielleicht nicht begriffen. Die Notwendigkeit, der geschlagenen 6. Armee mehrere Tage Ruhe zu ihrer Wiederherstellung zu geben, stieß dort auf kein Verständnis. Die OHL bestand weiterhin – ab dem 28. August 1914 - auf dem Angriff die Pforte von Charmes, um zwischen den französischen Festungen Épinal und Toul zur oberen Mosel durchzubrechen. Die Aussicht, dies zu erreichen, war nach der zuvor erlittenen Niederlage der 6. Armee gleich Null. Die OHL verstand es nicht und bestand bis zum 9. September 1914 auf dem Angriff.
Das Oberkommando der 6. Armee hielt den ihm erneut befohlenen Angriff in die Pforte von Charmes nur für durchführbar, wenn zuvor die französischen Befestigungen der „Position de Nancy“ erobert wurden. Das hatte im Wege eines Belagerungskrieges zu geschehen, der gründlich vorbereitet werden mußte. Auch der Oberbefehlshaber der 7. Armee hielt die Lösung der ihm übertragenen Aufgabe nur im Wege eines Belagerungskrieges gegen die Festung Épinal für möglich. Die OHL fand sich notgedrungen mit der Zeitverzögerung ab, obwohl diese ihren Absichten zuwiderlief.
Die Erkenntnis, dass ein schneller Erfolg nicht zu erreichen war, hätte die OHL zu einem Verzicht auf den Angriff bewegen müssen. Es stellte sich alsbald heraus, dass die erforderliche Munition für die schwere Artillerie nicht vorhanden war. Ab dem 5. September 1914 überschlugen sich die Ereignisse. Am 9. September kamen Kronprinz Rupprecht und die OHL unabhängig voneinander zu dem Entschluss, den Angriff einzustellen.
7.4 Ausgang: Der Rückzug auf deutsches Gebiet - 9. bis 15. September 1914)
(Reichsarchiv, Der Weltkrieg, Band 4 Der Rückzug Seite 421)
Am 5. September 1914 sah sich v. Moltke zu dem Befehl veranlaßt, Truppen aus Lothringen und dem unteren Elsaß auf diesen zu überführen. Er sah die Lage in Belgien als gefahr-drohend an. Damit sollte er recht behalten, wenn auch anders als er meinte.
Das XV. Armeekorps und später auch das I. Bayer. Armeekorps wurden aus dem linken Heeresflügel herausgezogen. Der Angriff der 6. Armee auf die „Position de Nancy“ und auf dem Grand Couronné mußte abgebrochen, die (unter hohen Verlusten) eroberten Stellungen mußten aufgegeben und die Truppen zurückgeführt werden. Ab dem 9. September 1914 wurde dem linken Heeresflügel weitere Truppen entzogen, sodaß ihm nur noch geringe Kräfte verblieben. Sie wurden in eine Verteidigungsstellung auf deutschem Gebiet zurück-genommen.
Bis zum Waffenstillstand am 9. November 1918 kam es auf dem verbliebenen linken deutschen Heeresflügel wiederholt zu erbitterten Kämpfen, aber zu keiner wesentlichen Änderung des Frontverlaufs.
7.5 Kommentierung:
Generalstabchef v. Moltke wollte im Westen auf beiden Heeresflügeln schlagen und scheiterte auf beiden. Ihm fehlte die Erkenntnis, dass das deutsche Heer zu schwach war, dies zu erreichen. Man mußte sich in seinen Zielsetzungen beschränken.
Bei den Angriffen in die Pforte von Charmes und auf die „Position de Nancy“ wurden die 6. und 7. Armee zur falschen Zeit an der falschen Stelle für ein falsches Ziel eingesetzt. Für ein unerreichbares Ziel wurden Menschenleben vergeblich geopfert und materielle Ressourcen vergeudet, die an anderer Stelle eingesetzt zu einem Sieg hätten führen können.
v. Moltkes Verstärkung für den rechten deutschen Heeresflügel kam zu spät, um dort noch in die Marneschlacht eingreifen zu können (Reichsarchiv Der Weltkrieg, Band 4, Rückblick Seite 510 und Seite 525). Sie hätte mehrere Tage früher erfolgen müssen.
Der französische Generalstabchef zog seit Anfang September 1914 Truppen aus seinem rechten Heeresflügel im Elsaß und in Lothringen heraus, um eine Gegenoffensive mit seinem linken Heeresflügel aus Paris heraus zu führen. Das französische Eisenbahnnetz erlaubte es ihm, seine Truppen in kurzer Frist umzugruppieren und an die jeweils schlachtentscheidende Stelle zu überführen.
Frankreich führte seine Verteidigung auf der „inneren Linie“. Der deutsche Truppentransport „außen herum“ durch Belgien war schwierig zu bewerkstelligen und dauerte mehrere Tage länger als der französische. (Reichsarchiv, Der Weltkrieg, Band 3, Die Eisenbahnlage… Seite 338), Band 4 Der Rückzug Seite 464). Das hätte die deutsche OHL berücksichtigen und frühzeitig Truppen aus dem linken Heeresflügel herausziehen müssen.
Generalstabchef v. Moltke hat durch seine einschneidenden Befehle für den linken Heeres-flügel (6. und 7. Armee)
Die Festlegung starker Truppeneinheiten vor der uneinnehmbaren französischen Festungs-front im Wege eines Belagerungskrieges war im Frieden als unbedingt zu vermeiden angesehen worden. Die Ausrede im Kriege, man habe starke dadurch französische Kräfte gefesselt, verfängt nicht. Auf diese Weise konnte man keinen Sieg erringen. Das hätte auf anderem Wege geschehen müssen. Zudem konnte der französische Generalstabchef Truppen aus der Befestigungsfront abziehen, wann und wie er es wollte.
8. Die französische Festung Verdun
Als nördlicher Eckpfeiler der Festungslinie im Osten Frankreichs, die mit der Festung Belfort an der Burgundischen Pforte begann, war die Festung Verdun von überragender militärischer Bedeutung. Ihre Behauptung trug wesentlich zum französischen Sieg im Ersten Weltkrieg bei. Der sogenannte Schlieffenplan wird begreiflich, wenn man sich klar macht, dass das deutsche Heer nur nördlich an der Festung vorbei ins Innere Frankreichs vorstoßen konnte. Das geschah mit dem „Schwenkungsflügel“, den v. Schlieffen entwarf und v. Moltke über-nahm. Es war eine weiträumige Umfassungsbewegung, von Norden und von Osten. Die 52 (Friedens- und Reserve-) Divisionen zielten in den Raum zwischen Dünkirchen am Ärmelkanal und der Festung Verdun. Auf deutscher Seite ging er von der befestigten Linie Metz-Diedenhofen aus. Herkömmlicherweise werden unterschieden:
die Heeresmitte, bestehend aus der 5. und 4. Armee,
den rechten Heeresflügel, bestehend aus der 3., 2. und 1. Armee
(Angabe der Armeen in ihrer Reihenfolge von Metz – Diedenhofen aus)
Bei seinem Vormarsch bekam der „Schwenkungsflügel“ die Festung Verdun zu seiner Linken. Er hatte jederzeit einen französischen Angriff aus der Festung heraus zu besorgen. Ein solcher bedrohte seine Nachschublinien (Reichsarchiv, Der Weltkrieg, Band 3, Seite 232/233 und Seite 263) und dadurch den „Schwenkungsflügel“ selbst, der von Deutschland abgeschnitten werden konnte. Dagegen musste man auf deutscher Seite Vorsorge treffen.
8.1
Wie sollte sich der „Schwenkungsflügel“ gegen Angriffe aus der Festung Verdun sichern?
Der ursprüngliche Befehl des Generalstabchefs v. Moltke lautete, dass er sich mit seinem linken Ende an der befestigten Linie von Metz- Diedenhofen festhalten sollte. Das betraf die deutsche 5. Armee, welche das linke Ende des „Schwenkungsflügels“ bildete. Ihr XVI. Armeekorps machte Front gegenüber der Ostseite der Festung.
Seinen Festhalte-Befehl hob v. Moltke am 23. August 1914 auf. Die 5. Armee erhielt Handlungsfreiheit für ihren weiteren Vormarsch, was ihr Oberkommando lebhaft begrüßte. Das XVI. Armeekorps konnte sich dem Vormarsch der anderen Korps nach Norden und Westen um die Festung herum anschließen.
Die Bedrohung der 5. Armee durch französische Angriffe aus der Festung Verdun heraus war damit aber nicht beseitigt.
Der 5. Armee erzwang sich nördlich der Festung Verdun den Übergang über die Maas und drehte dann nach Süden ein, westlich an der Festung vorbei. Ihr blieb dabei nichts anderes übrig, als eine immer größere Anzahl ihrer Armee- und Reserve-Korps rings um die Festung Verdun herum festzulegen. v. Moltke selbst zog das V. Armeekorps, das den rechten Flügel der 5. Armee bildete, ab dem 27. August aus der Kampffront heraus und legte es östlich der Festung zur Sicherung gegen diese und gegen Angriffe aus dem Süden der Hochfläche von Lothringen fest mit Front nach Westen. Das war in seiner ursprünglichen Planung nicht vorgesehen gewesen. Das Oberkommando der 5. Armee war damit nicht einverstanden.
Am 5. September 1914 gruppierten sich drei weitere Korps der 5. Armee um die Festung herum:
das V. Reservekorps stand nördlich der Festung,
westlich vom V. Reservekorps marschierte das VI. Reservekorps um die Festung herum nach Süden vor und erreichte mit seiner 11. Reservedivision Aubréville
das XVI. Armeekorps sicherte nunmehr westlich der Festung Verdun mit Front nach Osten gegen diese
Die Korps waren wiederholt französischen Angriffen aus der Festung ausgesetzt.
Die beiden verbleibenden Armeekorps, das XIII. württembergische und das VI. schlesische, stießen in ihrem Vormarsch nach Süden auf weitere französische Armeekorps.
Man möge sich vergegenwärtigen, dass die Korps der 5. Armee sowohl östlich der Festung Verdun – und damit östlich der Maas – als auch westlich der Festung – und damit westlich der Maas – standen.
8.2
Der Gedanke lag nahe, einen Belagerungsring um die Festung Verdun herum zu schließen, um diese von ihrer Verbindung zum französischen Feldheer abzuschneiden.
Dazu war die Eroberung der französischen Sperrforts südlich von Verdun erforderlich. Am 2. September „um 9.45 Uhr abends erging daher der nachstehende Fernspruch (der OHL) an das Armee-Oberkommando“ 5 (Reichsarchiv, Der Weltkrieg, Band 3, Seite 233):
(Zitat)
„Beim weiteren Vorgehen nach Süden fällt der 5. Armee die Aufgabe zu, unter Abschluß von Verdun die Forts Troyon, Les Paroches und Camp des Romains bei St. Mihiel fortzunehmen. Das der Armee zur Verfügung stehende bewegliche Artilleriematerial (21-cm-Mörser) wird für die Bekämpfung der Forts ausreichen… Die erforderlichen Vorbereitungen für die Wegnahme der Forts sind schon jetzt zu treffen…“
(Zitat Ende)
Das war ein sinnvoller Befehl. Er wurde am 5. September wiederholt (Reichsarchiv, Der Weltkrieg, Band 4, Seite 4/5). Eine Rundumeinschließung von Verdun hätte die Aussicht eröffnet, die Festung selbst Schritt für Schritt zu erobern. Dadurch hätte sich die Lage des gesamten deutschen Schwenkungsflügels kriegsentscheidend verbessert.
Die Vorbereitungen für den Angriff nahmen mehrere Tage in Anspruch (Reichsarchiv, Der Weltkrieg, Band 4, Seite 125). Am 8. September eröffnete das V. Armeekorps von Osten (östliches Maasufer) das Artilleriefeuer auf das Fort de Troyon (Reichsarchiv, Der Weltkrieg, Band 4, Seite 163). Am Nachmittag des 9. September funkte die OHL dazwischen (Reichsarchiv, Der Weltkrieg, Band 4, Seite 301):
(Zitat)
„Starke feindliche Kräfte sind w e s t l i c h St. Mihiel gemeldet. Durchbruchsversuch des Feindes zwischen Verdun und Metz nicht unwahrscheinlich. V. Armeekorps und Hauptreserve Metz haben im Anschluss an 5. Reservekorps und Festung Metz sogleich eine befestigte Stellung auszubauen und bei feindlichem Angriff zu halten…“
(Zitat Ende)
In der OHL sah man weiße Mäuse. Der Kommandierende General des V. Armeekorps vermochte „auf Grund seiner eigenen Beurteilung der Lage die Befürchtungen der Obersten Heeresleitung durchaus nicht zu teilen…“ (Reichsarchiv, Der Weltkrieg, Band 4, Seite 309). Und weiter heißt es beim Reichsarchiv aaO:
(Zitat)
(Am 10. September 1914) „gegen 10 Uhr vormittags (traf) der neue Befehl der Obersten Heeresleitung ein, der im Gegensatz zu den Weisungen des vorhergehenden Abends lautete: Angriff über die Maas ist fortzusetzen. Aufgabe Sicherung zwischen Verdun und zusammen mit Hauptreserve Metz bleibt…“ (Zitat Ende)
Das Reichsarchiv urteilt ((Der Weltkrieg, Band 4, Seite 311):
(Zitat)
„… beim V. Armeekorps hätte – ohne ein Eingreifen der Obersten Heeresleitung am 9. September – spätestens der 11. September den Fall der Forts und den Abschluß Verduns im Süden gebracht.“ (Hervorhebung vom Aufsatzverfasser)
(Zitat Ende)
Am Nachmittag des 11. September 1914 erhielt die 5. Armee durch den Adjutanten v. Moltkes den Rückzugsbefehl (Reichsarchiv, Der Weltkrieg, Band 4, Seite 451, 452 und 458) überbracht. Damit war eine Wegnahme des Forts de Troyon hinfällig geworden.
8.3
Der Rückzug der Heeresmitte markierte den Übergang vom Bewegungs- zum Stellungskrieg. Im weiteren Verlauf des Weltkrieges bot sich dem deutschen Heer nie wieder die Gelegen-heit, die Festung Verdun rundum einzuschließen und ihre Verbindung mit dem französischen Feldheer zu unterbrechen. Ohne eine solche Unterbrechung war eine Eroberung von Verdun unmöglich. Der Rückzug der deutschen Heeresmitte hatte kriegsentscheidende Bedeutung.
Generalstabchef v. Moltke wollte mit dem Rückzug der Heeresmitte eine Verkürzung der Heeresfront und die Herstellung einer geschlossenen Heeresfront erreichen. Das Armee-Oberkommando 5 war mit der ihm befohlenen Rückzugsstellung nicht einverstanden. Es entschied sich für eine deutlich weiter rückwärts gelegene Stellung ((Reichsarchiv, Der Weltkrieg, Band 4, Seite 452/453):
(Zitat)
„Kronprinz Wilhelm hatte sich für die weiter rückwärts gelegene,
der Flankierung von Verdun her entzogene
(Hervorhebung vom Aufsatzverfasser)
von Natur starke Stellung Apremont-Montfaucon-Gercourt entschieden… infolge der Ereignisse (müsse) man mit einem gewaltigen moralischen Auftriebe beim Feinde rechnen…
Er werde alles tun, um seinen Erfolg auszunutzen und mit aller Macht angreifen. Man müsse infolgedessen für die bevorstehenden schweren Kämpfe die günstigsten Bedingungen schaffen; diese seien in den weiter vorn liegenden Stellungen nicht in demselben Maße gegeben…“ (Zitat Ende)
Die Entscheidung des Kronprinzen Wilhelm gibt mittelbar Auskunft darüber, wie das Armee-Oberkommando 5 die Lage einschätzte. Die Armee durfte sich nicht länger einer Flankenbedrohung aus Verdun aussetzen. Die Kampffähigkeit der eigenen Truppen war nur noch eingeschränkt vorhanden. Von einer Wiederaufnahme des Angriffs ist nicht die Rede, sondern nur von Abwehrkämpfen. Es hatte sich eine Niederlage ereignet.
Die Festung Verdun blieb während der gesamten Kriegsdauer eine dauernde Gefahr für das gesamte deutsche Westheer.
8.4
Fragt man, warum die deutsche Heeresmitte scheiterte, so steht als erste Ursache die ungenügende Anzahl der Divisionen des „Schwenkungsflügels“ im Raum.
Von den ursprünglich 52 Divisionen „Schwenkungsflügels“ waren am 5. September 1914 nur 36 für operative Handlungen und zur Sicherung gegen Paris übrig geblieben. Das hatte drei Ursachen:
Erstens standen von der 5. Armee, wie bereits ausgeführt, nur noch 2 Armeekorps für einen weiteren Vormarsch nach Süden zur Verfügung. Die übrigen Korps waren durch die Festung Verdun gebunden.
Zweitens hatte v. Moltke den rechten Heeresflügel am 25. August durch Wegnahme von zwei Armeekorps (Garde-Reserve-Korps und XI. Armeekorps) geschwächt.
Drittens waren das brandenburgische III. Reservekorps der 1. Armee durch die Blockierung von Antwerpen, das westfälische VII. Reservekorps der 2. Armee durch die Belagerung von Maubeuge gebunden.
Die 36 Divisionen verteilten sich auf die einzelnen Armeen wie folgt:
5. Armee vier Divisionen (XIII. und VI. Armeekorps)
4. Armee acht Divisionen (VIII. und XVIII. Armeekorps
sowie VIII. und XVIII. Reserve-Korps)
3. Armee sechs Divisionen (XII. und XIX. Armeekorps
sowie XII. Reservekorps)
2. Armee acht Divisionen (Gardekorps, VII. und X. Armeekorps
sowie X. Reserve-Korps
1. Armee zehn Divisionen (IX., IV., III und II. Armeekorps
sowie IV. Reserve-Korps)
wobei das Armee-Oberkommando lediglich
das IV. Reserve-Korps und das II. Armeekorps
zur Flankensicherung gegen Paris bestimmt hatte
im Widerspruch zu den Befehlen der OHL,
welche der gesamten Armee die Flankensicherung
gegen Paris aufgetragen hatte
Im Gegensatz zum „Schwenkungsflügel“ war dem linken Heeresflügel südlich von Metz bis zum 5. September seine ursprüngliche Stärke bei Kriegsbeginn, die 16 Divisionen betrug, belassen worden.
Diese Kräfteverteilung zwischen dem „Schwenkungsflügel“ und dem linken Heeres-flügel südlich von Metz war spätestens seit dem 1. September 1914 nicht mehr einsichtig. Drei Zehntel der verfügbaren Divisionen waren auf einem Neben-kriegsschauplatz mit einer langwierigen Belagerungsaufgabe beschäftigt, die keine Hilfe für den „Schwenkungsflügel“ versprach. Dieser war eindeutig zu schwach, um sich zwischen den Festungen Verdun und Paris behaupten zu können. Der Rückzug war unvermeidlich.
Eine rationale Kalkulation der Kräfte durch die OHL – in erster Linie durch den General-stabchef v. Moltke – fand nicht statt.
v. Moltke war bereits Ende August zu der Auffassung gelangt, dass sich der ursprüngliche Feldzugsplan
der eine westliche Umgehung von Paris über die untere Seine vorsah
nicht mehr verwirklichen ließ. Dass aber selbst für eine östliche Umgehung von Paris – einen Vorstoß nach Süden an Paris vorbei – die Kräfte nicht ausreichten, sah er nicht.
Zwar wurde die Möglichkeit, den „Schwenkungsflügel“ kurzfristig durch Truppen aus dem linken Heeresflügel zu verstärken, indem man diese durch die Festung Metz hindurch der 5. Armee nachführte, am 1. September im Großen Hauptquartier erörtert. Es war die Alter-native zu dem bereits einmal gescheiterten Durchbruch zur oberen Mosel in die Pforte von Charmes. Dieser Durchbruch war unverändert der Wunsch der OHL – auch wenn man die Entscheidung darüber dem Oberbefehlshaber der 6. Armee, dem bayerischen Kronprinzen Rupprecht, zuschob. Der entschied sich für den belagerungsmäßig durchzuführenden Angriff auf die „Position de Nancy“, die er als Vorbereitung für einen Durchbruch zur oberen Mosel für erforderlich hielt - und erhielt dafür schließlich die Zustimmung des Generalstabchefs v. Moltke. Eine Kenntnis, wie es um den „Schwenkungsflügel“ bestellt war, hatten Kronprinz Rupprecht und sein Generalstabchef Krafft von Dellmensingen nicht.
8.5
Im geschichtlichen Rückblick ist nicht nachvollziehbar, warum die OHL – sei es der Generalquartiermeister v. Stein, sei es Generalstabchef v. Moltke – die Option, den „Schwenkungsflügel“ zu verstärken, nicht wählte. Nur fünf Tage später sah sich Gerhard Tappen, der Leiter der Operationsabteilung in der OHL, dazu gezwungen, vom linken Heeresflügel Divisionen abzuziehen. Aber es war zu spät. Die Divisionen fielen für einen Einsatz während der sogenannten Marneschlacht aus, da sie auf dem Transportwege waren. Die Truppenverlegung machte es unvermeidbar, den Gedanken des Durchbruchs zur oberen Mosel aufzugeben.
Man kann nur vermuten, dass es sich bei dem Durchbruch der 6. Armee durch die Pforte von Charmes zur oberen Mosel um eine Lieblingsidee des Generalstabchefs v. Moltke handelte. Den Befehl dazu hatte er erstmals am Abend des 22. August 1914 erteilt und es dauerte bis zum 9. September, bis er den Gedanken fahren ließ. Ein vernunftgesteuertes Verhalten war das nicht. Das Reichsarchiv spricht von einem „einseitigen und zähen Festhalten an einem unerfüllbar gewordenen Wunsche“ und meint, „das nüchterne Urteil über die Grenzen und Wirkungsmöglichkeiten des kriegerischen Erfolges“ hätte obsiegen müssen (Der Weltkrieg, Band 4, Rückblick Seite 517). Dazu war v. Moltke nicht in der Lage.
Generalstabchef v. Moltke hatte am 5. September 1914 noch die Möglichkeit, den „Schwenkungsflügel“ kurzfristig zu verstärken und dadurch eine Niederlage abzuwenden. In den Betrachtungen zur Lage am Abend des 6. September 1914 schreibt das Reichsarchiv (Der Weltkrieg, Band 4, Rückblick Seite 516):
(Zitat)
„Wie aussichtsreich war es doch, die beiden Armeekorps des linken Heeresflügels, deren Herausziehen aus der Heeresfront bereits angeordnet war (I. bayerisches und XV.), mit der Hauptreserve Metz
(= 33. Reserve-Division, der Aufsatzverfasser)
zu einem überraschenden Vorstoß südlich Verdun über die Maas gemeinsam mit dem hier bereits angreifenden V. Armeekorps einzusetzen, um den Widerstand der französischen Mitte, von der Kräfte abtransportiert waren und der gegenüber die Deutschen überlegen sein mußten, zu brechen. Beide Korps konnten mittels Bahn-transports (Fußtruppen) und durch Fußmarsch (berittene Truppen) bis zum Abend des 8. September vollzählig und angriffsbereit in der Gegend südwestlich von Metz bereit gestellt werden.“ (Zitat Ende)
v. Moltke war zu einem derartigen Entschluss nicht in der Lage – aus welchem Grunde, möge hier dahingestellt bleiben. Der Hinweis mag genügen, dass mehrfach Chancen für einen Erfolg bestanden, die vertan wurden. Das führte schließlich zur Niederlage. Unabwendbar war sie keineswegs. Die Ursache für das Scheitern liegt in der Person des Generalstabchefs v. Moltke und in den von ihm begangenen Fehlern.