Deutsches Heer - Zweites Deutsches Kaiserreich Eckhard Karlitzky Aufsätze und Aufsatz-Fragmente
Deutsches Heer - Zweites Deutsches KaiserreichEckhard KarlitzkyAufsätze und Aufsatz-Fragmente

Von der Heeresvermehrung 1893 zur Kriegsniederlage 1914

 

Warum das Deutsche Reich den Krieg im Frieden verlor

 

 

 

 

Teil B Heeresentwicklung 1893 bis 1914 - Geschichtlicher Hergang

 

Der geschichtliche Hergang war wie folgt:

 

1. Heeresvermehrung 1893

Im Jahr 1893 wurde im Deutschen Reich  vom Gesetzgeber (Bundesrat und Reichstag) eine Heeresvermehrung beschlossen (Reichsgesetzblatt 1893 Seite 233). Die Vorlage dazu stammte vom Reichskanzler v. Caprivi de Caprara de Montecuccoli.

 

Die Friedenspräsenzstärke des Heeres wurde um über 59.000 Wehrpflichtige erhöht. Das entsprach 14 % der bisherigen Anzahl. Der Grundwehrdienst wurde bei der Infanterie und der Artillerie (mit Ausnahme der reitenden Artillerie) von drei auf zwei Jahre verkürzt. Durch die beiden Maßnahmen erhöhte sich die Zahl der jährlich zum Grundwehrdienst einzuberufenden Wehrpflichtigen um 54.000 Mann.

Reichstagsprotokolle 9. Legislaturperiode 1893,1 – Anlage Nr. 4 -

http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt3_k9_bsb00018685_00210.html

Bis zum Kriegsausbruch 1914 vermehrte sich die Zahl der ausgebildeten Wehrpflichtigen dadurch um schätzungsweise 800.000 Mann.

 

v. Caprivi hatte bei der Heeresvermehrung wesentliche Abstriche von seinem Vorhaben hinnehmen müssen (Kürzung um 12.839 Wehrpflichtige und etwa 1000 Unteroffiziere, Reichsarchiv, Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, Textband Seite 41). Die von ihm erstrebte Anzahl von 711 Infanterie-Bataillonen wurde bis 1914 nicht erreicht.

 

Die Heeresvermehrung wurde in Einzelschritten umgesetzt. 1893 wurden Grundeinheiten (173 Halbbataillone) geschaffen, um die Ausbildung der zusätzlichen Wehrpflichtigen zu bewältigen. In späteren Jahren folgten Entscheidungen, neue Einheiten und höhere Verbände zu bilden. Was die Divisionen angeht, blieb die Heeresvermehrung unvollendet. Es wurden nicht so viele Divisionen aufgestellt, wie aus den vorhandenen Infanterieeinheiten möglich gewesen wären. Hierin lag, wie in Teil A Übersicht dargelegt, die Hauptursache der Niederlage von 1914.

 

Der Heeresvermehrung von 1893 folgten in späteren Jahren weitere Heeresverstärkungen. Sie hielten sich, was die Mannschaftsstärke anging, in engsten Grenzen. Die Folgen waren klaffende Lücken in der Heeresorganisation und ein Mangel an ausgebildeten Wehrpflichtigen (Reservisten). Einen angemessenen Umfang hatte erst die Heeresverstärkung 1912, die fast 29.000 Mann an zusätzlichen Wehrpflichtigen bis 31.03.1916 vorsah. Die Heeresvermehrung 1913, welche die jährliche Rekrutenzahl um 63.000 Mann steigerte, knüpfte an die Größenordnung von 1893 an.

 

2. Neue Formationen 1897

Zum 1.4.1897 wurden aus den 173 Halbbataillonen 86 Infanterie-Bataillone neu gebildet (Änderungsgesetz vom 28. Juni 1896 zum Heeresgesetz 1893, Reichsgesetzblatt 1896 Seite 179). Sie wurden in 42 neuen Regimentern zusammengefasst, diese in 19 neuen Brigaden (Reichsarchiv, Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, I. Anlageband, Zweiter Teil Anhang, II. Von 1888 bis zur Jahrhundertwende Seite 370).

 

Die neuen Brigaden und Regimenter ermöglichten es, in der Zukunft zehn neue Divisionen zu je zwei Brigaden, diese zu je zwei Regimentern, zu bilden. Aufgestellt wurden in den 17 folgenden Friedensjahren sieben neue Divisionen. Es blieben fünf Brigaden mit vierzehn Regimentern übrig, aus denen keine Divisionen gebildet worden waren (ohne preußische Garde). Einen sachlichen Grund dafür gab es nicht; ein militärischer Bedarf für weitere Divisionen bestand.

 

Am 1.4.1897 gab es 43 Divisionen (seit Herbst 1890). Eine Erhöhung der Anzahl um zehn Divisionen auf 53 oder auf 54 Divisionen wäre, von der Einwohnerzahl und der Wirtschaftskraft Deutschlands her gesehen, ohne weiteres möglich gewesen. Sie wäre im Verhältnis hinter den vergleichbaren Rüstungen Frankreichs zurückgeblieben. Weshalb es nicht zu einer solchen Erhöhung kam, versuchen die nachstehenden Ausführungen zu beantworten.

 

- 6 -

 

Es war nicht erforderlich, alle tauglichen Wehrpflichtigen zum Wehrdienst einzuberufen, wenn man 53 oder 54 Divisionen haben wollte.

                                                                                                      

3. Neue Divisionen 1899/Feldartillerie-Vermehrung

Ab 1.10.1899 stellte Kriegsminister Heinrich v. Goßler (1896 -1903) aus den 19 neuen Infanterie-Brigaden von 1897 fünf neue Divisionen auf. Eine Division faßte im Regelfalle zwei  Brigaden zu einer übergeordneten Organisationseinheit zusammen. Für die fünf neuen Divisionen hatte man also 10 der 19 neuen Brigaden gebraucht.

 

Es gab nunmehr 48 Friedens-Divisionen. Sie erhielten die erforderliche Feld-artillerie, Pioniere und Train wurden vermehrt. Die benötigte zusätzliche Divisionskavallerie war noch nicht aufgestellt worden. Bei den Infanterie-Bataillonen wie bei der Feldartillerie blieben Lücken.  Man konnte nicht alles auf einmal haben.

 

Frankreich hatte in den Jahren 1887/1888 seine Feldartillerie in bedeutendem Umfange vermehrt. Das deutsche Heer war bei dieser Waffe in Rückstand geraten.  Daher wurden in den drei Heeresgesetzen 1890, 1893 und 1899 Vermehrungen der Feldartillerie vorgesehen. Die Anzahl der Geschütze reichte nach 1899 an die des französischen Heeres heran. Die Kanonen der Feldartillerie wurden durch ein neues Modell aus dem Jahr 1896 ersetzt. Daher sprach man von Feldkanonen 96. Als neue Waffe eingeführt wurden leichte Feldhaubitzen 98, ein Modell aus dem Jahr 1898, unter Verminderung der Kanonen-Batterien.

 

Auf einem anderen Blatt steht, dass die neuen  Feldkanonen 96 im Zeitpunkt ihrer Anschaffung bereits technisch überholt waren. Das französische Heer war 1897 zu einer neuen Generation von Geschützen, den Rohrrücklaufgeschützen, übergegangen. Ihnen gehörte die Zukunft. Zu einer solchen Einsicht waren die verantwortlichen Militärs in Deutschland bis zum Jahr 1900 noch nicht durchgedrungen. Das geschah erst in den beiden Folgejahren. Nun war guter Rat teuer.

 

Entsprechendes gilt für die leichten Feldhaubitzen Modell 98, mit deren Anschaffung ab 1899 begonnen wurde. Sie sollten der erfolgreichen Bekämpfung befestigter Stellungen des Gegners, auf die man im Kriege stoßen würde, dienen. So sagte es die amtliche Begründung zur Heeresvorlage 1899. Die leichte Feldhaubitze war ein Steilfeuergeschütz und ein militärischer Fortschritt für das Heer. Jedoch war das Modell 98 technisch überholt und bedurfte einer Neukonstruktion.

 

In der Amtszeit v. Goßlers fielen grundlegende Entscheidungen, die das Heer weiter entwickelten.  Die Feldartillerie wurde den Divisionen eingegliedert – zuvor gehörten sie zu der übergeordneten Einheit Armeekorps. Erstmalig wurden Telegraphenbataillone aufgestellt, drei an der Zahl. Eine Inspektion der Verkehrstruppen wurde errichtet. Unter ihrem Dach wurden technische Einheiten zusammengeführt. Dazu gehörten die Eisenbahnregimenter, die Luftschiffer, welche de Fesselballone zu bedienen hatten und späterhin die Zeppeline zu fahren hatten, die Telegrapheneinheiten, die Kraftfahrzeuge und schließlich die Flieger. Die Aufgabengebiete waren völlig verschieden.

 

Durch den Bau einer Schlachtflotte (Flottengesetze vom 10. April 1898 und vom 14. Juni 1900) ergab sich jedoch ein Sparzwang. Er setzte der Weiterentwicklung Grenzen. Hinzu kam, dass die Reichstagsmehrheit die Forderungen v. Goßlers, was die personelle Verstärkung des Heeres anging, teilweise ablehnte. Es ging um 2 – 3 Millionen Mark jährlich. Für jährliche Aufwendungen in dieser Höhe hätte man bis 1914 über 30.000 ausgebildete Wehrpflichtige zusätzlich haben können.

 

3a. Systemwechsel bei den Heeresgesetzen ab 1899/1900

 

Kriegsminister v. Goßler führte bei den Heeresgesetzen einen Systemwechsel durch.

 

Die Gesamtzahl der Wehrpflichtigen, die im Heer „unter den Fahnen“ dienten, sollte in Zukunft  vom Gesetzgeber jährlich neu festgestellt werden. Das hatte im Reichshaushaltsetat zu geschehen, erstmals im Haushaltsjahr 1900, das vom 1.4.1900 bis zum 31.03.1901 lief. Damit wurde eine Forderung erfüllt, die der Reichstag von der Reichsgründung an erhoben hatte. Er berief sich dafür auf sein verfassungsmäßiges Budgetrecht.

 

Heeresgesetze mit fünfjähriger Laufzeit (sogenannte Quinquennate) sollte es weiterhin geben. Sie enthielten nunmehr Zielsetzungen, die innerhalb eines bestimmten Zeitraumes zu erreichen waren. Eine Verteilung der Maßnahmen auf mehrere Jahre war aus militärischer Sicht sinnvoll. Zuvor waren die Zielsetzungen auf den Tag genau zu erfüllen, an dem der jeweils neue Fünfjahreszeitraum begann. Jetzt hatte der Gesetzgeber im Rahmen der Beschlüsse zum Reichshaushaltsetat bei der Maßnahmenverteilung ein Mitspracherecht.

 

Den späteren Kriegsministern v. Einem und v. Heeringen dienten die Heeresgesetze als ein Instrument, die Weiterentwicklung des Heeres zu blockieren. Es wurde in Quinquennaten gedacht. Was im laufenden Heeresgesetz nicht vorgesehen war, musste auf das nächste Heeresgesetz – also den nächsten Fünfjahreszeitraum – verschoben werden. So wollte im Jahr 1913 Kriegsminister v. Heeringen die Forderung des Generalstabs nach neuen Armeekorps auf den nächsten Fünfjahreszeitraum verschoben wissen, weil derartiges im laufenden Fünfjahreszeitraum nicht vorgesehen war. Zwingend war dies nicht. Innerhalb eines laufenden Fünfjahreszeitraumes konnte man die Zielsetzungen mit Wirkung für die Zukunft erweitern. Das war rechtlich ohne weiteres zulässig.

 

Für die Offiziere, Ärzte im Heere und Heeresbeamte waren Planstellen im Reichs-haushaltsetat ausgewiesen. Die Regelung geht anscheinend noch auf Albrecht Graf Roon, den Kriegsminister König Wilhelms I. von Preußen, zurück. Die Könige konnten so viele Offiziere ernennen, wie sie wollten – aber Dienstbezüge gab es nur, wenn eine Planstelle vorhanden war. Im preußischen Heer herrschte Offiziersmangel. Es war stets ein Teil der Planstellen unbesetzt, bisweilen um 9 % herum. Reichskanzler v. Caprivi hatte die Planstellen-Regelung auf die Unteroffiziere ausgeweitet – und davon gab es im Jahr 1893 etwa 80.000. Es war ein Entgegenkommen gegenüber dem Reichstag.

 

 

4. Zukunftsplanung durch Kriegsminister Heinrich v. Goßler (1896 – 1903)

Für die Zeit ab 1.4.1904 beabsichtigte v. Goßler die Aufstellung der weiteren fünf Divisionen, die man aus den vorhandenen Infanterieeinheiten bilden konnte. Dann wären insgesamt 10 neue Divisionen vorhanden gewesen.

Ab dem Jahr 1904 sollten für sie die Befehls- und Verwaltungsorgane geschaffen werden. Im Kriegsfall hätte man die Divisionen sonst neu aufstellen müssen. Das hätte organisatorische Schwierigkeiten bereitet. Die Ausstattung der Divisionen (mit Feldartillerie usw.) sollte einem späteren Zeitpunkt vorbehalten bleiben. Das war eine Geldfrage.

 

v. Goßler schrieb im März 1902 in einer Denkschrift (Reichs-archiv Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, I. Anlagenband, Erster Teil A Dokument Nr. 21):

 

"Es ist ... die Absicht, beim Garde-, VI., VIII., XVI. und XVII. Armeekorps durch Zusammenlegung der fünften Infanterie-Brigaden dritte Divisionen zu schaffen."

 

Die fünften Infanterie-Brigaden waren zum 1.4.1897 neu gebildet worden (siehe vorstehenden Abschnitt 2 des Aufsatzes). Die ursprünglich 19 verfügbaren Brigaden hatten sich zum 1.10.1899 durch die Bildung von fünf neuen Divisionen vermindert (siehe vorstehenden Abschnitt 3 des Aufsatzes).

 

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Aus den noch verfügbaren neun Brigaden sollten weitere fünf Divisionen formiert werden.

 

Es bleibt noch der Ausdruck „fünfte“ Brigaden zu erklären. Sie wurden auch „überzählige“ Brigaden genannt. Diese Anzahl und dieser Ausdruck beziehen sich auf die den Divisionen übergeordnete Organisationseinheit Armeekorps. Im Kriegsfall zählte ein Armeekorps zwei Divisionen zu je zwei Brigaden, also insgesamt vier Brigaden. Die zum 1.4.1897 neu gebildeten Brigaden waren „fünfte“ Brigaden oder "überzählige" Brigaden. Entsprechendes gilt für die "überzähligen" Regimenter.

 

Die Zusammenlegung der fünften Brigaden zu Divisionen konnte der Kaiser dem Heer befehlen, Artikel 63 Absatz 4 der Reichsverfassung 1871. Die politische Entscheidung, neue Divisionen aufzustellen, lag beim Reichskanzler. Die Ausstattung der Divisionen mit Feldartillerie usw. bedurfte eines Gesetzesbeschlusses.

 

Zu den beabsichtigten fünf neuen Divisionen kam es nicht, da Kriegsminister Heinrich v. Goßler im Sommer 1903 seinen Abschied vom Dienst nahm. Er war der letzte preußische Kriegsminister, der verstand, dass ein für den Krieg ausreichender Organisationsrahmen im Frieden geschaffen werden mußte. Er wollte den mit den vorhandenen Infanterieienheiten möglichen Rahmen in vollem Umfang ausschöpfen. 

 

 

5. Kriegsminister Karl v. Einem (1903 – 1909)

Unter Karl v. Einem, genannt v. Rothmaler, v. Goßlers Amtsnachfolger, trat das Heer in eine Phase des Stillstands und des Rückschritts ein. Was die Heeresorganisation angeht, dauerte sie acht Jahre lang, von 1904 bis 1911. Eine angemessene organisatorische Erweiterung fand bis zum Kriegs-ausbruch 1914 nicht statt.

 

5.1

v. Einem kassierte die Planungen seines Amtsvorgängers und verordnete dem Heer zunächst ein Sabbatjahr. Das geschah, indem er den Gültigkeitszeitraum des aktuellen Heeresgesetzes, der am 31.3.1904 ablief, um ein Jahr bis zum  31.03.1905 verlängerte (Reichsgesetzblatt 1904 Seite 65). In ihm wurde nichts Neues in Angriff genommen. Es befanden sich neue Pensionsgesetze für das Heer im Gesetzgebungsverfahren. Die sollten nicht durch anderweitige Ausgabenforderungen gefährdet werden. Das Reichsarchiv spricht von einem „einigermaßen ungewöhnlichen Schritt“ (Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, Textband Seite 72). So etwas hatte es im Kaiserreich noch nicht gegeben.

 

5.2

Nach dem Sabbatjahr 1904 waren für den Zeitraum vom 1.4.1905 bis zum 31.3.1910 die Friedensstärke und die Friedensorganisation des Heeres neu zu regeln. Dabei ging es um die Formierung neuer Großkampfverbände wie Divisionen, um die Schließung von Lücken im bestehenden Organisationsschema des Heeres und um militärische Neuerungen.

 

Nach Meinung des Kriegsministers v. Einem war bereits im Jahr 1903 die Heeres-organisation  im Wesentlichen abgeschlossen (Schreiben vom 19. April 1904 an  General-stabchef v. Schlieffen). Er lehnte die Bildung neuer Divisionen ab. Seine Auffassungen legte v. Einem in eigenhändigen Aufzeichnungen vom Herbst 1903 nieder. Darin führte er die Gründe auf, die seiner Meinung nach gegen neue Divisionen sprachen. Von deren alleiniger Richtigkeit war v. Einem überzeugt. (siehe Reichsarchiv, Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, I. Anlagenband, Erster Teil A Dokument Nr. 26 bzw. Nr. 23).

 

- 8 -

 

Eine Aufstellung der Einheiten, die im bestehenden Organisationsschema des Heeres fehlten, sah v. Einem zum Teil als geboten an. Was Kaiser Wilhelm II. am Herzen lag, war die Vermehrung der Kavallerie. Sie hatte seit über 30 Jahren keine Vermehrung erhalten, mit Ausnahme der Schaffung von Jägern zu Pferde. Dem Wunsch des Kaisers entsprach die Heeresvorlage 1905 v. Einems, indem sie den Schwerpunkt auf die Kavallerie legte  (28 neue Eskadrons Kavallerie).

 

Im Übrigen trug die Heeresvorlage 1905 dem militärischen Bedarf  nur in stark eingeschränktem Umfange Rechnung. Dafür seien zwei Beispiele genannt: Von 41 fehlenden Infanterie-Bataillonen wollte v. Einem nur 8 ergänzen. Eine Ergänzung der Feldartillerie - in den bestehenden Divisionen fehlten 24 Batterien - war nicht vorgesehen. v. Einem bezweifelte die Notwendigkeit zusätzlicher Feldartillerie:

                                                                           

"Nach einer unter den höheren Generälen der Armee weit verbreiteten Meinung haben wir fast zu viel Feldartillerie im Verhältnis zur Infanterie."

(Eigenhändige Aufzeichnungen v. Einems vom Herbst 1903, wie vorstehend)

 

Im Kriegsfall hätte zur Ergänzung der fehlenden Batterien auf Reserveartillerie zurückgegriffen werden müssen. Das war ein Übelstand, den v. Einem nicht sah. Er verkannte die Bedeutung, welche der Artillerie im Kriege zukommt. Im Kriege von 1870/71 hatte den Ausschlag gegeben, dass die deutsche Artillerie zahlenmäßig und qualitativ der französischen Artillerie weit überlegen war. In einem künftigen Krieg würde die Artillerie wieder den Ausschlag geben. Die Militärs in Paris hatten dies begriffen. Kriegsminister v. Einem begriff es nicht.

 

5.3

Der Reichstag stimmte v. Einems Heeresvorlage 1905 zu, jedoch durften 10 der geforderten 28 Eskadrons Kavallerie erst im Militärjahr 1910 (das vom 1.4.1910 bis 31.3. 1911 lief) aufgestellt werden.

 

(Reichstagsprotokolle 11. Legislaturperiode, 1903/05,16

Anlage Nr. 725 vom 20. März 1905,

http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k11_bsb00002822_00683.html)

 

Das sollte den Reichskanzler indessen nicht daran hindern, für die Zeit ab 1.4.1910 beim Gesetzgeber eine neue Heeresvorlage einzubringen. Darauf wurde bei der Gesetzesformulierung geachtet.

 

Aus militärischer Sicht wäre eine Heeresvorlage zum 1.4.1910 unbedingt geboten gewesen. Vom 1.4.1904 bis 31.3.1910 war die Friedenspräsenzstärke des Heeres lediglich um 8946 Wehrpflichtige gestiegen. Damit den Bedarf abzudecken, war unmöglich gewesen.

 

Kriegsminister v. Einem machte von der Möglichkeit, dem Reichskanzler (und über diesen dem Gesetzgeber) eine Heeres-vorlage zum 1.4.1910 vorzulegen, keinen Gebrauch.

 

5.4

Nach Ablauf des Heeresgesetzes 1905 war die Friedensstärke für den Zeitraum ab 1.4.1911 neu festzusetzen. Das sollte für einen Fünfjahreszeitraum, also bis zum 31.3.1916, geschehen. Den voraus-sichtlichen Inhalt legte Kriegsminister v. Einem bereits in einem Schreiben vom 23. Juli 1909 an Generalstabchef v. Moltke  (1906 - 1914) fest (Reichsarchiv Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, I. Anlagen-band, Erster Teil A Dokument Nr. 35). Darin erklärte er seine bisherige Haltung für die Zukunft als weiterhin verbindlich. Er sehe

 

"den Rahmen des Heeres, wie er durch den Stand der 3 Hauptwaffen gegeben ist,

trotz einiger Lücken auf längere Zeit als unveränderlich an".

 

- 9 -

 

Das bedeutete: Die Heeresorganisation sollte nicht weiter entwickelt werden. Der nächste Schritt hierzu wäre eine Bildung von zwei neuen Divisionen aus überzähligen Brigaden und eine anschließende Erweiterung der 23 Friedens-Armeekorps auf 25 gewesen. Das wollte v. Einem nicht.

 

Der Schließung der Lücken im vorhandenen Organisationsschema des Heeres und der Einführung technischer Neuerungen legte v. Einem auch für den neuen Fünfjahres-Zeitraum engste Grenzen an. Das preußische Heereskontingent sollte um maximal 7000 Wehrpflichtige verstärkt werden. Das sei das Äußerste, was gefordert werden könne. Soweit eine Lückenschließung vorgesehen war, sollte diese erst in den Jahren 1914 und 1915 erfolgen. Das betraf vor allem die Verstärkung der Fußartillerie und der Feldartillerie.

 

Dass diese Beschränkung des Heeresausbaus im Kriegsfall zu einer Niederlage führen werde, mußte jedem sachverständigen Betrachter klar sein. In Paris, London und St. Petersburg gab es Militärs, die sachverständig waren. In der deutschen Öffentlichkeit erhob sich deutliche Kritik. Im Reichstag verhallte sie ungehört.

 

 

5.5

Zu den zeitlichen Ereignisabläufen ist nach den vorstehenden Ausführungen festzuhalten:

 

In den sieben Jahren vom 1. April 1904 bis zum 31. März 1911 gab es ein einziges Heeresgesetz, dessen Geltungsdauer der Kriegsminister auf 5 Jahre angelegt hatte. Für die Entwicklung des Heeres gingen zwei Jahre verloren. Der Zeitverlust ließ sich vor Kriegs-ausbruch 1914 nicht mehr aufholen. Dem deutschen Heer wurde das Sabbatjahr 1904 „der Anfang seines Verderbens“ (Ausdruck entlehnt aus Homer, Ilias, Elfter Gesang, Tod des Patroklos).

 

5.6

Im September 1909 entließ Kaiser Wilhelm II. den Reichskanzler v. Bülow, der dies Amt seit Oktober 1900 bekleidet hatte. In diesem Zusammenhang wurde v. Einem als Kriegsminister abgelöst. Neuer Kriegsminister wurde General  Josias v. Heeringen (1909 - 1913). Er übernahm für das neue Heeresgesetz vom 1.4.1911 - 31.3.1916 im Wesentlichen die Vorschläge seines Amtsvorgängers. Eine Änderung in der Militärpolitik des Reiches fand nicht statt; sie war mit der Ernennung nicht beabsichtigt. v. Heeringen berief sich späterhin darauf, sein Amtsvorgänger habe zur weiteren Entwicklung des Heeres Zusagen abgegeben, die er nicht habe ändern können. Das dürfte Erklärungen betreffen, die v. Einem gegenüber der Reichsleitung und der Budget-kommission des Reichstags abgegeben hatte. Jedoch gab v. Heeringen auch eigene Erklärungen ab, die sachlich unzutreffend waren und ihm später vorgehalten wurden.

 

 

6. Auseinandersetzung um neue Divisionen und Armeekorps

 

Zwischen Generalstabchef Alfred v. Schlieffen (1891 - 31. 12.1905) und Kriegsminister Karl v. Einem (1903 - 1909) kam es zu einer Auseinandersetzung um neue Armeekorps und Divisionen. Die beiden Generäle gehörten unterschiedlichen Generationen an. v Einem war 1853 geboren,  v. Schlieffen 1833.

 

Generalstabchef v. Schlieffen vertrat im Gegensatz zu Kriegsminister v. Einem die Auffassung, dass er

 

"die fortgesetzte Weiterentwicklung der Armee zur Erhaltung des Staates für unabweisbar halte".

(Schreiben an das Kriegsministerium vom 4. November 1905, Reichsarchiv, Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, I. Anlagenband, Erster Teil A Dokument Nr. 27)

 

    Das erforderte die Bildung neuer Divisionen und Armeekorps.

 

- 10 -

 

v. Schlieffen erhob Widerspruch dagegen, dass Kriegsminister v. Einem der Heeresorganisation einen Stillstand verordnete. Der Widerspruch blieb wirkungslos. Die Ansichten v. Einems erhielten die Billigung des Chefs des Militärkabinetts sowie die Zustimmung des Kaisers.

 

Mit seiner Äußerung nahm v. Schlieffen die Niederlage des Deutschen Reiches von 1914 vorweg. Er benannte zugleich deren Ursache, nämlich dass es unterlassen wurde, die Heeresorganisation durch neue Divisionen und Armeekorps weiter zu entwickeln.

                                                                                                                                     

6.1

Bei der Auseinandersetzung zwischen den beiden Generälen ging es um die Organisation des bestehenden Heeres.  Sollte sie durch die Bildung neuer Divisionen weiterentwickelt werden oder so bleiben wie sie war? Das war die erstrangige Frage. Eine Erhöhung der zahlenmäßigen Stärke des Heeres (der sogenannten Friedens-präsenzstärke) war nur insoweit im Gespräch, als es um die Schließung von Lücken innerhalb des bestehenden Organisationsschemas des Heeres ging. Das war eine zweitrangige Frage.

 

Ausgangspunkt der Auseinandersetzung war eine Entscheidung des Kriegsministers v. Goßler aus dem Jahre 1899. Danach sollten alle Armeekorps im Kriegsfall einheitlich jeweils 24 bis 25 Infanterie-Bataillone zählen. Das entsprach 2 Divisionen zu je 2 Brigaden zu je 2 Regimentern, ggf. verstärkt durch ein Jäger-Bataillon. In der Friedensgliederung hatten die Armeekorps aber eine uneinheitliche Stärke. Es gab "überzählige" 5. Brigaden und "überzählige" Regimenter. Um eine einheitliche Gliederung zu erreichen, war die Bildung neuer Divisionen erforderlich. Das war es, was v. Schlieffen wollte und v. Einem ablehnte. Andererseits bestanden Lücken in der Gliederung des bestehenden Heeres. In fast allen Armeekorps fehlten Infanterie-Bataillone. Kriegsminister v. Einem hielt ihre Neuaufstellung nur zu einem geringen Teil für geboten. Auch hier war v. Schlieffen anderer Meinung.

 

Am Rande sei erwähnt, dass die Einheitlichkeit des Heeres in Organisation und Formation in Artikel 63 Absatz 3 der Reichsverfassung 1871 als Ziel vorgegeben war. Der Kaiser hatte die Pflicht und das Recht, für diese Erfordernisse Sorge zu tragen - so sagte es die Verfassung. Kaiser Wilhelm II. kam seiner Pflicht nicht nach. Er lehnte die Bildung neuer Divisionen ausdrücklich ab (Reichsarchiv, Kriegsrüstung und Kriegs-wirtschaft, Textband Seite 72).

 

6.2

Der bestehende Offiziersmangel im preußischen Heereskontingent war es nicht, der die Neubildung von Divisionen aus bestehenden Infanterieeinheiten verhinderte. Die Neubildung erforderte nur wenige zusätzliche Offiziere, nämlich Divisions-Kommandeure und eine gewisse Anzahl von Stabsoffizieren. Es hätten sich Beförderungsmöglichkeiten eröffnet. Hätte der Kaiser die Neubildung befohlen, so mußte ihm der Gesetzgeber die erforderlichen Planstellen für die Divisionskommandos im Reichshaushalts-Etat bewilligen. Denn die Gliederung und Einteilung des Reichsheeres war der Zuständigkeitsbereich des Kaisers, den der Gesetzgeber zu respektieren hatte.

 

 

6.3

Man muss zum Verständnis einen fiktiven Blick nach vorwärts werfen:

 

Im Falle der Bildung dritter Divisionen als übergeordnete neue Organisationseinheiten aus fünften "überzähligen" Brigaden stellte sich die weitere Frage nach ihrer Ausstattung. Für eine Division waren zusätzliche Einheiten und eine Ausrüstung erforderlich. Hier prallten schon vorweg die Meinungen aufeinander:

 

- 11 -

 

Generalstabchef v. Schlieffen strebte für die Zukunft planmäßige Friedensbeschaffungen  an.

 

Das wäre jeweils vom Gesetzgeber zu bewilligen gewesen, bei dem der preußische Kriegsminister auf dem Weg über eine Heeresvorlage des Reichskanzlers die Aufstellung der erforderlichen Batterien Feldartillerie, Eskadrons Kavallerie, Pionier- und Train-Bataillone zu beantragen hatte.

 

Kriegsminister v. Einem erklärte dies von vornherein für aussichtslos:

 

"(daran) ist aber angesichts der großen Anforderungen, die in Aussicht stehen, nicht zu denken".

 

Es ging um die Ausgaben, welche die Weiterentwicklung der Heeresorganisation erfordert bzw. nach sich gezogen hätte. Auf der Organisationsebene der Divisionen wurde es teuer. Deren Leistungsfähigkeit als Kampfverbände hing von ihrer Ausstattung und Ausrüstung ab. Dafür sollen Beispiele genannt werden:

 

  • Für jede weitere Division hätte man zwei Regimenter Feldartillerie neu aufstellen müssen, für 5 Divisionen also 10 Regimenter. Ein Regiment umfaßte sechs Batterien zu je sechs Geschützen.
  • Sinnvoller Weise hätte man zugleich oder zuvor die bei der Feldartillerie vorhandenen Lücken von insgesamt 24 Batterien schließen sollen. Bei der 37. und der 39. Division fehlte je ein Regiment, die sechs bayerischen Divisionen hatten je zwei Batterien zu wenig.
  • Zusätzliche Geschütze brauchten auch zusätzliche Bespannungsabteilungen, sie brauchten Munition und Munitionskolonnen.
  • Der Train - das Nachschubwesen des Heeres - war unterentwickelt, sodass die Mobilmachung im Kriegsfall unsicher war. Für neue Divisionen hätte man weitere Train-Formationen aufstellen müssen.

 

Für die materielle Ausstattung war mit hohen einmaligen Ausgaben zu rechnen. Das Adjektiv "hoch" kennzeichnet hier die relative Größenordnung im Militärhaushalt, nicht die absolute Höhe. Die notwendigen personellen Verstärkungen des Heeres hätten dessen Friedensstärke vermutlich um vier bis fünf Prozent erhöht und zu einer entsprechenden Steigerung der fortdauernden Ausgaben geführt.

 

Die vorauszusehenden Ausgaben schreckten Kriegsminister v. Einem davon ab, neue Divisionen in Erwägung zu ziehen. Er hielt es für ausgeschlossen, die Geldmittel für ihre Ausstattung zu beschaffen. Einen Versuch dazu beim Gesetzgeber unternahm er nicht.

 

Mit einer vollständigen Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht hatte die Bildung neuer Divisionen nichts zu tun. Es bestand eine militärische Notwendigkeit, der man hätte entsprechen müssen. Die vorhandenen Wehrpflichtigen reichten für eine solche Verstärkung ohne weiteres aus. Die zusätzlichen Offiziere hätten sich finden lassen.

 

6.4

Hätten die Geldmittel für neue Divisionen durch Steuern beschafft werden können?

 

Eine Steuerkraft in der Bevölkerung, die dafür ausgereicht hätte, war gegeben.

 

- 12 -

 

Im Deutschen Reich von 1871 entstand durch eine wirtschaftliche Blüte ein privater Wohlstand im Bürgertum und im Adel. Das zweite Kaiserreich war das goldene Zeitalter des deutschen Bürgertums.

 

"Handel und Wissenschaft

heben mit Mut und Kraft

ihr Haupt empor..."

 

heißt es stolz in der deutschen Kaiserhymne.

 

Das Reichsschatzamt spricht von "einer beispiellos glänzenden Entwicklung der deutschen Volkswirtschaft und einer gewaltigen Vermehrung des allgemeinen Wohlstandes". Die Formulierung findet sich in der Begründung zu einem

 

Gesetzentwurf, betreffend Änderungen im Finanzwesen

Reichstagsprotokolle 12. Legislaturperiode 1907/09,22

- Anlage Nr. 992 vom 3. November 1908 - Begründung

http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k12_bsb00002928_00294.html

 

Dem gestiegenen Wohlstand entsprach eine gestiegene Steuerkraft. Es kam darauf an, diese dem Reich nutzbar zu machen. Dies gelang nicht.

 

6.5

Dem privaten Wohlstand stand eine Finanznot des Zentralstaates "Deutsches Reich" gegenüber. Schon frühzeitig hatten die Ausgaben  nur unter Zuhilfenahme von Krediten finanziert werden können. In der Finanzgeschichte des Reichs bestand ein dauerndes Mißverhältnis von Bedarf und Deckung. So sagte es das Reichsschatzamt. Dieses Mißverhältnis ließ sich nur durch neue Steuern beseitigen. Die Alternativen waren

 

indirekte Steuern, indem man den Massenverbrauch höher besteuerte und dazu, wenn nötig, neue Steuern auf den Massenverbrauch einführte

oder 

direkte Steuern vom Einkommen und/oder vom Besitz auf Reichsebene.

 

Politisch erwünscht war weder das eine noch das andere. Gegen direkte Reichssteuern gab es unüberwindliche Widerstände bei den Regierungen der Bundesstaaten und in deren Parlamenten. Gegen Steuern auf den Massenverbrauch gab es Widerstand im Reichstag. Die Widerstände verhinderten Gesetzesbeschlüsse sowohl im Bundesrat wie auch im Reichstag.  Der Gesetzgeber war blockiert. Die Vermehrung der Einnahmen blieb hinter dem Bedarf zurück. Es kam zu Haushaltsdefiziten, die seit 1900 jährlich anstiegen.

 

Das Reich war gezwungen, ständig weitere Kredite aufzunehmen. Im Jahr 1900 betrug die „begebene Schuld“ des Reiches 2.395.650.000 Mark – so sagte es das Reichsschatzamt. In den folgenden 10 Jahren verdoppelte sie sich auf fünf Milliarden. Mit jeder neuen Kreditaufnahme wuchs der Anteil, den die Zinsen an den Staatsausgaben beanspruchten, an und engte so den finanzpolitischen Spielraum weiter ein. Um die Reichsanleihen am Kapitalmarkt im In- und Ausland unterzubringen, mußten die Zinssätze erhöht bzw. die Ausgabekurse reduziert werden. Das führte zu Vermögensverlusten bei den Käufern bisheriger Anleihen  und zu nachteiligen Auswirkungen in der gesamten Volkswirtschaft. Eine weitere Folge war eine Beeinträchtigung der internationalen politischen Stellung des Deutschen Reiches. Im Ausland entstand der Eindruck, das Reich sei finanziell am Ende.

 

- 13 -

 

6.6

Im Zeitpunkt des Amtsantritts des Generals v. Einem als Kriegsminister im Jahr 1903 hielt sich die Finanznot des Reiches noch in Grenzen. In der Zukunft waren eine Verschärfung des Geldmangels und damit eine Steigerung der Haushaltsdefizite zu erwarten, sofern nicht eine nachhaltige Steigerung der Staatseinnahmen gelang. Das hatte zwei Ursachen:

 

Einmal stellte der Gesetzgeber - Bundesrat und Reichstag - das Reich durch politische Entscheidungen vor neue finanzielle Herausforderungen.

 

Zum anderen kamen kostspielige einmalige militärische Ausgaben für das Heer auf das Reich zu, die sich nicht vermeiden ließen.

 

Ein Anstieg der Ausgaben stand vor allem aus folgenden Gründen in Aussicht:

 

  • Bau einer Schlachtflotte - im Jar 1902 betrugen die Kosten für die Marine 220,9 Millionen Mark und stiegen danach jedes Jahr weiter an, bis sie im Jahr 1913 den Betrag von 481,2 Millionen Mark erreichten; die  höchsten Steigerungsraten gab es ab dem Jahre 1907. In den Jahren von 1908 bis 1913 wurden 1,5 Milliarden Mark allein für "Schiffsbauten und Armierung usw." (so die Formulierung im Reichshaushaltsetat) ausgegeben

 

  • neue Versorgungsgesetze des Heeres - im Jahr 1902 betrugen die Zuweisungen an den Pensionsfonds 106,4 Millionen Mark, sie steigerten sich von da ab jährlich stufenweise bis zum Jahr 1909 auf 134,7 Millionen Mark, danach verharrten sie ungefähr in dieser Höhe - und die Verbesserungen der Entlohnung bei Oberstleutnants und Unteroffizieren

 

  • Modernisierung der Feldartillerie durch Umrüstung auf eine neue Generation von Geschützen, die Rohrrücklaufgeschütze.

 

Es ist zu unterscheiden zwischen Kanonen-Batterien und leichten Feldhaubitzen.

 

Bei den (469 fahrenden + 42 reitenden =) 511 Kanonen-Batterien waren es über 3000 Geschütze, die umgerüstet werden mussten. In der bisherigen Form waren sie nicht kriegstauglich. Der Sparsamkeit halber sollten bestimmte Teile der vorhandenen Geschütze zur Herstellung der neuen Geschütze weiterverwendet werden.

 

Bei dieser Gelegenheit wurde außerdem erörtert, ob die Batterien zukünftig zu je 4 Geschützen formiert werden sollten anstatt wie bisher zu je 6 Geschützen. Frankreich hatte diesen Schritt unternommen. Die neuen Rohrrücklauf-Geschütze erlaubten eine um ein Mehrfaches gesteigerte Feuergeschwindigkeit gegenüber den früheren Geschützen. Die Feuerleitung war daher schwieriger geworden. Um dem Rechnung zu tragen, wäre es sinnvoll gewesen, die Batterien nur noch  zu je 4 Geschützen zu formieren. Zum Ausgleich der Verminderung hätte man neue Batterien (unter Verwendung der vorhandenen Geschütze) formieren müssen. Das erforderte eine Neuorganisation der Feldartillerie. Sie wurde aus Kostengründen wie auch wegen der organisatorischen Schwierigkeiten als undurchführbar verworfen. Die darin liegende Selbstgenügsamkeit stellte sich im Krieg als Fehler heraus.

 

Die Umrüstung der Kanonen-Batterien begann 1905 und zog sich bis 1908 hin.

 

- 14 -

 

Die leichte Feldhaubitze wurde im Jahr 1909 zu einem Rohrrücklaufgeschütz umgestaltet (unter Wiederverwendung des bisherigen Geschützrohres) und erhielt danach die Bezeichnung 98/09, also Modell 1898, modernisiert 1909. Mit der Umstellung der 63 Batterien wurde ab 1910 begonnen. Sie zog sich bis Anfang 1912 hin. Erst danach begann man im Kriegsministerium an zusätzliche Batterien zu denken. Der Generalstab hatte sich bereits im Jahr 1907 für eine Vermehrung der leichten Feldhaubitzen ausgesprochen, bei gleichzeitiger Reduzierung von Kanonenbatterien. Noch weiter ging die Inspektion der Feldartillerie. Sie forderte, dass die Feldartillerie je zur Hälfte aus leichten Feldhaubitzen und aus Kanonenbatterien bestehen solle. Außerdem hatte der Generalstab vorgeschlagen, die Zahl der Geschütze auf 4 je Batterie zu vermindern. Gehör fand er damit beim Kriegsministerium nicht. Das war, wie bereits bei den Kanonen-batterien ausgeführt, ein Fehler.

 

  • Vermehrung der Fußartillerie und Umstellung auf Rohrrücklaufgeschütze.

Die Armeekorps des Feldheeres benötigten schwere Feldhaubitzen. Das war das Ergebnis einer militärischen Entwicklung der letzten 25 Jahre in Deutschland vor Kriegsausbruch 1914. Zuvor hatten die Armeekorps keine schwere Artillerie besessen. Die deutschen Militärs erkannten, dass das bisherige Verfahren, feindliche Stellungen mit Feldkanonen zu beschießen und sie sodann von der Infanterie stürmen zu lassen, keinen Erfolg mehr versprach. Um feindliche Stellungen zu überwinden, sollten die Armeekorps Steilfeuergeschütze von der Fußartillerie erhalten.

 

Aufgaben der Fußartillerie waren die Belagerung fremder und die Verteidigung eigener Festungen. Ihre Inanspruchnahme als schwere Artillerie des Feldheeres machte eine Vermehrung erforderlich. Sie geschah erstmals im Heeresgesetz 1893 zugleich mit der Einführung einer 15 cm-Haubitze. Die Vermehrungen der Fußartillerie in den Heeresgesetzen 1899 und 1905 reichten nicht aus. Bei der Heeresverstärkung 1912 ging der Kriegsminister davon aus, dass ein Mangel an Fußartillerie bestand, dem er abhelfen wollte.

 

Im Jahr 1903 wurde als erstes Rohrrücklaufgeschütz des Heeres die schwere Feldhaubitze 02, also Modell 1902 eingeführt. Die Umstellung der Fußartillerie auf dieses Modell erfolgte aus Geldmangel nur zögernd. In den Jahren 1905/1906 wurde die Geschützzahl je Batterie von 6 auf 4 Geschütze reduziert. Das erleichterte die Umstellung, was aber nichts daran änderte, dass sie bis zum Jahr 1911 im Wesentlichen noch nicht durchgeführt war. Neue Formationen, um die Verminderung der Geschützzahl auszugleichen, wurden nicht gebildet. Eine Neukonstruktion der schweren Feldhaubitzen  entstand 1913.

 

Während der Umrüstung der Artillerie war das Deutsche Heer nicht kriegsbereit. Bei einem Krieg mit Frankreich im Jahre 1905 wären die deutschen Truppen von der französischen Artillerie zusammen-geschossen worden. Generalstabchef v. Schlieffen war sich dieser Schwäche bewußt.

 

  • Umbewaffnung der Infanterie auf das neue Gewehr 98, d.h. Modell 1898, veranschlagte Kosten 78 Millionen Mark

 

  • Ausbau der Festungen, namentlich von Metz, und die Herstellung einer befestigten Linie von Metz bis Diedenhofen

 

  • Anschaffung von Maschinengewehren.  Sie war nach den Erfahrungen des russisch-japanischen Krieges von 1904/1905 geboten. Dies war eine Schlußfolgerung, zu der alle europäischen Großmächte gelangten. An einmaligen Kosten dafür nannte v. Einem im Jahr 1906 dem Reichskanzler einen Betrag 50 Millionen Mark und an laufenden jährlichen Kosten einen Betrag von etwa 9 Millionen Mark.

 

Abschließend ist diese Aufzählung nicht.

 

- 15 -

 

 

Für kriegerische Unternehmungen des Reiches wurden hohe Kredite aufgenommen. Die Militärexpedition nach Ostasien im Jahre 1900 und später verschlang 276 Millionen Mark und die Niederwerfung des Herero-Aufstandes in Südwestafrika in den Jahren 1904 - 1907 430 Millionen Mark. Das wurde über Kredite finanziert. Es sind atemberaubende Zahlen.

 

6.7

v. Einem war der Auffassung, dass er in seinem Amt als preußischer Kriegsminister politische und finanzielle Überlegungen vorrangig gegenüber militärischen Gesichtspunkten in Betracht zu ziehen hatte. Er sah die Finanzkraft des Reiches als beschränkt an. Damit war gemeint, dass die Steuerkraft der Bevölkerung beschränkt sei.

 

In den wichtigsten Bundesstaaten gab es direkte Steuern vom Einkommen. Sie betrafen nur eine Minderheit der Einwohner, nämlich die einkommensstarken und besitzenden Bevölkerungsschichten (die „besitzenden Klassen“). Direkte Reichssteuern hatten zu den bestehenden Steuern der Bundesstaaten hinzuzutreten und hätten die "besitzenden Klassen" zusätzlich belastet. Das hielten die herrschenden politischen Parteien für ausgeschlossen. Die Zielrichtung dieser Vorstellung war eindeutig. Die "besitzenden Klassen" wollten keine höheren Steuern zahlen. Offen gesagt wurde dies nicht. Wenn jemand keine Steuern zahlen will, findet er immer Vorwände, warum eine Steuerlast für ihn nicht angängig oder nicht zulässig sein soll. Das war auch im Deutschen Reiche so.

 

Reichskanzler Fürst v. Bülow legte am 19. November 1908 vor dem Reichstag den Finger in die Wunde, indem er ausführte:

 

„Ein ausgezeichneter Gelehrter, der derzeitige Prorektor der Freiburger Universität, Professor v. Schulze-Gaevernitz, hat in diesem Sommer geschrieben:

Die deutsche Finanzmisere beruht nicht auf mangelnder Steuerfähigkeit, sondern auf mangelnder Steuerwilligkeit.

                   (Sehr richtig! Rechts. – Zurufe links.)

Und was ein anderer hervorragender Gelehrter, mein alter Gönner, der  Professor Dr. Adolf Wagner, über unsere „Steuerfilzigkeit“ und „Steuerknickrigkeit“ gesagt hat, will ich lieber gar nicht hier wiederholen.“

(Heiterkeit.)

http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k12_bsb00002843_00318.html 

 

Eine beschränkte Steuerkraft der Bevölkerung lag nicht vor und somit auch keine beschränkte Finanzkraft des Reiches.  An der gegenteiligen politischen Vorstellung jedoch orientierte Kriegsminister  v. Einem sein Handeln.

 

Angesichts der zu erwartenden Ausgaben durfte er - so lautete v. Einems Schlussfolgerung - zusätzliche Forderungen für das Heer an den Gesetzgeber nur in einem sehr eng begrenzten Umfang stellen. Dies war der Grund, warum seine Heeresvorlagen 1905 und 1911 an den Gesetzgeber, wie bereits in Abschnitt 5.2 bis 5.4 ausgeführt, dem militärischen Bedarf nur in unvollkommener Weise Rechnung trugen und warum er eine Weiterentwicklung der Heeresorganisation ablehnte. Dem Kriegsministerium diente die angeblich beschränkte Finanzkraft des Reiches als ein unwiderlegliches Argument, um Forderungen der Fach-behörden des Heeres und des Generalstabs als undurchführbar zu bezeichnen.

 

- 16 -

 

6.8

Die überzähligen Brigaden und Regimenter wollte Generalstabchef  v. Schlieffen sämtlich zur Bildung neuer Friedens-Divisionen verwenden und diese 53 oder 54 Divisionen dann zu voll-wertigen Kampfeinheiten ausbauen, siehe vorstehend Abschnitt 6.3. Diese wären kostspielig, aber qualitativ hochwertig und im Krieg allen Anforderungen eines Kampfes gewachsen gewesen.

 

Kriegsminister v. Einem hingegen entschied, keine neuen Friedens-Divisionen zu bilden und einen Teil der überzähligen Brigaden und Regimenter im Kriegsfall in Reserve-Divisionen einzustellen. Diese waren militärisch von minderer Qualität, weil sie

 

  • nur die Hälfte der Feldartillerie der Friedensdivisionen hatten,
  • Feldartillerie nur aus Kanonenbatterien hatten, im Regelfall aber keine leichten, geschweige denn schwere Feldhaubitzen vorhanden waren,
  • nur unzureichend mit Kolonnen, insbesondere Munitionskolonnen, ausgestattet waren,
  • nur unzureichend mit den sogenannten Hilfswaffen ausgestattet waren,
  • nicht die Ausrüstung besaßen, die für den Kampf in vorderster Linie notwendig war.

 

Die Zuweisung zu Reservedivisionen war eine Billiglösung auf Kosten der Qualität. Im Krieg bedeutete dies eine verminderte Leistungsfähigkeit, geringere Erfolgsaussichten und höhere Verluste an Menschenleben.

 

Gleichwohl verstand es Kriegsminister v. Einem, in der Öffentlichkeit den Eindruck zu erwecken, ihm gehe es um die Qualität des Heeres. In Wahrheit ging es ihm allein darum, Ausgaben zu vermeiden. Höhere Ausgaben, die dem militärischen Bedarf Rechnung trugen, hätten zu direkten Steuern zu Lasten der "besitzenden Klassen" des Reiches führen müssen. Eine Finanzierung allein über Verbrauchsteuern war nicht ausreichend. Darum drehte sich die politische Diskussion im Reich seit 1900, soweit es um die Haushaltsdefizite ging. Das kann v. Einem nicht verborgen geblieben sein, da er sich bei seinen Anforderungen für das Heer gedanklich eingehend mit den Staatsfinanzen auseinandersetzte. Durch seine Selbst-beschränkung bei den Ausgabenforderungen sorgte er dafür, dass die Einführung direkter Steuern durch das Reich vermieden wurde.

 

Es blieb bis zum Kriegsausbruch 1914 dabei, dass überzählige Infanterieeinheiten den Reservedivisionen zugewiesen wurden. Der Widerspruch von Generalstabchef v. Schlieffen, der diese Zuweisung für einen Fehler hielt, wurde konsequent ignoriert.

 

 

77.  Folgen der Militärpolitik des Kriegsministers v. Einem

 

In den vorstehenden Abschnitten 5. und 6. sind Entscheidungen beschrieben, mit denen Kriegsminister v. Einem die Weiterentwicklung des Heeres unterband und die Schließung vorhandener Lücken beschränkte. Sie lagen auch noch dem Heeresgesetz 1911 zugrunde. Es waren Fehlentscheidungen. In ihnen liegt der Ursprung der deutschen Niederlage von 1914. Sie bedeuteten einen Abbruch der Heeresvermehrung 1893 in unvollendetem Zustand und zugleich einen Bruch mit der Militärpolitik der letzten 40 Jahre seit Beginn der Heeresreform König Wilhelms I. von Preußen. Das Heer blieb unfertig, eine steckengebliebene Baustelle. Das Ziel, den Bau eines Tages zu vollenden, hatte Kriegs-minister v. Einem nicht.

 

- 17 -

 

7.1

Über die militärischen Vorstellungen v. Einems geben zwei Dokumente Auskunft, die das Reichsarchiv im Jahre 1930 veröffentlicht hat. Sie sind militärisch fragwürdig bis unsinnig.

 

Als Chef der Armeeabteilung im Kriegsministerium schrieb v. Einem am 10. November 1899:

 

"... so hoch der Zahlenwert im Kriege auch ist, so würde es doch falsch sein, zu behaupten, ein Heer von 1.000.000 Soldaten sei einem solchen von 800.000 Mann überlegen. Ein Heer von 15 Armeekorps kann einem anderen von 8 Armeekorps allerdings durchaus als so überlegen bezeichnet werden, daß eine Aussicht auf Sieg ausgeschlossen gilt.

 

Aber 23 Armeekorps

(Fußnote 1 des Reichsarchivs: Deutschland)

 

gegenüber 25

(Fußnote 2 des Reichsarchivs: Frankreich)

 

können doch wahrlich nicht als der unterlegene Teil angesehen werden.... Der Herr Chef

                         

(des Generalstabs, also v. Schlieffen, der Aufsatzverfasser)

 

sagt, zu einer Offensive scheinen wir ... nicht vorbereitet zu sein. Diese Darlegungen sind aber nicht zutreffend ... Ich glaube, man kann mit vollem Recht sagen, daß noch nie eine Armee mehr zu einer Offensive vorbereitet gewesen ist als die heutige... Noch niemals sind einem Feldherrn 23 aktive Armeekorps für den Krieg zur Verfügung gestellt worden. Wenn er mit einem solchen Heer sich nicht stark genug wähnt für eine Offensive, dann werden auch einige Armeekorps mehr ihm das Gefühl des Vertrauens nicht geben können."

(Reichsarchiv, Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, Textband Seite 65/66)

 

Als Kriegsminister schrieb v. Einem im Herbst 1903 in eigenhändigen Aufzeichnungen:

 

"Erkennt man die Bildung neuer Armeekorps für den Kriegsfall als eine Notwendigkeit an, so muß man die Aufstellung neuer Divisionen in der Friedensorganisation allerdings auch als eine solche ansehen...

 

Liegt diese Notwendigkeit nun wirklich vor?

Der jetzige Chef des Generalstabs bejaht die Frage unbedingt...

 

Es ist ... sehr fraglich, ob ein kommender Chef des Generalstabs den von Gr.Schlieffen eingeschlagenen Weg weiter beschreiten wird. M.E. liegt der Gedanke nahe, daß der Nachfolger des Gr. Schlieffen auf Neuformationen innerhalb der aktiven Armee verzichtet und seinen Vorteil weniger in der Anzahl der Armeekorps als in deren festem Gefüge erblickt...

Die Frage der Notwendigkeit neuer Kriegs-Armeekorps wird also immer abhängig sein von dem subjektiven Ermessen des Chefs des Generalstabs der Armee..."

(Reichsarchiv, Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, I. Anlagenband, Erster Teil Dokumente, A., Dokument Nr. 23)

 

Das Ziel des Generalstabchefs v. Schlieffen, 27 Armeekorps mit 54 Divisionen zu bilden, wurde nicht erreicht. Kaiser Wilhelm II. und seine Kriegsminister wollten es nicht. Der Verzicht, Frankreich zahlenmäßig gewachsen zu sein, galt bis Kriegsausbruch 1914 fort.

 

- 18 -

 

Die Geschichte hat ihr Urteil darüber abgegeben, wer recht hatte. Der Feldzugsplan von General v. Moltke, dem Amtsnachfolger von General v. Schlieffen, scheiterte innerhalb der ersten sieben Kriegswochen. Die Hauptursache liegt darin, dass das deutsche Heer seinen Gegnern im Westen zahlenmäßig unterlegen war. Das Scheitern war vorhersehbar und wurde vorhergesehen.

 

Die Verantwortung für das Scheitern haben weder Kaiser Wilhelm II. noch seine Kriegs-minister übernommen.

 

7.2

Verfassungsmäßig zuständig, die Friedensstärke des Heeres zu bestimmen, war der Gesetz-geber. Er konnte seiner Aufgabe nur gerecht werden, wenn ihn der Kriegsminister in zutreffender Weise über die militärische Lage des Reiches unterrichtete. Bei der Heeres-vorlage 1905 ging es darum, die Friedensstärke für die nächsten 5 Jahre festzusetzen. Das war ein langer Zeitraum. Umso wichtiger war es, den Reichstag sachgerecht zu informieren. Dass v. Einem dies tat, ist zu verneinen.

 

In der Begründung der Heeresvorlage 1905

Entwurf eines Gesetzes, betreffend

die Friedenspräsenzstärke des deutschen Heeres

Reichstagsprotokolle 11. Legislaturperiode 1903/05,13

Anlage Nr. 502 vom 22. November 1904

http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k11_bsb00002819_00128.html

heißt es:

 

"Zwar nicht darum kann es sich handeln, allen möglichen Gegnern an Zahl überlegen oder auch nur gewachsen zu sein."

 

Vor dem Reichstag äußerte sich Kriegsminister v. Einem am 3. Dezember 1904 wie folgt:

 

"... Ich sehe auch davon ab, die Forderung

(der Heeresvorlage 1905, der Aufsatzverfasser)

zu rechtfertigen im Hinblick auf die starken Kräfte der uns benachbarten Militärstaaten;

denn diese Kräfte sind so erheblich, dass wir sie zahlenmäßig nie erreichen können...."

http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k11_bsb00002811_00105.html

(bereits in Teil A Abschnitt 2 zitiert)

 

Im geschichtlichen Rückblick wird erkennbar, dass es v. Einem hier um die zahlenmäßige Unterlegenheit gegenüber Frankreich ging.  Indem er die möglichen Gegner in West und Ost zusammenfaßte, vermied er es, die Unterlegenheit im Westen offen zu legen. Diese war aber im Kriegsfall entscheidend. Die Information darüber war ausschlaggebend, wenn man die militärische Lage des Reiches beurteilen wollte. Eine zahlenmäßige Unterlegenheit gegenüber Frankreich war ein Vabanquespiel.

 

Legt man eine formale Betrachtungsweise zugrunde, so hielt sich Kriegsminister v. Einem an die Verfassung. Die Heeresvorlage 1905 wurde dem Gesetzgeber zur Beschlußfassung vorgelegt. Die ausschlaggebende Entscheidung aber, dass die zahlenmäßige Überlegenheit Frankreichs nicht ausgeglichen werden sollte, hatte v. Einem im Jahre 1899 für seine Person getroffen und setzte sie als Kriegsminister in die Tat um. Er verhinderte eine Weiter-entwicklung der Heeresorganisation. Daran hielt er auch im Jahre 1909 fest. Dem Reichstag wurde keine Gelegenheit gegeben, darüber zu beraten und zu entscheiden. Mit dem Sinn und Zweck der Verfassungsbestimmung war das nicht vereinbar.

 

- 19 -

7.3

Den Zeitgenossen war nicht erkennbar, dass im Herbst 1903 grundlegende Entscheidungen über das Heer getroffen worden waren. Die Entscheidungen fielen im engsten Führungskreis des Heeres (Kriegsminister, Kaiser, Chef des Militärkabinetts - gegen den Generalstabchef). Die Öffentlichkeit vertraute auf eine Stärke des Heeres, die nicht vorhanden war. Die Kriegs-minister bestärkten diesen Glauben. Einzelne Kritiker gab es. Gegen die Kriegsminister kamen sie nicht an.

 

Immer wieder zu betonen ist, dass v. Einem den inneren Ausbau der vorhandenen 48 Divisionen, die in 23 Armeekorps zusammengefaßt waren, auf ein Minimum beschränkte. Eine scheinbare Rechtfertigung fand dies darin, dass ab dem Jahr 1904 Rußland in Ostasien durch den Krieg mit Japan in Anspruch genommen war. Ein Krieg mit Frankreich erschien daher unwahrscheinlich. Nach der Niederlage Rußlands galt dies erst recht.

 

Diese Überlegungen verstießen gegen den herkömmlichen preußischen Grundsatz, dass das Heer ohne Rücksicht auf politische Gegebenheiten kontinuierlich auszubauen war, also auch in Zeiten politischer Ruhe. Es geht nicht darum, dass v. Einem eine „große“ Heeresvermehrung hätte durchführen sollen, sondern um eine Größenordnung etwa in der Höhe der Heeres-verstärkung von 1912, verteilt auf 5 Jahre. Weil dies unterlassen wurde, mußte der Ausbau im Jahr 1913 in einer Gewaltaktion nachgeholt werden. Die vorhandenen internationalen Spannungen wurden dadurch verschärft. Das Reich setzte sich dem Vorwurf aus, einen Krieg vorzubereiten. Die Heeresvermehrung 1893 hatte Reichskanzler v. Caprivi bewußt in einer Zeit politischer Ruhe vorgenommen.

 

7.4

Die Ansicht v. Einems, die Finanzkraft des Reiches sei beschränkt, ist angreifbar. Ihm stand darüber kein Urteil zu. Zuständig waren Reichskanzler und Reichsschatzamt. Dem Reichs-kanzler gegenüber hatte der Kriegsminister die militärischen Erfordernisse zu vertreten und dessen Entscheidung einzuholen. v. Einem tat das Gegenteil. Er entschied, nicht der Reichskanzler. Eine Anregung des Reichskanzlers, das Heeresgesetz 1905 zu ergänzen, lehnte v. Einem ausdrücklich ab. Warum unterbreitete er dem Reichskanzler keine Vorschläge? Niemand hätte dem Kriegsminister einen Vorwurf machen können, wenn er unter Hinweis auf die technische Entwicklung bestimmte Einheiten neu angefordert hätte. Das Heeresgesetz 1905 wäre zu ergänzen gewesen. Eine rechtliche Notwendigkeit, es aufzuheben, bestand nicht. Die Kosten zusätzlicher Wehrpflichtiger wären geringer gewesen als die Kosten für die Abkommandierungen, mit denen v. Einem das Heer überzog, um provisorische Lösungen zu schaffen.

 

Der Gesetzgeber konnte dem scheinbaren Finanzmangel jederzeit abhelfen, indem er neue Steuergesetze beschloss. Dazu bedurfte es einer wahrheitsgemäßen Darstellung der militärischen Lage des Reiches, die ihm v. Einem nicht gab. Lehnte der Gesetzgeber Ausgaben für das Heer als nicht finanzierbar ab, so trug er dafür die verfassungsmäßige Verantwortung. Wie die Entscheidung ausfallen würde, ließ sich im vorhinein nicht absehen. Was den Reichstag anging, so stand er technischen Neuerungen aufgeschlossen gegenüber.

 

7.5

In einem Schreiben vom 6. Januar 1929 an das Reichsarchiv suchte General v. Einem sein Verhalten als einstiger preußischer Kriegsminister zu rechtfertigen (Reichsarchiv, Kriegs-rüstung und Kriegswirtschaft, Textband Fußnote 2 auf Seite 73/74). Er habe unter dem Druck von Reichsschatzamt und Reichskanzler gehandelt. Allgemein anerkannt sei gewesen, dass die Finanzlage des Reiches sehr ungünstig sei.

 

- 20 -

 

Die Argumente v. Einems wurden in den vorstehenden Ausführungen berücksichtigt. Der Erfolg ist ihnen zu versagen. v. Einem handelte bei seiner Beschränkung des Heeresausbaus aus eigener Überzeugung. Bemühungen, den Ausbau des Heeres gegen die vorhandenen politischen Widerstände voranzutreiben, hat er nirgends nachgewiesen. An v. Einem als Kriegsminister ist v. Schlieffen gescheitert, nicht am Reichskanzler.

 

v. Einem zog als Kriegsminister Entscheidungen entgegen der verfassungsmäßigen Rechts-lage an sich. Für diese ist er verantwortlich, und daran muss er sich festhalten lassen.

 

7.6

Ein künftiger Krieg war als Zweifrontenkrieg im Westen gegen Frankreich und im Osten gegen Russland zu erwarten. Zwischen Frankreich und Russland bestand ein Bündnis, das zu einer engen militärischen Zusammenarbeit führte. Die Operationspläne der Generalstäbe wurden aufeinander abgestimmt. Für Frankreich war entscheidend, dass Rußland die Mittelmächte sofort bei Kriegsausbruch (und nicht erst mit Verzögerung von einigen Wochen) angriff. Das erforderte einen Ausbau der russischen Eisenbahnen. Er wurde durch französische Kredite finanziert.

 

Durch den Hinzutritt Englands, der damals einzigen Weltmacht, im Jahre 1904 ("Entente Cordiale" mit Frankreich) und im Jahre 1907 (Ausgleich Englands mit Russland) erhielt das Bündnis eine entscheidende Verstärkung. Man sprach nunmehr von der "Triple-Entente". Auf britischer Seite war man sich klar darüber, dass das eigene Expeditionskorps mit seinen (maximal) sechs Divisionen das Zünglein an der Waage darstellte. Die "Entente Cordiale" war kein formales Militärbündnis zwischen Frankreich und England, jedoch bestanden detaillierte militärische Absprachen für einen Kriegsfall, in dem England auf die Seite Frankreichs treten würde.

 

Generalstabchef v. Schlieffen sah die militärische Lage des Reiches im Westen als ungünstig an, selbst wenn man die Gefahr eines Zweifrontenkrieges außer acht lasse. Bei seinen Kriegsspielen rechnete er mit Armeekorps, die auf dem Papier standen (Ludendorff, Mein militärischer Werdegang, In der Aufmarsch- 2. Deutschen Abteilung, Sektionschef in der Aufmarschabteilung, Seite 102). Nur dadurch kam er zu - theoretischen - Erfolgen über die französische Armee.

8. Generalstabchef Helmuth v. Moltke (der Jüngere) (1906 – 1914)

    Keine  Erweiterung der Friedens-Heeresorganisation

Der Amtsnachfolger v. Schlieffens, der neue Generalstabchef v. Moltke (seit 1.1.1906), bemühte sich 7 Jahre lang nicht darum, neue Divisionen und Armeekorps zu erhalten. v. Moltke war kein Mann des Konflikts, und derartige Bemühungen hätten zu einem Konflikt mit dem Kriegsminister geführt. In einem Schreiben vom 12. April 1907 an den Kriegsminister (Entwurf Oberst Hermann Stein) gestand v. Moltke zu,

 

„dass der Rahmen der Armee auf längere Zeit als stetig angesehen werden kann“.

(Reichsarchiv, Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, I. Anlagenband, Erster Teil A. Dokumente, Nr. 33)

 

Der Satz enthält jedoch zugleich eine Forderung nach dem inneren Ausbau des Heeres so-wie der Weiterentwicklung der „Hülfswaffen“ und der zeitgemäßen Kriegsmittel. Das wird im folgenden mehrseitigen Text des Schreibens ausführlich dargestellt. Man muss den Verzicht auf eine Weiterentwicklung der Heeresorganisation im Zusammenhang mit den Ausbau-forderungen sehen. Der Generalstabchef wollte keine unerfüllbaren Forderungen stellen. Die Forderungen wurden bis Kriegsausbruch 1914 nicht vollständig erfüllt.

 

- 21 -

 

8.1

v. Moltkes Ausweg aus der militärischen Schwäche des Reiches bestand darin, weitere Reservedivisionen für den Kriegsfall zu fordern. Das Kriegsministerium zögerte, da die verfügbaren Reservisten (gediente Wehrpflichtige bis zur Vollendung des 28. Lebensjahres) dazu nicht ausreichten, gab aber schließlich der Forderung nach. Man griff auf die ersten drei Jahrgänge Landwehr (gediente Wehr-pflichtige vom 28. bis zum 30. Lebensjahr) zu. Die Reservedivisionen von 1914 bestanden teils aus Reservisten, teils aus Landwehrleuten. Die Kriegsformation des Heeres von 1914 war überaltert.

 

Was hier geschah, war eine Erhöhung der Kriegsstärke des Heeres "durch die Hintertür".  Die Erhöhung "durch die Vordertür", nämlich durch die Bildung neuer Friedensdivisionen unter Einschaltung des Gesetzgebers für ihre Ausstattung, wurde durch Kriegsminister v. Einem gesperrt. Die Aufstellung neuer Reservisten-Bataillone und ihre Zusammenfassung zu höheren Einheiten bis hin zu neuen Reserve-divisionen und Reservekorps bedurfte keiner Bewilligung durch den Gesetzgeber, von dem erforderlichen Sachaufwand abgesehen. Sie konnte der Kaiser allein bestimmen, da die Kriegsformation des Heeres in seiner Zuständigkeit lag, § 6 des Reichsmilitärgesetzes vom 2. Mai 1874.

 

8.2

In den Jahren von 1905 bis 1910 wurden 8 Reservedivisionen neu aufgestellt. Sie enthielten "überzählige" Friedens-Brigaden und Friedens-Regimenter, bestanden aber zum über-wiegenden Teil aus  neu gebildeten Reservisteneinheiten. Deren Zahl wird hier mit 54 Reservisten-Bataillonen angenommen. Generalstabchef v. Moltke bestimmte sämtliche neuen Reservedivisionen zum Einsatz im Westen. Ohne sie wäre die militärische Lage des Reiches bereits im Jahre 1910 aussichtslos gewesen. Von einer Gleichwertigkeit mit den Friedens-divisionen kann aber keine Rede sein, siehe vorstehend Abschnitt 6.8.

 

Insgesamt gab es bei Kriegsausbruch 1914 28 Reservedivisionen.

 

8.3

Die Forderungen des Generalstabs an das preußische Kriegsministerium zielten außerdem auf eine Verbesserung und Vereinheitlichung der Reserveformationen ab.

 

(Reichsarchiv, Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, I. Anlagenband, Erster Teil A. Dokument Nr.  34)

 

Generalstabchef v. Schlieffen entschloss sich in den letzten Jahren seiner Amtszeit dazu, die Reservetruppen in derselben Weise zu verwenden wie die Friedensdivisionen, sie also vom ersten Kriegstag an zum Kampf in vorderster Linie einzusetzen. Das hatte es in früheren Kriegen nicht gegeben. Es war ein hohes militärisches Risiko. v. Schlieffens Nachfolger v. Moltke übernahm diese Verwendung der Reserveformationen in seinem Aufmarschplan. Das Ziel war es, die französische Armee im Norden Frankreichs im freien Felde zu schlagen (sogenannter Schlieffenplan). Dazu mußten die Reservedivisionen Seite an Seite mit den aktiven (= Friedens-) Divisionen eingesetzt werden. 

 

Der beabsichtigten Kriegsverwendung stand entgegen, dass der Zustand der im Jahr 1905 vorhandenen Reserveformationen dafür nicht geeignet war. Soweit es Reservedivisionen gab, konnte man sie nicht als wirkliche Divisionen ansprechen. Der Generalstab forderte Abhilfe. 

 

- 22 -

 

An einer Verbesserung der Reserveformationen, um sie zu wirklichen Divisionen zu machen, wurde Jahre hindurch gearbeitet. Es ging  um die Zusammensetzung der Reservedivisionen, um die Ausstattung mit Feldartillerie, um eine Verbesserung der Ausrüstung, um vermehrte Reserveübungen, um eine Erhöhung der Zahl der aktiven Offiziere, namentlich der Hauptleute in den Reservedivisionen, und anderes mehr. Durch organisatorische Maßnahmen sollte es möglich werden, die Reservedivisionen generalstabsmäßig zu führen. Dazu gehörte die Schaffung von Divisionsstäben, und schließlich, im Jahr 1910, die Schaffung von Reserve-Generalkommandos.  Der Erfolg der Bemühungen stellte den Generalstab nur teilweise zufrieden. Dass auch hier der chronische Geldmangel des Reiches ein Hindernis darstellte, versteht sich von selbst.

 

Eine einheitliche Zusammensetzung und Gliederung der Reservedivisionen sowie eine befriedigende Ausstattung und Munitionsversorgung wurden bis Kriegsausbruch 1914 nicht erreicht.

 

8.4

Der Generalstab forderte, die für den Kriegsfall vorgesehenen Ersatzeinheiten zu verbessern und Formationen aus dem Ersatzheer aufzustellen. Generalstabchef v. Schlieffen wollte Ersatzkorps haben, denen er im Krieg Aufgaben zuweisen konnte. Er meinte, man müsse für den Erstschlag des deutschen Heeres alle vorhandenen Truppen heranziehen. Dazu zählte er auch das Ersatzheer.

 

Im Kriegsfall hatten alle Infanterieregimenter Ersatzbataillone aufzustellen. Sie bestanden zu etwa 40 % aus ungedienten Wehrpflichtigen, um die Kriegsausfälle möglichst durch junge Leute zu ersetzen. Der Generalstab wollte eine Verbesserung, die er in der ausschließlichen Verwendung gedienter Wehrpflichtiger sah. Dann konnte man sie bei Bedarf im Kampf einsetzen und erforderlichenfalls auch zu größeren Formationen zusammensetzen. Das Kriegsministerium stimmte schließlich der geforderten Zusammen-setzung zu. Es ergaben sich Schwierigkeiten; auch fehlte das Geld zur Ausstattung der Bataillone.

 

Aus dem Ersatzheer stellte das Kriegsministerium im Jahr 1912 dem Generalstabchef für den Kriegsfall 86 mobile Infanterie-Bataillone zur Verfügung. Sie sollten zu 19 mobilen Ersatz-Brigaden zusammengefaßt werden, denen Einheiten anderer Waffengattungen hinzugefügt wurden. Die Brigaden unterstanden sechs "Ersatzkommandeuren zu besonderer Verwendung". Sie waren für einen (nicht vorhersehbaren) Notfall gedacht, z. B. für den Fall einer möglichen britischen Truppenlandung in Dänemark mit Marschziel Kiel. Festgelegt war diese Verwendung aber nicht. In einer Denkschrift vom 21. Dezember 1912 nahm der Generalstabchef einen Kräftevergleich der Streitkräfte der Mittelmächte mit denen der Triple-Entente vor. Darin werden auch diese 86 Ersatz-Bataillone aufgeführt, und zwar bei den deutschen Streitkräften im Osten, jedoch in Klammern (siehe Anlage zu Aufsatz 7). Das ist ein Beleg dafür, dass eine Verteidigungskonzeption für den Osten des Reiches möglich war, ohne den Teil des Heeres, der für den Krieg im Westen vorgesehen war, in Anspruch zu nehmen.

 

Die Bildung von Ersatz-Regimentern, von Ersatz-Divisionen und von Ersatz-Korps lehnte der Kriegsminister ab. Der Generalstab erfand für die "Ersatzkommandeure zu besonderer Verwendung" die Bezeichnung "Ersatz-Divisionen", die unzutreffend war. Das Kriegsministerium hielt die Ersatz-Brigaden nicht für einen Kriegseinsatz geeignet. Eingesetzt wurden sie dennoch. Im August 1914 verwandte Generalstabchef v. Moltke die Ersatz-Brigaden - rund 100.000 Mann - zur Verstärkung des linken Heeresflügels in Elsaß-Lothringen statt im Osten.

 

Die sofortige Heranziehung des Ersatzheeres zum Einsatz im Krieg 1914 zeigt die militärische Schwäche des Deutschen Reiches, entgegen allen Verlautbarungen des Kriegsministers.

 

- 23 -

 

8.5

Presse und Generalstab regten die Ausbildung von Ersatz-Reservisten an. Von den vorhandenen Wehr-pflichtigen wurde schätzungsweise die Hälfte tatsächlich zum Grundwehrdienst herangezogen. Das reichte nicht aus, um den militärischen Bedarf zu decken. Daher sollten ungediente Wehr-pflichtige drei Jahre nacheinander zu Ersatzübungen  von 10, 6 und 4 Wochen Dauer herangezogen werden (Ludendorff, Mein militärischer Werdegang, Vom Leutnant bis zum Hauptmann im Generalstabe, Fußnote auf Seite 10).  Dann waren im Kriegsfall militärische Grundkenntnisse vorhanden, auf denen man weiterbauen konnte. Es war dies die kostengünstigste Form, zusätzliche Wehrpflichtige auszubilden, und es war eine Alternative,  die allgemeine Wehrpflicht vollständig durchzuführen, ohne die Bevölkerung übermäßig zu belasten. Bis zur Heeres-vermehrung 1893 hatte es solche Ersatz-Reservisten gegeben. Kriegs-minister v. Heeringen und sein Stellvertreter Franz Wandel lehnten aber eine Ausbildung ungedienter Ersatz-Reservisten ab, zuletzt am 9. April 1913 vor dem Reichstag.

www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k13_bsb0003385_00154.html

Nach Kriegsausbruch 1914 sollte sich dies als Fehler erweisen.

 

 

9. Heeresverstärkung 1912/Flottenvorlage 1912

     Zwei neue Divisionen und zwei neue Armeekorps

Im Jahr 1912 wurde die Heeresorganisation weiter entwickelt. Der Anstoß dazu kam von auswärts.

 

Die zweite Marokkokrise hatte im Jahr 1911 die militärische Schwäche des Reiches deutlich werden lassen. England hatte sich auf die Seite Frankreichs gestellt und das Reich hatte vor seinen Gegnern zurückweichen müssen. Das war eine schwere außenpolitische Niederlage. Als Folgerung hieraus entschied sich der Staatssekretär im Reichsmarineamt, v. Tirpitz, zu einer Flottenvorlage an den Gesetzgeber. Sie war zuvor nicht beabsichtigt gewesen.  Nur widerstrebend gab der Reichskanzler v. Bethmann Hollweg seine Zustimmung. Kriegs-minister v. Heeringen zog mit einer Heeresvorlage nach, anscheinend auf Veranlassung des Reichskanzlers. Der Kaiser erteilte ihm Weisungen. Im Gesetzgebungsverfahren wurden Heeresvorlage und Flottenvorlage unmittelbar nacheinander behandelt, in dieser Reihenfolge. Auf die amtliche Begründung der Heeresvorlage wird in Abschnitt 18.3 eingegangen.

 

9.1

Zum 1.10.1912 bildete Kriegsminister v. Heeringen in der Friedensgliederung des Heeres zwei neue Divisionen, die 41. im Osten, die 42. im Westen des Reiches, jeweils in einer Region, in der im Kriegsfall mit alsbaldigen Kämpfen zu rechnen war. Das waren Formationen, die Kriegsminister v. Goßler bereits im Jahre 1902 beabsichtigt hatte, siehe vorstehenden Abschnitt 4 des Aufsatzes (Bildung 3. Divisionen beim XVI. und XVII. Armeekorps in Metz und Danzig).

 

Zur Bildung der beiden neuen Divisionen wurde das Heer 1912 teilweise neu gegliedert. Bei der Infanterie wurden bestehende überzählige (fünfte) Brigaden und Regimenter zu Divisionen als übergeordnete Einheiten zusammengefügt. Einige fehlende Bataillone wurden ergänzt, bestehende Kavallerieeinheiten den neuen Divisionen zugeordnet. Es wurden Truppeneinheiten bei insgesamt sieben Armeekorps neu gegliedert.

 

Weiterhin bildete v. Heeringen zwei neue Armeekorps. Sie mußten vom Gesetzgeber bewilligt werden.

 

Das I. Armeekorps in Ostpreußen und das XIV. Armeekorps in Baden hatten bisher jeweils drei Divisionen. Jedes Korps mußte eine Division hergeben. Aus diesen Divisionen und aus je einer der beiden neuen Divisionen wurden zwei neue Armeekorps gebildet, das XX. Armeekorps in Ostpreußen und das XXI. Armeekorps in Lothringen/Saarland.

 

- 24 -

 

 

Anstelle von bisher sieben Armeekorps traten in deren Korpsbezirken nunmehr neun Armeekorps. Schematische Darstellungen der Vorgänge enthalten die Anlagen zu Aufsatz 4 auf dieser Internetseite.

 

Die Organisationsstruktur des Heeres wurde durch die Neugliederung gestärkt. Kriegsminister v. Einem hatte gemeint, dass die Stärke der Organisation und die Zahl der höheren Verbände in einem Gegensatz zueinander stünden. Das war nicht richtig. Die Stärke der Heeres-organisation lag in ihrer Einheitlichkeit, und wenn man eine Stärke der Organisation haben wollte, war die Einheitlichkeit Voraussetzung. Darum war die Bildung der beiden neuen Divisionen und Armeekorps angebracht gewesen.

 

Die Bedeutung und Wichtigkeit einer einheitlichen Heeresorganisation hatte Kriegsminister v. Einem niemals verstanden. Dem Generalstabchef v. Schlieffen war sie ein zentrales Anliegen gewesen.

 

Kriegsminister v. Heeringen handelte 1912 im Sinne v. Schlieffens.

 

9.2

Die neuen Divisionen und Armeekorps erhielten, was sie brauchten, um vollwertige Kampf-einheiten zu werden - Artillerie, Pioniere, Train, und Ausrüstung. Darauf hatte Kriegsminister v. Heeringen bestanden. Die Einheiten für die genannten Waffen mußten neu aufgestellt werden. Bei der Feldartillerie waren das 24 Batterien, teils Kanonen-Batterien 96 n.A. (Modell 1896 neuer Art) und teils leichte Feldhaubitzen 98/09 (Modell 1898/1909). Die Aufstellung bedurfte der Bewilligung durch den Gesetzgeber; diese wurde mit dem Heeresgesetz 1912 (Reichsgesetzblatt 1912 Seiten 389/390) ausgesprochen. Dasselbe gilt für die zu ergänzenden Infanterie-Bataillone. Auch die beiden neuen Armeekorps wurden vom Gesetzgeber bewilligt.

 

Das Ziel des Kriegsministers v. Heeringen war es gewesen, die Kriegsbereitschaft und Schlagkraft des Heeres zu erhöhen. Er erreichte es in dem Rahmen, den er sich selbst vorgegeben hatte. Die neuen Divisionen  und Armeekorps ermöglichten einen bruchlosen Übergang von der Friedensgliederung in die Kriegsformation. Zuvor war ihre Aufstellung erst im Kriegsfall vorgesehen gewesen, und zudem ohne die erforderliche Ausstattung. Die Aufstellung bereits im Frieden war eine wesentliche Qualitätsverbesserung.

 

Das Heer zählte nunmehr 50 Friedens-Divisionen - 6 bayerische, 2 preußische Garde-Divisionen und 36 weitere preußische Divisionen (die aber auch die badischen Truppen und Truppen aus Elsaß-Lothringen mit einschlossen) sowie 4 sächsische und 2 württembergische Divisionen. Im Kriegsfall kam eine weitere Gardedivision aus bestehenden überzähligen und aus neu gebildeten Einheiten hinzu. Die Friedensgliederung des Heeres läßt sich in Stechert´s Armee-Einteilung „Deutsches Reichsheer“ 369. Auflage 1914 finden oder in den Tabellen 16 bzw. 17 des Reichsarchivs, Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, I. Anlagenband, Dritter Teil. Tabellen und Skizzen.

 

Man kann sagen, dass die Kriegsbereitschaft des Heeres erst im Jahre 1912 hergestellt wurde. Bis dahin war sie zweifelhaft gewesen. Es blieben aber weiterhin Lücken in der bestehenden Heeresorganisation und schwerwiegende Mängel.

 

- 25 -

 

9.3

Die Verstärkung der kaiserlichen Kriegsmarine sollte bis zum Jahr 1917 verwirklicht werden. Zu ihrer militärischen Einordnung sind zu vergleichen:

 

  • Das 2. Flottengesetz vom 14. Juni 1900 (Reichsgesetzblatt 1900 Seite 255 ff) sah für die Schlachtflotte

2 Flottenflaggschiffe

4 Geschwader zu je 8 Linienschiffen vor.

  • Die Flottennovelle vom 14. Juni 1912 (Reichsgesetzblatt 1912 Seite 392) sah für die Schlachtflotte

1 Flottenflaggschiff

5 Geschwader zu je 8 Linienschiffen vor.

 

Das bedingte den Neubau von 3 Linienschiffen und 2 kleinen Kreuzern. Im Übrigen sollten die erforderlichen Schiffe durch Einsparung des Reserveflottenflaggschiffs und durch einen Verzicht auf die zur Zeit vorhandene Materialreserve (4 Linienschiffe) gewonnen werden.

 

Zur Begründung führte Staatssekretär v. Tirpitz, an, dass die Kriegsbereitschaft der Schlacht-flotte gesteigert werden müsse. Bisher gab es zwei aktive und zwei Reserve-Geschwader. In Zukunft sollte es drei aktive Geschwader und zwei Reserve-Geschwader geben. Die Begrün-dung ist zu finden in der

 

"Novelle zu den Gesetzen,

betreffend die deutsche Flotte vom 14. Juni 1900 und 05. Juni 1906"

Reichstagsprotokolle 13. Legislaturperiode

1912/14,17 Anlage Nr. 353 vom 15. April 1912

http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k13_bsb00003395_00034.html

 

Im Jahr 1914 zählte die aktive Schlachtflotte 21 Großkampfschiffe.

 

Diese Flottennovelle war in Wahrheit ein 3. Flottengesetz. Reichskanzler v. Bethmann-Hollweg hatte zuvor mit Lord Haldane Gespräche über eine Begrenzung der Flottenstärke des Reiches und des Empire geführt.  Sie waren ohne Ergebnis geblieben. Der eigentliche Streitpunkt war nicht die beiderseitige Flottenstärke. Vielmehr konnte das Deutsche Reich für eine Begrenzung  seiner Flottenstärke vom britischen Empire keine Gegenleistung erlangen. Dazu war der militärische Machtverfall des Reiches zu weit fortgeschritten. v. Bethmann Hollweg hätte dennoch versuchen müssen, mit dem Empire zu einer vertraglichen Regelung zu gelangen. Die sogenannte Flottennovelle war eine offene Herausforderung Englands. Das Deutsche Reich hat den Rüstungswettlauf zur See mit Großbritannien bis Kriegsausbruch 1914 fortgesetzt. Das Widersinnige lag darin, dass die Absicht Englands, im Kriegsfall eine Fernblockade durchzuführen, erkennbar war und erkannt wurde. Dagegen konnte die deutsche Schlachtflotte nichts ausrichten. Ihre erneute Verstärkung war sinnlos.

 

9.4

Die Finanzierung der Heeres- und Flottenverstärkung 1912 gestaltete sich schwierig, da der Staatshaushalt 1912 in Einnahmen und Ausgaben ausgeglichen sein sollte. Eine Kredit-aufnahme sollte vermieden werden. Die Reichsleitung wollte die Mehrausgaben mit Hilfe indirekter Steuern - Verbrauchsteuern - auffangen. Dazu veröffentlichte das Reichsschatzamt eine Denkschrift als Anlage C eines Entwurfes zur Ergänzung des Etatgesetzes 1912.

 

Reichstagsprotokolle 13. Legislaturperiode, 1912/14,17 Anlage Nr. 354

http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k13_bsb00003395_00052.html

 

Der Reichstag stellte jedoch eine Deckungslücke fest, die gestopft werden mußte.

 

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Soweit man allgemeine Aussagen treffen kann, läßt sich folgendes sagen:

 

  • Aus dem Jahr 1911 standen Haushaltsüberschüsse zur Verfügung, die man zur Finanzierung verwenden konnte. Diese waren entstanden, da sich die Einnahmen 1910 und 1911 günstiger entwickelt hatten als vom Reichsschatzamt veranschlagt.

 

  • Es lief zu einem erheblichen Teil auf eine Finanzierung durch indirekte Steuern hinaus. Bei der Branntweinsteuer wurden Änderungen beschlossen, die zu einem erhöhten Aufkommen führen sollten. Eine gesetzlich festgelegte Reduzierung der Zuckersteuer wurde zeitlich hinausgeschoben.

 

  • Die Mehrheit des Reichstages wollte die Finanzierung der zukünftigen Mehrausgaben durch eine Besitzsteuer gesichert sehen und ergriff zu diesem Zweck eine Gesetzgebungs-initiative. Die entscheidende Aussage lautete:

 

Dem Reichstag war bis zum 30.04.1913 ein Gesetzentwurf über eine "allgemeine, den verschiedenen Besitzarten gerecht werdende Besitzsteuer" vorzulegen.

 

Der Bundesrat stimmte dem Beschluss des Reichstages zu. Dadurch kam es zu dem

 

"Gesetz über die Deckung der Kosten der Verstärkung von Heer und Flotte" vom 14. Juni 1912, Reichsgesetzblatt 1912 Seite 393

 

Das Gesetz wird allgemein nach seinen Urhebern im Reichstag Lex Bassermann-Erzberger genannt.

 

Damit war eingetreten, was die Reichsleitung hatte vermeiden wollen: Zur Finanzierung der Rüstungs-mehrausgaben sollte eine direkte Reichssteuer eingeführt werden.

 

9.5

Im Reichshaushalts-Etat 1912 (Reichsgesetzblatt 1912 Seite 323 ff) wird zwischen fortdauernden und einmaligen Ausgaben unterschieden. Bei den letzteren handelt es sich um Investitionen, also um Sachkosten.

 

Die einmaligen Ausgaben für das Reichsheer betrugen - unter Berücksichtigung der Heeresverstärkung 1912 - 142.617.903 Mark. Die einmaligen Ausgaben für die Kaiserliche Marine unter der Überschrift "Schiffsbauten und Armierungen usw." betrugen 281.035.900 Mark. Es wurde im Jahr 1912 doppelt so viel in die Marine investiert wie für das Heer. 

 

Betrachtet man das Verhältnis der fortdauernden Ausgaben zu den einmaligen Ausgaben, so ergibt eine überschlägige Schätzung: bei den Rüstungsausgaben für die Marine entfielen 60 % auf Investitionen, beim Reichsheer waren es 18 %. Der Schwerpunkt der Investitionen lag eindeutig bei der Marine. Die Investitionen in das Heer waren zu niedrig. Wollte man die Höhe der Investitionen für die Marine beibehalten, so ließen sich die Investitionen für das Heer nur steigern, wenn man neue Steuern einführte.

 

- 27 -

 

9.6

Die mitgeteilten Zahlen zeigen den politischen Vorrang der Kriegsmarine vor dem Reichsheer. Es wird behauptet, dass das Heer bei der Verstärkung von 1912 vorrangig bedacht wurde. Dies ist jedoch zweifelhaft. Kriegsminister v. Heeringen nahm bei seiner Heeresvorlage auf die Marine Rücksicht. Er war von der Notwendigkeit einer starken Kriegsmarine überzeugt. Sein jüngerer Bruder August v. Heeringen war einer der engsten Mitarbeiter des Staatssekretärs im Reichsmarineamt, v. Tirpitz, gewesen und bekleidete in den Jahren 1911 bis 1913 das Amt eines Chefs des Admiralstabes.

 

War es sinnvoll gewesen, einen entschiedenen Befürworter der Schlachtflotte zum Kriegs-minister zu ernennen? Die Fähigkeiten von Josias v. Heeringen als Kriegsminister werden mit dieser Frage nicht in Zweifel gezogen.

 

 

10. Artillerievermehrung 1912/1913 und Munitionsmangel

In dem Zeitraum von 1904 bis 1911 kam es zu keiner Vermehrung der Feldartillerie. Wie in Abschnitt 5.1 ausgeführt, lehnte Kriegsminister v. Einem dies ab, weil angeblich fast zuviel Feldartillerie vorhanden sei. Unter Kriegsminister v. Heeringen trat ab 1912 ein Kurswechsel ein, der bei den 50 Friedens-Divisionen zu einer erheblichen Erhöhung der Feuerkraft des Heeres führte. Weil es an Munition fehlte, blieb im Krieg die erstrebte Wirkung aus.

 

10.1

Für den Zeitraum vom 1.4.1911 bis zum 31.3.1916 war im Heeresgesetz 1911 (Reichs-gesetzblatt 1911 Seite 99) eine Verstärkung um 18 Batterien vorgesehen. Sie wurde im Jahr 1912 durchgeführt. Es ging um die beiden fehlenden Regimenter bei der 37. und 39. Division und die Hälfte der bei den 6 bayerischen Divisionen fehlenden Batterien. Neu hinzu kamen aufgrund des Heeresgesetzes 1912 (Reichsgesetzblatt  1912 Seite 389) 24 Batterien für die beiden neuen Divisionen des Jahres 1912. Insgesamt wurden im Jahr 1912 24 Kanonen-Batterien und 18 Batterien leichter Feldhaubitzen neu aufgestellt. Das waren 252 neue Geschütze.

 

10.2

Zu einer weiteren Verstärkung der Feldartillerie kam es im Rahmen der Heeresverstärkung 1913, zu der Ausführungen in den Abschnitten 13 bis 15 folgen. Kriegsminister v. Heeringen (1909 - 1913) wollte die Ausstattung des Heeres mit materiellen Streitmitteln verbessern. Die 1913 bewilligten Geldmittel

 

71.558.862 Mark für Artillerie- und Waffenwesen wurden im Reichshaushaltsetat vom 4. Mai 1913 als fortdauernde Ausgaben ausgewiesen

71 Millionen Mark wurden in der Heeresvorlage 1913 des Kriegsministers v. Heeringen als einmalige Ausgaben für Artillerie- und Waffenwesen vorgesehen

 

erlaubten es ihm, eine Anzahl von fahrenden Kanonen-Batterien in Batterien leichter Feld-haubitzen umzuwandeln und zusätzliche Batterien leichter Feldhaubitzen aufzustellen. Deren Anzahl wurde auf diese Weise fast verdoppelt. Der Generalstab hatte sich bereits im Jahr 1907 für diese Maßnahme ausgesprochen (Schreiben vom 12. April 1907 an den Kriegsminister v. Einem, siehe dazu eingangs von Abschnitt 8). Die letzten Lücken bei der bayerischen Feld-artillerie wurden 1913 geschlossen.

 

Die Feldhaubitzen sollten eine qualitative Überlegenheit der deutschen Feldartillerie über die französische Feldartillerie herbeiführen. Es gab sie jedoch nur bei den Friedens-Divisionen.

 

- 28 -

 

Die Reserve-Divisionen hatten - mit Ausnahme von zwei Abteilungen - keine Feldhaubitzen erhalten. Die langjährige Abstinenz des Kriegsministers v. Einem von einer Vermehrung der Feldartillerie führte dazu, dass eine derartige Ausstattung vor Kriegsausbruch 1914 nicht mehr durchgeführt wurde.

 

10.3

Zum Jahresanfang 1914 war jede der 50 Friedens-Divisionen mit 9 fahrenden Kanonen-Batterien 96 n.A. und mit 3 Batterien leichten Feldhaubitzen 98/09 ausgerüstet. Damit war erstmals eine einheitliche Feldartillerie-Ausstattung aller Friedensdivisionen erreicht worden. Sie brauchten im Kriegsfall keine Reserveartillerie mehr. Bei 10 Armeekorps gab es  zusätzlich reitende Kanonen-Batterien, insgesamt 33 an der Zahl, jede Batterie zu 4 Geschützen.

 

Durch die Vermehrung der Feldhaubitzen wurden Feldkanonen frei. Aus ihnen sollten in der Zukunft neue Reserve-Artillerieeinheiten aufgestellt werden. Auch dies hatte der Generalstab bereits 1907 gefordert (Schreiben vom 12. April 1907 an den Kriegsminister, zitiert bereits eingangs von Abschnitt 8). „Die freiwerdenden Kanonen sind zur Aufbesserung der Reserveartillerie nicht nur erwünscht, sondern dringend nötig.“ Gefruchtet hatten diese Ausführungen nicht.  Bei einer früheren Umstellung von Kanonen-batterien auf Feldhaubitzen hätten die Reserve-Divisionen bei Kriegsausbruch 1914 eine stärkere Feldartillerie gehabt.

 

10.4

Die Geschütze brauchten Munition. Dazu veröffentlichte General Ludendorff im Jahr 1920 einige Schreiben, die der Generalstab in den Vorkriegsjahren an das Kriegsministerium richtete („Urkunden der Obersten Heeresleitung, I. Friedensarbeit für die Verstärkung der deutschen Wehrkraft“). Sie gelten als grundlegend, wie es um die Munitionsausstattung des deutschen Heeres bestellt war. Soweit nichts anderes vermerkt, sind die nachfolgenden Zitate diesen Urkunden entnommen. Das wichtigste Dokument ist als Anlage zu Aufsatz 5 wiedergegeben. Es sah düster aus. Die Munitionsversorgung war die Achillesferse des deutschen Heeres.

 

Der Generalstab hatte in einem Schreiben vom 28.1.1909 an das Allgemeine Kriegsdeparte-ment (das war die II. Abteilung des Kriegsministeriums) darauf hingewiesen, dass im Krieg bei der Feldartillerie Munitionsmangel vorauszusehen war (Dokument 1). Durchgreifende Maß-nahmen dagegen erfolgten bis zum Kriegsausbruch 1914 nicht. Der Mangel blieb bis Kriegsausbruch 1914 bestehen und leistete im Krieg einen wesentlichen Beitrag zur deutschen Niederlage.

 

10.5

Bei den leichten Feldhaubitzen - sie machten 1914 ein Viertel der Feldartillerie der aktiven (= Friedens-) Divisionen aus - war die Munitionsmenge, welche die Truppe im Kriegsfall bei sich führte, ungenügend:

 

"Die leichte Feldhaubitze hat eine ganz ungenügende Munitionsausrüstung beim Armeekorps. An der Verbesserung wird gearbeitet, auch nach ihrer Durchführung bleibt die Schusszahl pro Armeekorps nur eine äußerst geringe."

 

So Generalstabchef v. Moltke in einem Schreiben an das Kriegsministerium vom 1.11. 1912 über die Munitionsausrüstung des Heeres (Dokument 9). Der Entwurf stammt, soweit ersichtlich, vom Leiter der 2. Deutschen Abteilung, Oberst Ludendorff. In einem früheren Schreiben (vom 6.1.1912, Dokument 8) wird von 4.286 Schuß Munition pro Armeekorps, das sind bei 18 Geschützen 238 Schuß je Geschütz, gesprochen.

 

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Erschwerend kam hinzu, dass die Anzahl der Batterien leichter Feldhaubitzen  in den zwei Jahren 1912 und 1913 von 63 (um 18 + 69) auf 150 erhöht wurde (siehe vorstehend 10.2). Dem konnte die Herstellung von  Munition nicht folgen:

 

"Die Vermehrung der Bewaffnung mit leichten Feldhaubitzen machte eine Verdoppelung der Feldhaubitz-Munitionskolonnen erforderlich. Sie war bis Kriegsbeginn 1914 erst teilweise durchgeführt."

 

So schreibt es das Reichsarchiv in seinem Werk "Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft", I. Anlagenband, Zweiter Teil, IV. Von 1912 bis 1914, Feldartillerie, Seite 428.

 

Die Armeekorps führten also bei Kriegsausbruch 1914 für die leichten Feldhaubitzen nicht einmal die vorgesehene Anzahl von Munitionskolonnen, die eine ungenügende Munitions-ausstattung darstellte, bei sich. Schlimmer konnte es kaum kommen.

 

Man muss sich vergegenwärtigen, dass in den Jahren 1912 und 1913 mehr als 10 % der Geschütze der Feldartillerie für die Friedensdivisionen ausgewechselt wurden oder ihre Anzahl erhöht wurde. Mit der Munitionsanfertigung für diese Geschütze fing man bei Null an. Die vorhandenen Produktionskapazitäten (und die verfügbaren Rohstoffe!) reichten für eine schnelle Bedarfsdeckung nicht aus.

 

10.6

Die Feldkanonen hatten rund 400 Schuß je Geschütz beim Armeekorps. Die Gesamtmenge je Geschütz (beim Armeekorps plus Reserve) sollte auf insgesamt 1200 Schuß gesteigert werden.  Dem Generalstab erschien dies zwar als ein Fortschritt, für ausreichend, um einen Gegner wirklich niederzukämpfen, wurde diese Anzahl aber nicht gehalten (Dokument 9).

 

10.7

Die neuen Rohrrücklaufgeschütze ermöglichten eine um ein Mehrfaches gesteigerte Feuergeschwindigkeit gegenüber den zuvor verwendeten Geschützen. Sie wurden als Schnellfeuergeschütze bezeichnet. Mit einem erhöhten Munitionsverbrauch war zu rechnen. Die Erfahrungen früherer Kriege durften nicht länger als Bemessungsgrundlage für die Munitionsversorgung in einem künftigen Krieg genommen werden. Das Kriegs-ministerium erhöhte daher bei den Armeekorps die Anzahl der leichten Munitions-kolonnen, wobei aus praktischen Gründen enge Grenzen gesetzt waren. Die Munitions-ausstattung der Reserveeinheiten und der Ersatz-formationen war völlig ungenügend.

 

Für den Kriegsfall waren aus neuer Produktion nur geringe Lieferungen (die "Mobil-machungslieferungen") an das Feldheer vorgesehen, die den zu erwartenden Verbrauch in keiner Weise decken konnten. Unter dem Datum von 1.11.1912 (Dokument 9) schrieb der Generalstab dem Kriegsministerium:

 

"Die Mobilmachungslieferungen setzen bei der Feldkanone mit der 7. bis 8. Woche, und zwar in Preußen mit 120000 Schuß, d.h. etwa 40 Schuß pro Geschütz der Feld- und Reserve-Feldartillerie, ein. Es folgen alle weiteren 4 Wochen je 40 bis 50 Schuß je Geschütz."

 

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Aus diesen Zahlen ergibt sich: Die Industriekapazitäten für die Munitionserzeugung waren unbedeutend. Sie waren nicht dem voraussichtlichen Bedarf im Kriege angepaßt worden. Dazu hätten sie verdreifacht oder vervierfacht werden müssen. Das geschah offenkundig nicht. Warum das Kriegsministerium die Kapazitäten nicht im Frieden steigerte, ist unbekannt. Jedenfalls   m u ß t e   das Deutsche Reich mit diesen indiskutablen Kapazitäten einen künftigen Krieg zwangsläufig verlieren.

 

Die Munitionsreserven, die im Frieden eingelagert wurden, waren ebenfalls ungenügend. Das betraf die Kanonenbatterien ebenso wie die leichten Feldhaubitzen. Im Kriegsfall war, so sah der Generalstab voraus, bereits zwischen dem 30. und 40. Mobilmachungstag bei einzelnen Einheiten mit Munitionsmangel zu rechnen.  Die vorhandene Munition reichte nicht einmal dazu aus, um Frankreich in einem schnellen Feldzug niederzuwerfen. Damit fehlte eine wesentliche Voraussetzung für einen Sieg.

 

Zwar hatten alle europäischen Staaten den im Krieg zu erwartenden Munitionsverbrauch unterschätzt. Die größeren Munitionsvorräte bei Kriegsausbruch 1914 hatte jedoch Frankreich. Die ungünstigste Ausgangs-position hatten das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn.

 

10.8

Zur Vervollständigung der Ausführungen über die Heeresverstärkungen 1912 und 1913, was die materielle Ausstattung des Heeres anbelangt, sei noch angemerkt:

 

Das Heeresgesetz 1911 sah die Neuaufstellung von 8 Bataillonen Fußartillerie vor, da ein Mangel an dieser Waffe bestand. Ursprünglich für 1914 oder 1915 geplant, wurde die Aufstellung von 6 Bataillonen auf das Jahr 1912 vorgezogen.   Insgesamt wurde die Anzahl der Fußartillerie-Batterien in den Jahren 1912 und 1913 um 25 Batterien (von 165 auf 190 Batterien) gesteigert. 1913 erfolgten, wie bereits eingangs in Teil A Übersicht erwähnt, weitere Beschlüsse zur Vermehrung der Fußartillerie für die auszubauenden Festungen Posen und Graudenz.

 

Die Reserve-Fußartillerie stellte den Generalstab nicht zufrieden. Vor allem war deren  Ausstattung mit Munitionskolonnen unzureichend geblieben.

 

10.9

Die Anzahl der Maschinengewehr-Kompanien des Heeres sollte mehr als verdoppelt werden. Dies wurde im Jahr 1913 durchgeführt. Es erforderte eine personelle Verstärkung des Heeres. Auch hier stellt sich die Frage, in welchem Umfang die Munitionsherstellung der Verdoppelung folgen konnte.

 

 

 

11. Keine neuen Divisionen und Armeekorps 1913 - ungenutzte Möglichkeiten

      

Im Jahr 1913 kam es zu keiner Weiterentwicklung der Heeresorganisation. Angesichts der zahlenmäßigen Unterlegenheit des deutschen Heeres im Westen wäre sie unbedingt geboten gewesen. Sie konnte im Wege einer Neuaufstellung von Divisionen durch Neugliederung des Heeres wie im Jahr 1912 geschehen. Die Pflicht des Kriegsministers v. Heeringen war es, dies dem Reichskanzler v. Bethmann Hollweg vorzuschlagen. Das tat er nicht.

 

- 31 -

 

11.1

Im Jahr 1913 wären aus den noch verfügbaren überzähligen Infanterieeinheiten (insgesamt 14 Regimenter bzw. 5 Brigaden, jeweils ohne preußische Garde) weitere neue Divisionen zu bilden und mit Feldartillerie usw. auszustatten gewesen. Vielleicht hätten 1914 bereits zwei neue Divisionen ausgereicht, um den Rückzug von der Marne am 9. September 1914 zu vermeiden. Dafür wäre nur eine geringe personelle Verstärkung des Heeres erforderlich gewesen. Auch die notwendigen  materiellen Investitionen in das Heer hätten sich in Grenzen gehalten.

 

11.2

An einem fiktiven Beispiel soll verdeutlicht werden, wie die Bildung neuer Divisionen hätte erfolgen können.

 

Vermutlich am einfachsten zu erhalten gewesen wäre eine neue Division beim VI. Armeekorps in Schlesien. Kriegsminister v. Goßler hatte bereits im Jahr 1902 diese Maßnahme ins Auge gefaßt, siehe vorstehend Abschnitt 4. Das VI. Armeekorps in Breslau zählte ebenso wie das ihm benachbarte V. Armeekorps in Posen 5 Infanterie-brigaden.

 

Zum V. Armeekorps gehörte die 77. Infanteriebrigade, die zu den sogenannten überzähligen Brigaden rechnete. Ihre Einheiten waren im äußersten Südosten des Korpsbezirks stationiert, der dort an das benachbarte VI. Armeekorps grenzte. Standort des Brigadestabs war Ostrowo.

 

Eine Umgliederung zum VI. Armeekorps lag nahe.

 

Warum hätte dies Schwierigkeiten bereiten sollen?  Der Kaiser konnte die Umgliederung befehlen. Im VI. Armeekorps wären danach 6 Brigaden vorhanden gewesen. Das hätte die Bildung einer neuen Division ermöglicht. Es wären dann beim VI. Armeekorps drei Divisionen statt bisher zwei vorhanden gewesen. Auch dies konnte der Kaiser befehlen.

 

Für die Aufstellung der  Artillerie-, Pionier- und Train-Formationen wäre die Bewilligung durch den Gesetzgeber erforderlich gewesen. Die Kosten hierfür wären, bedenkt man die erzielbare Verstärkung der Kriegsformation des Heeres, vergleichsweise gering gewesen.

 

11.3

In Oberschlesien empfand man eine militärische Schutzlosigkeit der Provinz und sah Abhilfemaßnahmen des Reichs als erforderlich an.

 

Im Jahr 1913 gab es im Reichstag Petitionen

  1. des Haus- und Grundbesitzervereins e.V. in Oels (Schlesien)
  2. des Bundes schlesisch-posenscher Haus- und Grundbesitzervereine in Breslau und Genossen

„die geforderte Erhöhung des Friedensbestandes der deutschen Armee voll und ganz durchzuführen und die Militärbesetzung der Provinz Schlesien auf 2 ½ bis 3 Armeekorps zu verstärken – Journ. II Nr. 7681 und 7682“

 Reichstagsprotokolle vom 28. Juni 1913,

 www. Reichstagsprotokolle.de/Blatt_k13_bsb0003386_00723.html

 

Die Petitionen wurden für erledigt erklärt (vermutlich mit Rücksicht auf die Heeres-vermehrung 1913).

 

 

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In der Reichstagssitzung vom 13. Juni 1913 griff der schlesische Abgeordnete Erich Mertin das Anliegen der Petitionen auf. Er wies darauf hin, dass die Grenzen Schlesiens nach Osten ungeschützt waren und eine stärkere militärischer Besetzung der Provinz angebracht war.

 

www. Reichstagsprotokolle.de/Blatt_k13_bsb00003386_00321.html

 

Kriegsminister v. Heeringen verwies auf seine Ausführungen vor der Budgetkommission. Befriedigend war seine Haltung nicht.

 

Die Einwohnerzahl Schlesiens hätte ausgereicht, um zusätzlich zu der nach vorstehend Abschnitt 11.2 aus überzähligen Brigaden zu bildenden Division eine weitere Division aufzustellen und dann aus beiden ein weiteres Armeekorps zu bilden. Warum der Kriegsminister dies nicht tat, bleibt unerklärlich. Die schwache militärische Aufstellung des Reiches in Oberschlesien war ein strategischer Fehler im Frieden. Er ließ sich nicht wieder gutmachen.

 

11.4

Es gab weitere Möglichkeiten, aus überzähligen Einheiten in anderen Korpsbezirken ein oder zwei neue Divisionen zu bilden.

 

Je fünf Brigaden zählten auch das IX. Armeekorps in Norddeutschland (mit Schleswig-Holstein) und das VII. Armeekorps in Westfalen sowie das XIV. Armeekorps in Baden. Beim II. Armeekorps in Pommern und beim XXI. Armeekorps in Saarbrücken gab es je ein überzähliges Infanterieregiment. Die Einzelheiten lassen sich in Stechert’s Armeeeinteilung (Deutsches Reichsheer), 369. Auflage 1914 finden.

 

Es war in hohem Maße wünschenswert, rechtzeitig Planungen zu entwickeln, um notwendige Änderungen mit Bedacht und Umsicht vorzunehmen. Nur dann war im Bedarfsfall ein schnelles Handeln möglich. Im Kriegsministerium wurden aber keine Planungen entwickelt. Ein pflichtgemäßes Verhalten war das nicht.

 

11.5

Die Bildung neuer Divisionen und Armeekorps aus überzähligen Einheiten war eine Frage der Heeresorganisation. Diese durchzuführen, war Aufgabe des Kriegsministers. Das gehörte zu seinem alltäglichen Aufgaben- und Pflichtenkreis. Es ging um das preußische Heereskontingent. Preußische Minister waren verantwortlich, Artikel 44 Satz 1 der Preußischen Verfassung von 1850.

 

Kriegsminister v. Heeringen hatte in eigener Verantwortung zu prüfen, ob die Zahl der vorhandenen Divisionen für den Kriegsfall ausreichte. Er wußte um die zahlenmäßige Unterlegenheit gegenüber Frankreich. Umso mehr hätte er darauf bedacht sein müssen, vorausschauende Planungen  zu entwickeln und vor Ort Weichenstellungen für neue Divisionen zu treffen. Weder der Kriegsminister noch sein Stellvertreter Franz Wandel, der Leiter der II. Abteilung im Kriegsministerium, "Allgemeines Kriegsdepartment" genannt, kamen dieser Aufgabe nach.

 

v. Heeringen kann sich nicht darauf berufen, dass der Generalstabchef keine Neu-aufstellungen gefordert hatte. Dieser war für die Heeresorganisation weder zuständig noch verantwortlich, unbeschadet dessen, dass er beim preußischen Kriegsministerium Anträge stellen und Wünsche äußern konnte. Die Verantwortung lag allein beim Kriegsminister. v. Heeringen wurde ihr nicht gerecht.

 

- 33  -

 

 

12. Verlust der militärischen Sicherheit im Osten

 

In den letzten Vorkriegsjahren war die militärische Sicherheit des Reiches im Osten nicht mehr gewährleistet. Sie wurde bis zum Kriegsausbruch 1914 nicht wieder hergestellt.

 

Russland hatte sein Eisenbahnnetz im europäischen Teil seines Reiches in den Jahren vor 1914 ausgebaut. Die Zeitdauer, die es benötigte, um schlagfertige Armeen an die Grenzen des Deutschen Reiches heranzuführen, war dadurch vermindert worden, und an einer weiteren Verminderung wurde gearbeitet. Das erforderte deutsche Gegenmaßnahmen zur Verteidigung der Grenzen.

 

Eine Modernisierung bzw. eine Erweiterung der deutschen Festungen im Osten war zwingend notwendig. Mit Schreiben vom 12. Oktober 1909 an das Kriegsministerium wies der damalige General-Inspekteur der Festungen, General v. Beseler, darauf hin, dass er andernfalls die Verantwortung für die Verteidigungs-fähigkeit der Festungen nicht mehr tragen könne (Reichsarchiv, Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, Textband Seite 147). Trotz dieser Aussage erfolgte aber nichts. Das war deshalb mißlich, weil die erforderlichen Bau-maßnahmen einen Zeitraum von mindestens fünf Jahren beanspruchten. Man hätte daher mit den Arbeiten nicht warten dürfen, bis Russland mit seinen Eisenbahnen "fertig" war oder bis es mit der Schaffung einer Belagerungsartillerie für sein Heer begann.

 

Dass vor 1913 nichts geschah, lag – wen wundert es? – an den Staatsfinanzen.

 

12.1

Die Entscheidung über den Festungsbau lag beim Kaiser, "welcher die Bewilligung der dazu erforderlichen Mittel, soweit das Ordinatorium sie nicht gewährt, nach Abschnitt XII beantragt". So sagte es der Wortlaut des Artikels 65 der Reichsverfassung 1871. Abschnitt XII der Reichsverfassung enthielt  Bestimmungen über das Finanzwesen.

 

Vor dem Jahre 1909 wurden Festungsbauten im Wege der Kreditaufnahme finanziert. Das war ab dem Jahre 1909 nur noch in einem eingeschränkten Umfang möglich. Das Reichsschatzamt hatte mit Wirkung ab 1909 grundlegende Richtungsänderungen in der Haushaltswirtschaft des Reiches vorgenommen.

 

Die Gesamtverschuldung des Reiches sollte zukünftig nicht weiter erhöht, sondern im Gegenteil mit einer Tilgung der aufgenommenen Kredite begonnen werden. Eine Finanzierung des Festungsbaus durch eine neuerliche Kreditaufnahme erschien dem Reichsschatzamt nunmehr unerwünscht oder sogar unmöglich.

 

Um aus dem alljährlichen Haushaltsetat des Reiches (dem "Ordinatorium") den Ausbau bestehender Festungen zu finanzieren, wären Erhöhungen bestehender Steuern oder neue Steuern unumgänglich gewesen. Durch Einsparungen an anderer Stelle ließen sich die Ausgaben nicht finanzieren, da die bisherigen politischen Prioritäten fortdauerten und nicht geändert werden durften. Damit ist man wieder bei der Notwendigkeit direkter Steuern, welche die Bundesstaaten weiterhin blockierten. Ohne finanzielle Mittel konnte nichts geschehen. Das Reichsschatzamt hatte den Grundsatz "Keine Ausgabe ohne Deckung" (im Reichs-haushaltsetat) aufgestellt und setzte ihn rigoros durch. Das Ergebnis war, dass jahrelang nichts geschah.

 

12.2

Bei den Kosten für den Festungsausbau ist zu unterscheiden zwischen

  • der in einer Heeresvorlage veranschlagten Gesamtsumme, die sich auf die zu erwartende Bauzeit von mehreren Jahren verteilen würde – sie enthielt den Antrag, die Maßnahme zu bewilligen,

  und

- 34 -

 

  • den Teilbeträgen, die von dieser Gesamtsumme in den jährlichen Reichshaushaltsplan eingestellt wurden, also in einem bestimmten Haushaltsjahr tatsächlich verbaut werden durften.

 

In der Heeresvorlage 1913 wurden für den Festungsbau Ost 210 Millionen Mark (zuzüglich der Kosten für die Verstärkung der schweren Artillerie) vorgesehen. Man darf unbedenklich annehmen, dass der wirkliche Bedarf um ein Mehrfaches höher lag, also in der Heeres-vorlage Reduzierungen vorgenommen worden waren. Es ging um Kosten von mehreren hundert Millionen Mark.

 

Die Finanzierung sollte aus Steuermitteln über den laufenden Staatshaushalt erfolgen. Das erforderte neue Steuern (siehe dazu Abschnitt 20 des Aufsatzes). An Teilbeträgen für den Bau wurden im Nachtragshaushalt 1913 70 Millionen Mark bereit gestellt, im Reichshaushaltsetat 1914 63 Millionen Mark.

 

12.3

Eine Heeresvorlage an den Gesetzgeber zur Bewilligung der Geldmittel wäre bereits vor 1913 erforderlich gewesen. Den Entwurf hätte der Kriegsminister für den Reichskanzler zu erstellen gehabt. Nötig war eine Begründung, die den Reichstag überzeugen konnte. Eine solche hätte ihm General Mudra liefern können, der im Jahre 1911 "General-Inspekteur des Ingenieur- und Pionierkorps und der Festungen" wurde (bis 1913). Von ihm stammten die Vorschläge für die Erweiterung der Festung Graudenz.

 

General Mudra meinte, das Schwergewicht des Festungsbaus habe bei den Ostfestungen zu liegen, von Metz im Westen abgesehen. Das deutsche Heer konnte im Kriegsfall immer nur nach einer Seite offensiv werden, und diese Seite mußte Frankreich sein. Nach der anderen Seite, im Osten, mußte man defensiv bleiben.

 

Die Ostfestungen sollten es ermöglichen, einen zahlenmäßig überlegenen Gegner über Monate hinweg allein mit einem Teil der Reserve- und Landwehrtruppen aufzuhalten. Der Generalstabchef sollte in die Lage versetzt werden, alle aktiven (Friedens-) Divisionen im Westen einzusetzen. Dies war Mudras Gedankengang. Seine Ausführungen finden sich in den nachstehenden Dokumenten:

 

Reichsarchiv, Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, I. Anlagenband Erster Teil A. Dokument Nr. 40 und Nr. 52

 

Zur Klarstellung sei bemerkt, dass Mudra von dem Feldzugsplan des Generalstabchefs (sogenannter Schlieffenplan) keine Kenntnis hatte. Die Anzahl der Offiziere, die ihn kannten, ließ sich an einer Hand abzählen. In seiner Grundauffassung kam Mudra zu demselben Ergebnis wie der Generalstabchef, und zwar unabhängig von diesem. Die Kräfte des deutschen Heeres reichten für einen Zweifrontenkrieg nicht aus, und daran ließ sich durch Heeres-verstärkungen nichts ändern.

 

Der Dialog über einen Ausbau der Festungen war zwischen dem General-Inspekteur und dem Kriegsminister zu führen. Bevor sich General Mudra mit dem Kriegsminister anlegte, legte er dem Generalstabchef seine Vorstellungen dar und bat diesen um Stellungnahme. Generalstabchef v. Moltke war eine Stärkung der Weichselverteidigung "sehr erwünscht", wie er sich ausdrückte.

 

- 35 -

 

12.4

Kriegsminister v. Heeringen wollte General Mudras Vorschläge für den Ausbau der Festungen Posen, Graudenz und Thorn nicht umsetzen, da er sie nicht oder nur zu Lasten anderer Bereiche des Heeres für finanzierbar hielt. Wer Mudras Forderungen durchsetzte, war Generalstabchef v. Moltke. Er richtete am 21.12.1912 eine

 

Denkschrift "Über die militärpolitische Lage Deutschlands"

 

an den Reichskanzler (Reichsarchiv, Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, I. Anlagenband, Erster Teil. A. Dokumente zu Nr. 54). Bei diesem lag die Entscheidung, dem Gesetzgeber eine Heeresvorlage einzureichen.

 

Teil II der Denkschrift enthielt ein Rüstungsprogramm (Entwurf Oberst Ludendorff, vom Generalstabchef übernommen). In dessen Abschnitt B. Landesverteidigung übernahm Luden-dorff bzw. v. Moltke einen Teil der Forderungen Mudras mit den Worten:

 

"Im Osten müssen Graudenz und Posen stark ausgebaut werden, damit die Landesverteidigung in diesen Festungen für alle Fälle den erforderlichen Rückhalt findet."

 

Nunmehr wurde der Ausbau Bestandteil der Heeresvorlage 1913 des Kriegsministers v. Heeringen. Hatte er bisher an den Ausbau der Ostfestungen nicht herangehen wollen, ging er nunmehr bei dem Umfang der schweren Artillerie, die für die Festungen zusätzlich zu beschaffen war, sogar über die Forderung des Generalstabs hinaus.

 

12.5

Weitere Verteidigungsmaßnahmen waren denkbar. So hieß es in der Denkschrift vom 21.12.1912 Teil II Rüstungsprogramm Abschnitt A. Heeresverstärkung unter anderem:

 

"Aus den zur Verfügung stehenden Landwehren müssen, wie in Frankreich, mit Feldartillerie ausgerüstete Verbände vermehrt aufgestellt werden."

 

Das wäre für Ostpreußen wünschenswert gewesen. Man konnte dort bestehende Landwehr-brigaden zu einer Division zusammenfassen. Darüber hinaus wäre dort der Aufbau eines Landwehrkorps aus zwei Landwehrdivisionen sinnvoll gewesen.

 

Es geschah nichts in dieser Richtung. Das Heer verfügte bei Kriegsausbruch 1914 nur über ein einziges Landwehrkorps, das Schlesische Landwehrkorps. Dieses Korps verfügte auch über Feld-artillerie und erhielt im Frühjahr 1914 eine Ausstattung, um es im Bewegungskrieg einzusetzen. Es war als Unterstützung für das Feldheer Österreich-Ungarns  vorgesehen.

 

12.6

Ausreichende Verteidigungsvorkehrungen im Osten hätten sowohl den militärischen Handlungsspielraum des Generalstabchefs als auch den politischen Handlungsspielraum des Reichskanzlers erweitert. Die Zwangsläufigkeit, dass das Deutsche Reich auf eine russische Mobilmachung mit Kriegserklärungen nach Osten und dann zusätzlich nach Westen reagieren mußte, war durch Unterlassungen des preußischen Kriegsministers verschuldet. Zu seinen Aufgaben gehörte es, im Frieden eine Verteidigungskonzeption für den Osten zu entwerfen und entsprechende Maßnahmen in die Wege zu leiten. Dieser Aufgabe kam er nicht nach. Es war nicht die Aufgabe des Generalstabchefs. Dieser mußte im Kriegsfalle sehen, wie er mit der von ihm vorgefundenen militärischen Lage fertig wurde.

 

- 36 -

 

 

13. Denkschrift des Generalstabchefs v. Moltke vom 21.12.1912

Am 21. Dezember 1912 sandte Generalstabchef v. Moltke eine

 

„Denkschrift

über die militärpolitische Lage“ (Deutschlands) „und die sich aus ihr

ergebenden Forderungen für weitere Ausgestaltung der Deutschen Wehrkraft“

 

an den Reichskanzler (Reichsarchiv, Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, I. Anlagenband, Erster Teil. A. Dokumente zu Nr. 54). Sie war ein Alarmruf. Die Überlegenheit der Triple-Entente über die Streitkräfte der Mittelmächte im Westen wie im Osten wurde in Zahlen dargestellt. Die „Kriegsspiele“ im Generalstab begründeten die Besorgnis, dass das Deutsche Reich in einem künftigen Krieg gegen das französische Heer, das durch das britische Expeditionskorps verstärkt würde, unterliegen werde. Eine positive Erfolgsprognose war nicht möglich. Dazu war es notwendig, neue Armeekorps aufzustellen. Einzelheiten zu den Kräfteverhältnissen werden in Abschnitt 23 dieses Aufsatzes dargelegt. Die Denkschrift hatte zwei Teile: eine Darstellung der militärpolitischen Lage des Reiches und ein Rüstungsprogramm.

 

13.1

In Teil I der Denkschrift legte v. Moltke dem Reichskanzler seine Sichtweise der militär-politischen Lage des Reiches dar:

 

Das Deutsche Reich durfte nicht mehr mit einer Unterstützung Italiens rechnen. Es hatte im Westen allein auf sich gestellt gegen Frankreich und das britische Expeditionskorps zu kämpfen. Deren Truppen waren bei der Infanterie zahlenmäßig klar überlegen, nämlich um 124 Bataillone. Kam Belgien als Gegner hinzu, erhöhte sich die Zahl auf 192 Bataillone. (Frankreich und England zusammen 991 Bataillone, Deutsches Heer 867 Bataillone). Das war der Gesichtspunkt, der für den Generalstabchef ausschlaggebend war. Eine Aufstellung neuer Armeekorps zur Verminderung der eigenen Unterlegenheit war notwendig.

 

Das Kräfteverhältnis im Osten hatte sich ebenfalls zuungunsten der Mittelmächte verschlechtert. Durch das Erstarken Serbiens in den Balkankriegen werde Österreich-Ungarn bei einem Krieg mit Rußland  gezwungen sein, Truppen an der serbischen Grenze zurück-zulassen – ein Viertel seiner Streitkräfte. Die zahlenmäßige Überlegenheit Rußlands war dann erdrückend. Diese Verschlech-terung spielte jedoch, so dachte v. Moltke, für das Reich nur mittelbar eine Rolle. Seiner Meinung nach  war es Österreich-Ungarn, das für eine Verstärkung seines Heeres zu sorgen hatte. Das Deutsche Reich mußte jedoch seine Festungen im Osten ausbauen. Ein Zerfall Österreich-Ungarns in der Zukunft war möglich und mußte im Auge behalten werden.

 

Für eine Kriegführung im Westen sah v. Moltke zwei Alternativen und erläuterte, welche aussichtsreicher sei:

 

  • „…ein frontaler Angriff gegen die befestigte französische Ostfront … würde der Kriegführung den Charakter des Festungskrieges aufzwingen, viel Zeit kosten und dem Heere den Schwung und die Initiative nehmen, deren wir … bedürfen…“ 
  • „Um gegen Frankreich offensiv zu werden, wird es nötig sein, die belgische Neutralität zu verletzen. Nur bei einem Vorgehen über belgisches Gebiet kann man hoffen, das französische Heer in freiem Feld angreifen und schlagen zu können…“

 

Die letztere Alternative, so v. Moltke, sei die aussichtsreichere.

 

- 37 -

 

Trotz der zahlenmäßigen Überlegenheit des Gegners könne man "unter den augen-blicklichen Verhältnissen" derzeit noch einem Krieg "mit Zuversicht" entgegensehen. Die numerische Stärke des Heeres genüge aber nicht, um den Aufgaben der Zukunft gewachsen zu sein.

(Anmerkung des Aufsatzverfassers: Das war Pflicht-Optimismus. Die mitgeteilten Kräfte-verhältnisse rechtfertigten keine „Zuversicht“).

 

13.2

Teil II der Denkschrift war ein Rüstungsprogramm; siehe bereits vorstehend Abschnitt 12.4. Auf zwei bis drei Schreibmaschinenseiten werden Forderungen skizziert, die Heeresorganisation zu erweitern, und das Heer sowie die Festungen im Osten auszubauen. Es wird nicht durchgerechnet, welcher Personalbedarf dafür entsteht – Wehrpflichtige, Unteroffiziere und Offiziere - und welche Kosten dafür anfallen. (Nach Schätzung des Aufsatzverfassers wären Investitionen von zwei Milliarden Mark oder mehr erforderlich gewesen. Die Zahl soll lediglich eine Vorstellung von der Größenordnung vermitteln, um die es hier ging).

 

Das Rüstungsprogramm umfasste zwei Teilbereiche: A. Heeresverstärkung und B. Landesverteidigung. Aus dem letzteren Teilbereich wurde bereits die Forderung nach einem Ausbau der Festungen Graudenz und Posen zitiert. Der Teilbereich A. Heeresverstärkung begann mit einem einleitenden Absatz.  In ihm wurde die Meinung vertreten, es stünden 300.000 Wehr-pflichtige für eine Heeresvermehrung zur Verfügung. Eine stärkere Heranziehung der jüngeren Jahrgänge zum Wehrdienst sei bereits aus sozialen Gründen geboten. Bisher mußten Landwehrleute, also die älteren Jahrgänge von ausgebildeten Wehrpflichtigen, bei Kriegsbeginn sofort in vorderster Linie eingesetzt werden. Unter ihnen waren viele Familienväter. Es war anzustreben, sie durch jüngere Jahrgänge zu ersetzen.

 

Nach der Einleitung im Rüstungsprogramm folgten die Einzelforderungen. Die Heeresverstärkung solle sich in vier Richtungen bewegen, nämlich

        

Etatverstärkungen

Heeresvermehrung

Verbesserung der Formationen 2. Linie

Ergänzung und Verbesserung der Heeresausrüstung

 

und diese Richtungen wurden sodann kurz erläutert.

 

Das Rüstungsprogramm sollte 

als Ganzes

zum 1.10.1913 umgesetzt werden.

 

13.3

Eine Einzelheit aus dem Teil II der Denkschrift Rüstungsprogramm soll hier herausgegriffen werden. Sie stand im Abschnitt "zu Nr. 2 Heeresvermehrung" und lautete:

 

"Um für eine Offensive nach Westen den erforderlichen Kräfteausgleich zu schaffen und gleichzeitig unseren Osten hinreichend zu schützen, müssen mindestens drei Armeekorps

neu aufgestellt werden, wobei ein Teil der schon jetzt vorhandenen fünften Brigaden verwertet werden kann..."

 

- 38 -

 

 

Es waren mindestens sechs neue Divisionen aufzustellen. Zwei oder drei dieser Divisionen hätte man kurzfristig bilden können, indem man bestehende Infanterieeinheiten zusam-menfügte, wie vorstehend in Abschnitt 11 am Beispiel des V. und VI. Armeekorps dargelegt. Die Artillerie, die Kavallerie und alle anderen für Divisionen bzw. Armeekorps notwendigen Einheiten (Pioniere, Train, Sanitätseinheiten, eventuell Nachrichteneinheiten) nebst Ausrüstung hätte man im Rahmen der Heeresverstärkung 1913 neu aufstellen müssen.

 

Generalstabchef v. Schlieffen hatte einst 27 Armeekorps für den Kriegsfall gefordert, sein Amtsnachfolger v. Moltke forderte nunmehr mindestens 28 Armeekorps.

 

13.4

Bei der Forderung nach neuen Armeekorps stand der Gesichtspunkt der Heeres-organisation im Vordergrund. Das zeigt sich, wenn man die vom Reichsarchiv mitgeteilte ursprüngliche Fassung des Rüstungsprogramms liest. Sie lautete:

 

"Einen wesentlichen organisatorischen Vorteil und damit eine Erhöhung der Schlagkraft des Heeres würde die Aufstellung neuer Armeekorps bringen. Sie käme namentlich dem Schutz von Ost- und Westpreußen gegenüber einem feindlichen Angriff zu gut. Für etwa 2 Armeekorps ist schon jetzt die Infanterie in überzähligen 5ten Brigaden vorhanden..."

 

Damit verfolgte der Generalstab die Linie des früheren Generalstabchefs v. Schlieffen weiter: Die neuen Formationen sollten so weit wie möglich aus den überzähligen Brigaden und Regimentern gewonnen werden. Das verminderte die Anzahl der bei der Infanterie erforderlichen Neuaufstellungen.

 

Die vorstehende ursprüngliche Fassung wurde bei der abschließenden Bearbeitung des Textes durch die in Abschnitt 13.3 wiedergegebene Fassung ersetzt.

 

13.5

Allgemein wird die Initiative v. Moltkes auf den Einfluß von Oberst Ludendorff zurück-geführt, der von April 1908 bis zum 27. Januar  1913 Leiter der 2. Deutschen Abteilung im Generalstab war. Von ihm stammte der Entwurf des II. Teils, dem Rüstungsprogramm. Er war vom Generalstabchef übernommen worden.

 

Der Generalstabchef hatte, veranlaßt durch Ludendorff, seit September 1912 mehrfach versucht, beim Kriegsministerium durchgreifende Maßnahmen zum Ausbau des Heeres in verschiedenerlei Hinsicht zu erreichen. "Aber es kam zu nichts". So sagte es Ludendorff später in seiner Autobiographie ("Mein militärischer Werdegang, Chef der 2. - Deutschen - Abteilung", Seite 152). Er zog daraus den Schluss, man müsse sich unmittelbar an den Reichskanzler wenden, wenn man etwas erreichen wolle. Denn die politische Zuständigkeit für das deutsche Heer als Ganzes lag allein bei diesem.

 

Dass der Kriegsminister in einem Schreiben vom 2.12.1912 an den Reichskanzler selbst eine Heeresvorlage angeregt hatte, war Ludendorff nicht bekannt.

 

13.6

Dem Rüstungsprogramm des Generalstabchefs ging es sowohl um eine sofortige Erhöhung der Kriegsstärke des Heeres, um die vorauszusehende Niederlage im Krieg zu vermeiden, als auch um eine Neustrukturierung des Heeres,  die auf lange Sicht ausgerichtet war.

 

- 39 -

 

14.  Heeresvorlage 1913 des Reichskanzlers v. Bethmann Hollweg

 

            Reichstagsprotokolle 13. Legislatur-Periode 1912/14,19

- Anlage Nr. 869 vom 28. März 1913 -

http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k13_bsb00003397_00363.html

 

Reichskanzler v. Bethmann Hollweg (1909 - 1917) entschloss sich für das Jahr 1913 zu einer Heeresvorlage an den Gesetzgeber. Sie sollte als eine Ergänzung zum bestehenden Heeresgesetz, das vom 1.4.1911 bis zum 31.3.1916 lief, eingebracht werden. (Die bisherigen Heeresgesetze 1911 und 1912 waren noch nicht vollständig durchgeführt.) Die Vorlage ist bereits zu Beginn dieses Aufsatzes erwähnt, da in ihr ein Ausbau der Festungen Posen und Graudenz vorgesehen war. Sie schlug einen Ausbau der bestehenden Heeres-organisation vor:

 

Durch verschiedene Maßnahmen sollte die Friedensstärke des Heeres um 4.000 Offiziere, 15.000 Unteroffiziere und 117.000 „Gemeine und Gefreite“ (= Wehrpflichtige im Grundwehrdienst) erhöht werden. Das bisherige Ziel zum 31.3.1916 waren 544.211 Wehrpflichtige im Heer, nunmehr sollte das Ziel auf 661.478 Wehrpflichtige angehoben werden. Das war eine Erhöhung um 21,55 %. Um dies zu erreichen, waren zukünftig jährlich 63.000 Wehrpflichtige mehr zum Grundwehrdienst einzuziehen.

 

Eine derart umfangreiche Heeresvorlage hatte es im Deutschen Reiche noch nicht gegeben. Den Menschen verschlug es den Atem.

 

Um die Öffentlichkeit für die Vorlage zu gewinnen, brauchte v. Bethmann Hollweg eine zündende Idee. Er fand sie in dem Gedanken einer vollständigen Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht. Um diese zu erreichen, sollten entsprechend dem Rüstungs-programm des Generalstabchefs

 

  • Étatverstärkungen durchgeführt werden,
  • Lücken in der bestehenden Heeresorganisation, wie sie im Rüstungsprogramm unter „Heeresvermehrung“  angesprochen wurden, geschlossen werden,

 

Nicht in der Heeresvorlage enthalten war eine Neuaufstellung von Divisionen und Armeekorps. Die dahingehende Forderung des Generalstabchefs blieb unberücksichtigt. Eine Erhöhung der Kriegsstärke des Heeres war nicht beabsichtigt. Eine mögliche Niederlage im Krieg als Folge einer zahlenmäßigen Unterlegenheit wurde weiterhin in Kauf genommen.

 

Es war ein Fehler, der allgemeinen Wehrpflicht den Vorrang vor einer Neuaufstellung von Divisionen einzuräumen.

 

14.1

Bei einem Infanterie-Bataillon betrug die Kriegsstärke 920 Mann (Wehrpflichtige), 82 Unteroffiziere und 26 Offiziere (Sollstärke). Hieran sollte sich durch die Heeresvorlage nichts ändern. Für alle Truppeneinheiten und –gattungen waren die Kriegsstärken vom Kriegs-ministerium langfristig festgelegt. Änderungen waren 1913 nicht beabsichtigt.

 

Im Frieden standen die Truppen nur mit einem Teil ihrer Kriegsstärke „unter den Fahnen“. Man sprach vom Friedenspräsenzstand der Einheiten oder der Etatstärke. Seine Höhe war ein wesentlicher Faktor für die Qualität im Krieg.                                                                                                         

                                                                                                                                    

Der Präsenzstand (= die Étatstärke) im Frieden betrug nur einen Teil der Kriegsstärke. Er (sie) sollte, so sah es die Heeresvorlage vor, bei allen Waffengattungen erhöht werden. Als Beispiel seien hier die Infanterie-bataillone genannt.

 

- 40 -

 

Im Jahr 1912 gab es drei unterschiedliche Etatstärken:

 

Niedriger Etat                                        486 Mann, 65 Unteroffiziere (201 Bataillone)

Mittlerer Etat                                         506 Mann, 65 Unteroffiziere (216 Bataillone)

Hoher Etat                                             568 Mann, 73 Unteroffiziere (212 Bataillone)

Hinzu kamen jeweils 18 Offiziere.

 

Der Generalstab forderte

  • soweit die Bataillone in Armeekorps an der Grenze standen, einen Präsenzstand von 800 Mann (Wehrpflichtige und Unteroffiziere zusammengerechnet)
  • soweit die Bataillone in Armeekorps im Inneren des Reiches standen, einen Präsenzstand von 568 Wehrpflichtigen und 73 Unteroffizieren

 

Generalstab und Kriegsminister fanden nach harten Verhandlungen zu einem Kompromiß:

  • Die Bataillone an der Grenze sollten 640 Mann und 79 Unteroffiziere stark werden (zukünftig hoher État) (297 Bataillone).
  • Die Bataillone im Inneren des Reiches sollten wie gefordert 568 Mann und 73 Unter-offiziere stark werden (zukünftig niederer Etat) (354 Bataillone).

Hinzu kamen jeweils 19 Offiziere.

 

Auch bei den anderen Waffengattungen war der Präsenzstand der Einheiten zu verstärken. Bei der Feldartillerie war zudem die Anzahl der Bespannungen der Munitionswagen zu erhöhen (sie waren im Frieden weitgehend unbespannt) und die Beobachtungswagen sollten Bespannungen erhalten. Darüber kam es wie bei den Infanterie-Bataillonen „ebenfalls zu lebhaften Ausein-andersetzungen zwischen Kriegsministerium und Generalstab“, wie das Reichsarchiv schreibt (Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, I. Anlagenband, Zweiter Teil). Der Generalstab konnte sich zum Teil durchsetzen.

 

14.2

Ergänzend ist zu bemerken:

    

Dass die Étatstärken der Infanterie-Bataillone erhöht werden sollten, darüber bestand Einvernehmen zwischen Kriegsminister und Generalstabchef, und zwar bereits vor der Denkschrift des Generalstabchefs. Der Kriegsminister hatte schon im Jahr 1912 bei einem Teil der Infanterie-Bataillone an der Grenze Erhöhungen vorgenommen. Für 1913 hatte er weitere Erhöhungen ins Auge gefaßt und war deswegen beim Reichskanzler vorstellig geworden.

 

Der Zweck der Étatverstärkungen war ein doppelter:

 

Die aktiven Formationen sollten,

„wenn auch nicht an zahlenmäßiger Überlegenheit, so doch entscheidend an Gehalt und Kraft“

gewinnen – so die Formulierung im Rüstungsprogramm des Generalstabchefs.

                                                                                                                                     

Zum anderen sollten in Zukunft zusätzliche Reservisten verfügbar werden, damit in die Reservedivisionen nur noch Reservisten eingestellt wurden. Die Landwehr sollte aus ihnen ausgeschaltet werden. Dadurch sollte die Kriegsformation des Heeres verjüngt werden.

 

- 41 -

 

Dem Kriegsminister war es außerdem wesentlich, die Mobilmachung im Kriegsfall zu erleichtern. Die Divisionen brauchten weniger Reservisten, um ihre Kriegsstärke zu erreichen.

 

14.3

Den Forderungen des Rüstungsprogramms, was die Heeresvermehrung angeht,  wurde mit Ausnahme der Armeekorps in der Heeresvorlage entsprochen:

 

Die fehlenden 22 Infanterie-Bataillone bei den „kleinen“ Infanterie-Regimentern, die bisher nur 2 statt 3 Bataillone zählten, sollten aufgestellt werden, die erste Hälfte zum 1.10.1913, die zweite Hälfte zum 1.10. 1914.

 

Es sollten neue Kavallerie-Regimenter aufgestellt werden.

 

Die Fußartillerie sollte um 7 Bataillone verstärkt werden, davon aktuell im Jahr 1913 1 Bataillon.

 

Es sollten 8 neue Pionier-Bataillone aufgestellt werden, die Mehrzahl von ihnen 1914/1915.

 

Die Luftschiffertruppe sollte von 6 Kompanien auf 16 Kompanien und die Fliegertruppe von 3 Kompanien auf 14 Kompanien erweitert werden.

 

Es sollten 3 neue Telegraphen-Bataillone mit Funkerkompanien aufgestellt werden.

 

Die 25 Train-Abteilungen (zuvor Train-Bataillone genannt) sollten eine jede um eine 4. Eskadron verstärkt werden. Bis dahin zählten die Abteilungen nur je 3 Eskadrons. Weitere Verstärkungen waren für 1914/1915 und ab 1916 vorgesehen (Reichsarchiv, Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, I. Anlagenband, Zweiter Teil IV. Von 1912 bis 1914 Train am Ende).

 

Die vorstehende Aufzählung beansprucht nicht, vollständig zu sein. Die Verstärkung der Artillerie wurde bereits in Abschnitt 10 behandelt.

 

Bei den meisten Maßnahmen handelte es sich um solche, die aus Geldmangel jahrelang verschleppt worden waren. Sie sollten zum 1.10.1913 in die Wege geleitet werden und zu einer inneren Kräftigung des Heeres führen. Die Fliegertruppe blieb unter den Forderungen des Generalstabs. Sie war unzureichend.

 

14.4

Es sollten Maßnahmen zur Verbesserung der Reserveformationen durchgeführt werden. Dazu gehörten

 

Vermehrung der Berufs-Offiziersstellen, namentlich der Hauptmannstellen

Schaffung von vermehrten Übungsgelegenheiten, also Truppenübungsplätzen

Vermehrte Reserveübungen

 

Die Forderung im Rüstungsprogramm, die Landwehr aus den Reserve-formationen auszuschalten und diese damit zu verjüngen, wäre durch die Etaterhöhungen in den nächsten Jahren möglich geworden.

 

14.5

Das Ergebnis der Heeresverstärkung 1913 sei hier vorweggenommen:

 

Zum Jahresende 1913 zählte das Heer 599.200 Wehrpflichtige. So sagt es das Reichsarchiv, Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, Textband Seite 198. Es waren zum 1. Oktober 1913 programmgemäß  63.000 zusätzliche Rekruten zum Grund-wehrdienst einberufen worden. Zum 1. Oktober 1914 sollte sich die tatsächliche Zahl der Wehrpflichtigen auf  655.582 erhöhen, der Rest zu 661.478 zum 1. Oktober 1915.

 

Die zukünftigen Soll-Zahlen konnten erst ab 1.10.1914 erreicht werden, wenn ein zweiter Rekrutenjahrgang zum Grundwehrdienst eingezogen wurde.

 

Zum Jahresende 1913 gab es im Heer außerdem etwa 16.000 Einjährig-Freiwillige, 105.800 Unteroffiziere und

29.000 Offiziere (Reichsarchiv aaO).

 

- 42 ._

 

Zum 1. Oktober 1914 sollte sich die tatsächliche Zahl der Wehrpflichtigen auf  655.582 erhöhen, der fehlende Rest zu 661.478 zum 1. Oktober 1915.

 

Die Heeresverstärkung 1913 führte, obwohl in vielem erst begonnen, dennoch bereits vor Kriegsbeginn 1914 zu einer inneren Kräftigung des Heeres und leitete seine technische Modernisierung sowie eine Verjüngung der überalterten Kriegsformation in die Wege.

 

Eine Erhöhung der Kriegsstärke des Heeres brachte die Heeresverstärkung 1913 nicht. Sie hatte keinen offensiven Charakter. Es blieb bei den 25 aktiven Armeekorps, die seit 1898 für den Kriegsfall vorgesehen waren. Diese Zahl war im Kopf von Kaiser Wilhelm II. und seinen Kriegsministern v. Einem und v. Heeringen als unveränderlich festgeschrieben.

 

Die vom Generalstabchef v. Moltke geforderten neuen Armeekorps hätten den Krieg zugunsten des Deutschen Reiches entschieden.

 

 

15. Auseinandersetzung um neue Armeekorps

     zwischen Generalsatabchef v. Moltke (1906 - 1914)

     und Kriegsminister v. Heeringen (1909 - 1913)

 

Nicht in der Heeresvorlage 1913 des Reichskanzlers fanden sich neue Divisionen und Armee-korps. Die grundsätzliche Verständigung, die Generalstabchef v. Moltke mit dem Kriegs-minister v. Heeringen darüber erstrebte, gelang nicht. Die Grundhaltungen blieben gegen-sätzlich. Der Kriegsminister setzte sich im Alleingang durch.

 

15.1

Kriegsminister v. Heeringen betrachtete das Rüstungsprogramm des Generalstabchefs als einen Steinbruch, aus dem er sich Bausteine für eine Heeresverstärkung 1913 heraussuchen konnte. Entscheidend war, was der Reichskanzler an Finanzmitteln zur Verfügung stellen würde. Von vornherein sortierte v. Heeringen die Forderung nach drei neuen Armeekorps aus. Darüber ließ er nicht mit sich reden – auch nicht über ein einziges Armeekorps.

 

Generalstabchef v. Moltke sah das Rüstungsprogramm seiner Denkschrift als ein Gesamt-konzept, das der Öffentlichkeit als ein solches präsentiert werden sollte. Er wollte der Öffentlichkeit sagen, was das Ziel der beabsichtigen Heeresvermehrung sei.

 

„Die einzelnen Punkte meines Programms greifen auch so ineinander über, daß … die einheitliche und stetige Durchführung des Programms nicht als gesichert angesehen werden kann, wenn es nicht einheitlich behandelt wird. Ich glaube auch, daß sowohl der Reichstag wie das Volk Verständnis für ein auf das Ganze zielendes Programm haben werden, daß die Bekanntgabe des von der Heeresleitung Erstrebten Befriedigung hervor-rufen, der Agitation gegen das Unzureichende unserer Rüstung den Boden entziehen … wird …“

Reichsarchiv, Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, I. Anlagenband, Erster Teil. A. Dokumente Nr. 55, Schreiben des Generalstabchefs v. Moltke an das Kriegsministerium vom 14. Januar 1913, Entwurf Oberst Ludendorff, vorstehendes Zitat in der Formulierung, die ihm v. Moltke selbst gab

 

Eine Beschlußfassung über neue Armeekorps sollte, in welcher Form auch immer, bereits jetzt, im Jahre 1913 erfolgen. Das war für ein Verständnis der Absichten unabdingbar.

 

Im Gegensatz dazu wollte v. Heeringen auf der Grundlage stehen bleiben, auf welcher das Heeresgesetz 1911 beruhte. In dessen Begründung war ausgeführt worden,  es bedürfe keiner neuen Divisionen und Armeekorps, weil der Rahmen des Heeres noch als ausreichend anzusehen sei (also bis zum 31. März 1916! der Aufsatzverfasser). Es waren lediglich „Meliorationen in der Armee“ bezweckt, also Verbesserungen.

 

(so sagte es Kriegsminister v. Heeringen am 9. Dezember 1910 vor dem Reichstag, um das Heeresgesetz 1911 zu begründen, am Ende seiner Rede.

http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k12_bsb00003325_00467.html

                                                                                                                                 

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v. Heeringen bezog sich dabei auf seinen Amtsvorgänger v. Einem, der am 3. Dezember 1904 den Inhalt des Heeresgesetzes 1905 mit dem Ausdruck „Meliorationen“ zusammengefaßt hatte. Mit der Berufung auf v. Einem  hatte v. Heeringen die Fortsetzung von dessen Rüstungs-politik betont.

 

Die vom Generalstabchef jetzt geforderten Armeekorps hätten den organisatorischen Rahmen des Heeres erweitert. Sie  gingen über „Meliorationen“ hinaus und kamen für v. Heeringen daher erst in dem Zeitraum vom 1.4. 1916 bis 31.3.1921 in Betracht. Darüber jetzt, im Jahr 1913, zu reden sei nicht angebracht.  Man dürfe sich nicht für die Zukunft festlegen.

 

Es war v. Heeringen bewußt, dass die zahlenmäßige Überlegenheit des französischen Heeres auch nach dem Heeresgesetz 1912 fortdauerte. Daran wollte er auch 1913 nichts ändern.

 

Um ein Mißverständnis zu vermeiden, ist zu wiederholen: Es ging v. Moltke darum, das  Rüstungsprogramm der Öffentlichkeit als Ganzes vorzulegen. Worauf er nicht bestand, war eine vollständige Durchführung des gesamten Programms zum 1.10.1913. Dass dies nicht möglich sein würde, war ihm jeden Augenblick klar.

                                                                         

15.2

Eine sofortige Formierung einzelner neuer Divisionen aus überzähligen Brigaden und Regimentern wäre militärisch möglich gewesen. Sie war ein kaiserliches Recht und  hätte ein erster Schritt zur Aufstellung neuer Armeekorps sein können. Dieses Ziel ließ sich nur in Einzelschritten erreichen. Generalstabchef v. Moltke wäre über jede einzelne neue Division glücklich gewesen. Er war kompromißbereit. Kriegsminister v. Heeringen war es nicht.

 

Beabsichtigte man die Aufstellung neuer Armeekorps, so mußte man der Öffentlichkeit darlegen, welches Ausbauziel man für das Heer hatte. Eine Reise ins Ungewisse hinein wäre nicht zu vermitteln gewesen. Es wäre gefragt worden, ob eine Heeresvergrößerung ins Unendliche stattfinden sollte? Dafür wäre keine Mehrheit zu erhalten gewesen.

 

Die Heeresverwaltung hätte anerkennen müssen, dass es Grenzen für die Ausdehnungsfähigkeit des Heeres gab. Generalstabchef v. Moltke war dazu offenbar bereit. Für Kriegsminister v. Heeringen stellte sich die Frage jetzt nicht.

 

Bei Angabe eines Ausbauziels hätte der Reichstag entscheiden können, welche Prioritäten er setzen wollte. Man konnte beides zugleich haben, neue Divisionen und Étatverstärkungen. Dass dies möglich war, hatte v. Heeringen selbst mit dem Heeresgesetz 1912 gezeigt.  Mit diesem Gesetz hatte er gleichzeitig neue Divisionen formiert, neue Bataillone aufgestellt und Ètatverstärkungen vorgenommen. Warum hätte dies im Jahr 1913 nicht wiederum möglich sein sollen? Natürlich hätten sich die Étatverstärkungen dann nur in einem geringerem Umfang durchführen lassen als es der Generalstab wollte.

 

15.3

Die Ankündigung neuer Armeekorps hätte der Öffentlichkeit die militärische Schwäche des Reiches vor Augen geführt. Man möge sich die Zahlen vergegenwärtigen:

                                                                          

bis Herbst 1912 vorhanden                                                      23 Armeekorps (seit 1899)

ab Herbst 1912  vorhanden                                                     25 Armeekorps

von General v. Schlieffen (vergeblich) gefordert                     27 Armeekorps

von General v. Moltke (vergeblich) gefordert                         28 Armeekorps (mindestens)

 

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Der Abstand zwischen dem, was vorhanden war, und dem, was erforderlich war, lag bei über einem Zehntel. Das ließ nur eine Schlußfolgerung zu, nämlich dass seit 10 Jahren eine verfehlte Militärpolitik betrieben worden war.

                                                                                                                     

Die Kriegsminister hatten die Öffentlichkeit bewußt über die militärische Lage des Reiches im Unklaren gelassen.  Die Behauptung in der Begründung der Heeres-vorlage 1911, es bedürfe zur Zeit keiner Errichtung neuer größerer Verbände,  war falsch gewesen.  Bereits damals, Ende 1910, brauchte man neue Divisionen.

 

Wenn man jetzt, 1913, neue Armeekorps ankündigte, so wäre offenbar geworden, dass Reichskanzler und Kriegsminister die Öffentlichkeit seit Jahren hinters Licht geführt hatten.

 

Die Glaubwürdigkeit des Kriegsministers v. Heeringen stand in Frage. Die Heeresvorlage 1913 war die dritte in drei aufeinanderfolgenden Jahren. Das war außergewöhnlich und mit den politisch-militärischen Veränderungen des Jahres 1912 auf dem Balkan nicht zu recht-fertigen. Bei jeder neuen Vorlage wurde die frühere Vorlage als nicht mehr ausreichend bezeichnet, weil sich die Verhältnisse geändert hätten. Im Jahr 1913 glaubte das dem Kriegsminister niemand mehr. Einzelne Abgeordnete des Reichstags sprachen es aus, dass er sie in den Vorjahren nicht zutreffend unterrichtet hatte. Das wird in Abschnitt 21 des Aufsatzes dargelegt werden. Bei Ankündigung von neuen Armeekorps hätte sich ein Proteststurm entwickeln können. Es wäre ein Rücktritt des Kriegsministers v. Heeringen gefordert worden. (Zur Jahresmitte 1913, nach Verabschiedung der Heeresvorlage, ging v. Heeringen in den Ruhestand. Er hatte das Pensionsalter erreicht, und seine Stellung als Minister war unhaltbar geworden.) Ob Reichskanzler und Kaiser ungeschoren davon gekommen wären, ist zweifelhaft. Beschädigt worden wären sie auf alle Fälle.

                                                   

15.4

Die zahlenmäßige Überlegenheit der möglichen Gegner im Westen spielte für den General-stabchef die ausschlaggebende Rolle, in den Überlegungen von Kriegsminister v. Heeringen spielte sie überhaupt keine Rolle. Wie sein Amtsvorgänger v. Einem hatte er sich daran gewöhnt, sie als gegeben hinzunehmen. Man muss von  Verdrängung sprechen.

 

Maßgebend waren für v. Heeringen allein innenpolitische und persönliche Gesichtspunkte. Er war von vornherein entschlossen, dem Generalstabchef nicht nachzugeben. Planungen für neue Armeekorps wurden nicht eingeleitet. Das wäre Voraussetzung für eine Ankündigung in der Öffentlichkeit gewesen. Man hätte sagen müssen, wo und wie man neue Armeekorps aufstellen wollte. In Oberschlesien wäre ein neues Armeekorps begrüßt worden.

 

Die Verhandlungen über den Inhalt einer Heeresvorlage 1913 wurden zwischen dem Oberquartiermeister I im Generalstab, Georg Graf Waldersee (Lebensdauer 1860 – 1932) und dem Leiter der Zweiten Abteilung des Kriegsministeriums (Allgemeines Kriegsdepartement), Franz Wandel, geführt, jeweils unter Hinzuziehung weiterer Offiziere. Seinem Abteilungsleiter hatte der Kriegsminister den ausdrücklichen Befehl erteilt, dass die Forderung nach neuen Armeekorps nicht Verhandlungsgegenstand sein durfte (Reichsarchiv, Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, Textband, Seite 178). Dabei blieb er:

                                                                                                                                                                 

„Ich kann der Neubildung von drei Korps, d.h. ihrer sofortigen Ankündigung, nicht zustimmen, aus politischen, militärischen und schließlich auch aus persönlichen Gründen nicht.“

(Reichsarchiv aaO Seite 183)

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Man muss sehen, dass es zuvorderst um die Ankündigung ging. Bis zu einer konkreten Erörterung, wie die Aufstellung hätte erfolgen können, drang man nicht vor.

 

15.5

Der Reichskanzler forderte von Kriegsminister v. Heeringen die Ausarbeitung einer Heeres-vorlage 1913. Dieser trug am 23. Januar 1913 seine Vorschläge dem Kaiser vor. Der Generalstabchef wurde nicht hinzugezogen. v. Heeringen erhielt die Zustimmung des Kaisers für seine Heeresvorlage. Davon setzte er Generalstabchef v. Moltke in zwei Schreiben vom selben Tage in Kenntnis (Reichsarchiv, Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, I. Anlagenband, Erster Teil. A. Dokumente Nr. 58 und Nr. 59).

                                                                                                           

Der Kaiser habe sich, so teilte v. Heeringen mit, bei seinem Vortrag über eine Heeresvorlage sehr bestimmt gegen die Aufstellung von 3 neuen Armeekorps ausgesprochen und die Bitte v. Heeringens, zunächst mit dem Reichskanzler zu reden (der darüber zu entscheiden hatte! der Aufsatzverfasser), rundweg abgeschlagen. Der Kaiser sei damit einverstanden, dass die 3 Armeekorps als internes Ziel des Kriegsministeriums in Aussicht genommen würde. An die Öffentlichkeit solle mit einer solchen Absicht nicht getreten werden.                                                                                                                                                                                

Es ist festzuhalten:

 

Kaiser Wilhelm II. wollte aktuell keine Verminderung der zahlenmäßigen deutschen Unterlegenheit, und die Bevölkerung sollte weiterhin im Ungewissen über die wirkliche militärische Lage des Reiches bleiben.                                           

 

Kaiser Wilhelm II. hat das deutsche Heer im Jahr 1914 in voller Kenntnis von dessen zahlenmäßiger Unterlegenheit und der sich daraus ergebenden Gefahr einer Niederlage in den Krieg geschickt.

 

15.6

v. Moltke sah sich vor vollendete Tatsachen gestellt. In einer Besprechung mit dem Kaiser versuchte er nachträglich, diesen von seiner Auffassung zu überzeugen. Das gelang ihm nicht. Kaiser Wilhelm II. brachte v. Moltke  zu der Erklärung, er habe nicht eine sofortige Neu-aufstellung von Armeekorps gefordert. Damit war für den Kaiser das Problem gelöst. Mehr wollte er nicht wissen.

 

Es war das zweite Mal in der Regierungszeit Kaiser Wilhelms II., dass er einem Generalstabchef neue Armeekorps abschlug. Es sollte das letzte Mal sein.

 

Die Entscheidung Kaiser Wilhelms II. bedeutete ein Hinausschieben der 3 Armeekorps auf unbestimmte Zeit, denn ob es 1916 dazu kommen würde, war offen. Es ist durchaus zweifel-haft, ob sich die Öffentlichkeit und der Reichstag ein weiteres Mal auf eine Heeresverstär-kung eingelassen hätten. Eben darum wollte v. Moltke 1913 mit offenen Karten spielen.

 

Dass Kaiser Wilhelm II. neue Armeekorps ablehnte, ist nur mit einem Realitätsverlust erklärbar, der sich vermutlich über die Jahre hinweg verfestigt hatte. Kaiser Wilhelm II. begriff nicht, dass es um die Existenz des Reiches ging.  Er nahm die Tatsachen, welche die Denkschrift seines Generalstabchefs darlegte, zwar äußerlich zur Kenntnis - aber innerlich erfaßt und verarbeitet hat er sie nicht. Er  wollte  die Wahrheit nicht sehen. Der Befehl, den Wilhelm II. dem Kriegsminister erteilte, hatte Alibi-Charakter: Er hatte etwas veranlaßt - das erwartete man von ihm – aber es geschah nichts – und es sollte auch nichts geschehen.

 

Kriegsminister v. Heeringen hatte erreicht, was er wollte. Die Entscheidung des Kaisers war für ihn bindend. Er durfte keine Planungen veranlassen.

 

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15.7

Die Notwendigkeit neuer Armeekorps gestand Kriegsminister v. Heeringen dem General-stabchef ausdrücklich zu. Über den personellen Bedarf unterrichtet eine Aktennotiz, die v. Heeringen über eine Besprechung mit dem Reichskanzler am 05. März 1913 fertigte (Reichsarchiv, Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, I. Anlagenband, Erster Teil. A. Doku-mente Nr. 64).

 

Für die Aufstellung von drei Armeekorps war ein Mehrbedarf von ungefähr 1.900 Offizieren, 7.500 Unteroffizieren und jährlich 23.000 Rekruten  erforderlich. Die Friedenspräsenzstärke des Heeres an Mannschaften  würde sich um ungefähr 44.000 Mann erhöht haben.

 

Bei Aufstellung nur eines Armeekorps lag der errechnete Mehrbedarf bei 540 Offizieren, 2.200 Unteroffizieren und jährlich 6.200 Rekruten. Die Friedens-präsenzstärke hätte sich um 12.200 Mannschaften erhöht.

 

Beeindruckend sind diese Zahlen nicht. Man muss es deutlich sagen: Eine kriegs-entscheidende Verstärkung des Heeres an Formationen hätte nur eine geringe personelle Verstärkung erfordert. Sie wäre auch finanziell im Rahmen geblieben, siehe Abschnitt 15.5.

 

15.8

Anfang März 1913 entschied Reichskanzler v. Bethmann Hollweg, keine neuen Armeekorps aufzustellen. In der aktuellen Lage dürfte ihm angesichts des Widerstandes von Kriegs-minister und Kaiser nichts anderes übrig geblieben sein. Vielleicht war der Reichskanzler im Hinblick auf die Staatsfinanzen sogar erleichtert. Damit war die Erörterung für 1913 abgeschlossen. Von dem Verzicht auf neue Armeekorps führt ein gerader Weg zum Rückzug von der Marne am 9. September 1914 und damit zur Niederlage im 1. Weltkrieg.

 

Stichhaltig waren die Einwendungen des Kriegsministers nicht. Es ging um die Existenz des Reiches. Dagegen hätten alle Bedenken zurücktreten müssen. An keiner Stelle seiner schriftlich vorliegenden Argumentationsweisen geht v. Heeringen darauf ein, dass man durch kaiserlichen Befehl zwei neue Divisionen formieren konnte, und warum er dies dem Kaiser und dem Reichskanzler nicht vorschlug. Für einen Kriegsminister hätte dies eine Selbst-verständlichkeit sein müssen.

 

Geradezu peinlich berühren die Bemühungen v. Heeringens, die Verantwortung für die Schwäche des Heeres dem Generalstabchef zuzuschieben. Er selbst war keinen Augenblick lang bereit, diesen als gleichberechtigt anzuerkennen, wie sein Alleingang vom 23. Januar 1913 bei Kaiser Wilhelm II. zeigt. Wäre es nicht geboten gewesen, den Generalstabchef, um dessen Rüstungsprogramm es ging, zu der Besprechung hinzuziehen?

                                                                                                                                           

15.9

Zusammenfassend ist zu wiederholen:

Die Heeresvermehrung 1913 führte zu einer inneren Kräftigung des Heeres und leitete seine technische Modernisierung sowie eine Verjüngung der überalterten Kriegsformation in die Wege. Eine Erhöhung der Kriegsstärke des Heeres brachte sie nicht. Sie hatte keinen offensiven Charakter. Es blieb bei den 25 aktiven Armeekorps, die seit 1898 für den Kriegsfall vorgesehen waren. Die vom Generalstabchef geforderten neuen Armeekorps wären kriegs-entscheidend gewesen.

 

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16. Investitionen des Reichs in Heer und Kriegsmarine

 

Die Rüstungsausgaben für das Deutsche Reich wurden im alljährlichen Reichshaushaltsplan, damals „Reichshaushaltsetat“ genannt, ausgewiesen. Eine Zusammenfassung der Zahlen wurde im Reichsgesetzblatt veröffentlicht. Auf die Anlage zu diesem Aufsatz wird verwiesen. Im ordentlichen Haushalt ist zu unterscheiden

 

  • zwischen fortdauernden und einmaligen Ausgaben,
  • innerhalb dieser Positionen zwischen Heer und Kriegsmarine („Verwaltung des Reichsheeres“ und „Verwaltung der kaiserlichen Marine“)

 

Zu den fortdauernden Ausgaben gehörten der Personalaufwand und die laufenden Sach-aufwendungen. Für das Heer waren sie um ein Mehrfaches höher als diejenigen für die Kriegs-marine. Der Grund dafür liegt in dem höheren Personalbestand des Heeres, der schätzungs-weise das Zehnfache der Kriegsmarine betrug (nur als Orientierungswert, nicht als exakte Zahlenangabe zu verstehen).

 

Bei den einmaligen Ausgaben für das Heer läßt sich dem Reichsgesetzblatt nicht entnehmen, wofür sie anfielen. Jedenfalls handelte es sich um Investitionen, also um Sachaufwand. Als Beispiele genannt seien Kasernen- und Magazinbauten, Geschütze und Munition, technische Ausrüstung. Bei der Kriegsmarine tragen die einmaligen Ausgaben die Bezeichnung „Schiffsbauten und Armierung usw.“  Sie sind mit den Ausgaben des außerordentlichen Haushalts, soweit diese die Marine betreffen,  zusammenzurechnen. Sachlich gehören diese Ausgaben zusammen. Ein Teil der Ausgaben für "Schiffsbauten und Armierung usw." wurde im Kreditwege finanziert und darum dem außerordentlichen Haushalt zugewiesen.

 

Seit 1906 waren die einmaligen Aufwendungen bei der Kriegsmarine höher als beim Heer. In den Jahren 1910 und 1911 waren sie jeweils dreimal so hoch. Es wurde mehr in die Kriegs-marine investiert als in das Heer. Das gilt selbst dann, wenn man die einmaligen Kosten der Heeresverstärkung 1913 in die Betrachtung mit einbezieht. Durch sie holte das Heer gegenüber der Kriegsmarine auf, erreichte sie aber dennoch in der Gesamtsumme der ein-maligen Ausgaben nicht. In den ungenügenden Investitionen liegt eine wesentliche Ursache für die Niederlage von 1914.

 

16.1

Das finanzielle Volumen der Heeresvorlage 1913 sprengte alle bisherigen Vorstellungen:

 

Die Gesetzesbegründung in Anlage Nr. 869 vom 28. März 1913 (Reichstagsprotokolle 13. Legislaturperiode 1912/14,19,  siehe Teil A dieses Aufsatzes), spricht von einmaligen Kosten von voraussichtlich 884 Millionen Mark, davon 210 Millionen für Festungen, und von 183 Millionen fortdauernden Ausgaben als Gesamtkosten für die Jahre 1913 bis 1915.

 

Ein Teilbetrag dieser Ausgaben wurde in den Nachtragshaushalt 1913 vom 03. Juli 1913 eingestellt, der zusammen mit der Heeresvorlage verabschiedet wurde (Reichsgesetzblatt 1913 Seite 500 ff). Die Ausgaben traten dem Reichshaushaltsetat vom 4. Mai 1913 hinzu. Es ging um fortdauernde Ausgaben von 53.775.458 Mark und einmalige Ausgaben von insgesamt 406.876.751 Mark (ohne Festungen). Auf die Anlage zu diesem Aufsatz wird verwiesen.

 

Eine derart kostspielige Vorlage hatte es bis dahin im Deutschen Reiche nicht gegeben. Was war die Ursache dafür und wie ist dieses Volumen zu beurteilen?

 

 

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16.2

Die erste Ursache für den finanziellen Umfang der Vorlage ist, dass der im Heer vorhandene Investitionsstau abgebaut wurde. Dieser Stau hatte noch vor dem Amtsantritt des Kriegsministers v. Einem 1903 begonnen und erreichte bis 1913 eine Höhe von einigen hundert Millionen Mark.

 

Kriegsminister v. Heeringen ging von 522 Millionen Mark zum 31.3.1916 aus, die als Bedarf offen blieben, selbst wenn man die Rüstungsausgaben 1914 und 1915 erheblich steigerte (Schreiben des Kriegsministers v. Heeringen an Reichskanzler v. Bethmann Hollweg vom 2. Dezember 1912, Reichsarchiv, Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, I. Anlagenband Erster Teil A. Dokument Nr. 51).

 

Die Investitionen der Heeresvorlagen von 1905 und 1911 waren völlig unzureichend gewesen. Es geht um die materielle Ausstattung des Heeres, für die zu Beginn dieses Abschnitts Beispiele gegeben wurden. Dies waren die Positionen, die hohe einmalige Ausgaben verursachten. Hier setzte Kriegsminister v. Heeringen bei seiner Heeresvorlage 1913 an.

 

16.3

Eine zweite Ursache ist, dass die Investitionen, die infolge der Sanierung der Staatsfinanzen in den Jahren 1909 bis 1911 unterlassen wurden, nachgeholt wurden.

 

Die Reichsleitung führte seit dem Jahr 1909 eine Sanierung des Staatshaushalts durch. Die Haushaltsdefizite der vergangenen Jahre waren zu tilgen, und es durfte zukünftig keine Haushaltsdefizite mehr geben. Zu diesem Zwecke verfolgte Adolf Wermuth, Staatssekretär im Reichsschatzamt von Juli 1909 bis März 1912, eine rigorose Sparpolitik. Er stellte den Grundsatz auf „Keine Ausgabe ohne Deckung“ und setzte ihn gegenüber allen Reichs-behörden, auch der Heeresverwaltung gegenüber, konsequent durch. Der Kriegs-minister durfte nur ausgeben, was ihm das Reichsschatzamt zuvor bewilligt hatte. Die militärischen Erfordernisse kümmerten das Reichsschatzamt nicht (was man nicht unbedingt kritisieren kann, da es Sache des Kriegsministers war, diese zu artikulieren). Diese Politik hatte die volle Unterstützung des Reichskanzlers v. Bethmann Hollweg. Er gab beim Heer der Sparpolitik den Vorrang vor den militärischen Erfordernissen.

 

Vom Kriegsminister wurden Einsparungen gefordert. Dabei ist zwischen fortdauernden und einmaligen Ausgaben sowie den Ausgaben für den Festungsbau zu unterscheiden:

 

  • Die fortdauernden Ausgaben des Heeres waren weitestgehend vorgegeben. Einsparungen waren nur in geringem Umfang möglich. Bei den Militärkapellen wurden 1000 Mann gestrichen. Im Jahr 1911 wurde der Präsenzstand eines Teils der Bataillone bei der Infanterie und der Fußartillerie abgesenkt, um Personal für die neuen Maschinengewehrkompanien zu gewinnen. Durch die Absenkungen wurde die Axt an die Wurzel des Heeres gelegt.

 

  • Unmittelbare Einsparungen ließen sich bei den  Investitionen und den Ausgaben für den Festungsbau erzielen, indem die Ausgabenansätze gekürzt wurden. Das betraf Ersatzbauten von baufälligen Kasernen ebenso wie die Anschaffung von Geschützen und Munition, Maschinengewehren, technischer Ausrüstung, Kraftfahrzeugen und Flugzeugen. Die einmaligen Ausgaben des Heeres sowie die Ausgaben für Festungen wurden als Manövriermasse benutzt, um den Staatshaushalt auszugleichen.

 

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Der Rückgang der einmaligen Ausgaben, also der Investitionen, war dramatisch. Er ist aus der Anlage zu diesem Aufsatz ersichtlich. Von 127 Millionen Mark im Jahr 1908 sanken die Investitionen über 99 Millionen im Jahr 1909 auf jeweils 77,6 bzw. 77,5 Millionen Mark in den Jahren 1910 und 1911. Das Heer lebte aus der Substanz.

                                                                                                                                    

16.4

Im Jahr 1912  wurden die einmaligen Ausgaben für das Heer gegenüber dem Vorjahr verdoppelt.  Dennoch sah sich Kriegsminister v.  Heeringen genötigt, Abstriche von den Investitionen zu machen, um wenigstens seine Hauptforderungen durchzubringen. Es kann allenfalls von einem geringfügigen Abbau des Investitionsstaus gesprochen werden. Die Sparpolitik wurde nicht aufgegeben. Im Gegenteil war der Reichskanzler entschlossen, beim Reichshaushaltsetat 1913 äußerste Sparsamkeit walten zu lassen, damit kein neues Haushaltsdefizit entstand.

 

Erst mit der  Heeresvorlage 1913 wurde an eine Befriedigung des Nachholbedarfs herangegangen.  Es gelang dies vor Kriegsausbruch 1914 nur unvollständig. Bestimmte Maß-nahmen - z.B. Munitionsproduktion, die Aufstellung technischer Einheiten, Flugzeugbau  - brauchten Zeit. Man konnte die Unterlassungen mehrerer Jahre nicht kurzfristig beseitigen.

 

Eine vollständige Befriedigung des Nachholbedarfs hatte die Heeresvorlage 1913 nicht zum Ziel. Nach wie vor arbeitete das Kriegsministerium mit einem Verweis auf die Zukunft, sei es hinsichtlich einer weiteren Verstärkung des Trains und der Pioniere, oder der Anschaffung von Flugzeugen und Kraftfahrzeugen oder eben der Neuaufstellung von drei weiteren Armeekorps. Man lief technischen und militärischen Entwicklungen hinterher und glaubte auf diese Weise Geld zu sparen.

 

Die Kosten der vom Generalstabchef geforderten drei Armeekorps wurden im Kriegs-ministerium auf rund 87 Millionen fortdauernde und 337 Millionen Mark einmalige Ausgaben veranschlagt (Reichsarchiv, Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, Textband Seite 176). Für sich genommen ist es ein verhältnismäßig geringer Betrag, den eine kriegsentscheidende Verstärkung des Friedensheeres gekostet haben würde.

 

16.5

       Die Ausgaben für die Kriegsmarine waren seit 1900 alljährlich gesteigert worden. Innerhalb von zehn Jahren verdoppelten sie sich. Das Wachstum betraf sowohl die fortdauernden als auch die einmaligen Ausgaben. Seit dem Jahr 1906 eilten die Ausgaben für „Schiffsbauten  und Armierung usw“ den fortdauernden Ausgaben davon. Der Abstand wurde alljährlich größer. Die Schlachtschiffe der Dreadnought-Klasse waren erheblich teurer als die  zuvor gebauten Schlachtschiffe. Die deutschen Reichsfinanzen liefen vollends aus dem Ruder.

 

Die Haushaltssanierung der Reichsleitung ab dem Jahr 1909 änderte nichts daran, dass die Ausgaben für die Kriegsmarine alljährlich weiterstiegen. Für das Jahr 1913 ist ein diffe-renziertes Bild zu zeichnen (siehe Anlage zu diesem Aufsatz):

 

Die fortdauernden Ausgaben stiegen weiterhin kräftig an; vermutlich eine Folge der erhöhten Kriegs-bereitschaft der Flotte durch die Flottennovelle 1912.

Die einmaligen Ausgaben verzeichnen eine leichten Rückgang gegenüber 1912.

Der Anteil des außerordentlichen Haushalts ist deutlich rückläufig. Die Kreditaufnahme wurde vermindert. Offenbar war die Haushaltssanierung des Reichsschatzamtes erfolg-reich.

 

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Im Haushaltsplan 1914 setzen sich diese Tendenzen fort. Die Rüstungsausgaben werden aus den laufenden Staatseinnahmen und nur noch in geringem Umfange über Kredite finanziert.

                                                                                                                                             

16.6

Seit dem Reichskanzler Bernhard v. Bülow (1900 -1909) ist von einem politischen Vorrang der Kriegsmarine vor dem Heer zu sprechen. Er läßt sich anhand von  Zahlen aufzeigen, indem man den Anteil von Heer und Marine an den Rüstungsausgaben darstellt. Legt man die Angaben des Reichsarchivs (Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, I. Anlagenband, Dritter Teil, Tabelle 21) zugrunde, so ergeben sich folgende Verhältniszahlen:

 

       Jahr                     Anteil Heer                            Anteil Kriegsmarine        Summe

 

       1902                    77,10 %                                  22,90 %                                  100 %

 

       1906                    76,02 %                                  23,98 %                                  100 %

 

       1908                    73,39 %                                  26,61 %                                  100 %

 

       1909                    69,96 %                                  30,04 %                                  100 %

 

       1910                    67,26 %                                  32,74 %                                  100 %

 

       1911                    66,95 %                                  33,05 %                                  100 %

 

       1912                    69,43 %                                  30,57 %                                  100 %

 

       1913                    77,20 %                                  22,80 %                                  100 %

 

       Der Anteil des Heeres zeigt über die hier erfaßten Jahre hinweg eine sinkende, der Anteil der Kriegsmarine eine steigende Tendenz. Auffallend ist der Rückgang des Heeresanteils bzw. das Steigen des Anteils der Kriegsmarine in den Jahren 1908 bis 1911. Erst 1912 legt der Anteil des Heeres wieder zu, und 1913 wird ungefähr das Verhältnis des Jahres 1902 wieder hergestellt.

 

       Mit dem Vorrang der Kriegsmarine grub sich das Deutsche Reich selbst sein Grab.

 

 

       16.7                                            

       Mit dem Nachtragshaushalt des Jahres 1913 erhielten die einmaligen Ausgaben des Heeres

 

für dieses Jahr

 

ein Übergewicht über die der Kriegsmarine. Dass das Heer in Zukunft den Vorrang vor der Marine erhalten sollte, läßt sich daraus aber nicht ableiten. Durchaus möglich ist es aber, dass Kaiser Wilhelm II. genau dieses befürchtete und eben darum der Aufstellung neuer Armeekorps entgegentrat. Im Reichshaushaltsetat 1914 kam es zu einem Gleichgewicht der Investitionen in Heer und Marine. Vermutlich wäre bei Fortdauer des Friedens ab 1915 wieder der Vorrang der Marine hergestellt worden. Die Fehlentwicklung hätte sich fortgesetzt. Eine Befriedigung der materiellen Bedürfnisse des Heeres wäre erneut nicht möglich gewesen.

 

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Der finanzielle Bedarf, der für die materielle Ausstattung des Heeres erforderlich war, stieg seit 1900 unaufhaltsam an. Seine Ursache hatte dies in der sprunghaften Weiterentwicklung der Technik. Man denke nur an den Ausbau der Telegraphenorganisation, an die Kapazitäten für die Munitionsherstellung, die wegen der Rohrrücklaufgeschütze hätten erhöht werden müssen, oder an die Einführung von Kraftfahrzeugen. Die Nutzbarmachung des Flugzeugs für militärische Zwecke machte die bisherige Finanzplanung des Reichsschatzamtes zur Makulatur.

 

Das Kriegsministerium pflegte eine Verweigerungshaltung. Notwendige Ausgaben wurden hinausgeschoben in eine immer weitere Zukunft. Die Folge war eine unzureichende technische Ausstattung des Heeres bei Kriegsbeginn 1914.  

 

Auf die Dauer wäre diese Militärpolitik, selbst wenn es nicht 1914 zum Kriegsausbruch gekommen wäre,  nicht durchzuhalten gewesen. Die Einführung einer Jahres-Einkommen-steuer wäre unabdingbar geworden. Das dritte aktive Geschwader der Kriegsmarine wäre nicht dauerhaft finanzierbar gewesen. Bereits die Flottennovelle 1912 war ein weiterer Schritt auf einem gefährlichen Irrweg.   Mit den finanziellen Ressourcen des britischen Empire konnte das Deutsche Reich nicht in Konkurrenz treten. Eine Rücknahme und ein Rückbau der Flotte waren unabdingbar notwendig. Soweit war man aber gedanklich im Reichstag in den Jahren 1913 und 1914 noch nicht -  und allein der Reichstag wäre politisch in der Lage gewesen, einen Rückbau zu erzwingen.

 

 

17. Reichskanzler v. Bethmann Hollweg (1909-1917)

       Hier: Begründung der Heeresvorlage 1913

http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k13_bsb00003385_00060.html

 

In den ersten drei Jahren seiner Amtszeit als Reichskanzler hatte v. Bethmann Hollweg die Sanierung der Staatsfinanzen vorangetrieben, ohne Rücksicht auf die militärische Lage des Reiches zu nehmen. Die Heeresvorlage 1912 stellte aus seiner Sicht eine Ausnahme dar. Sie war außenpolitisch veranlaßt gewesen. Die bisherige Zurückhaltung bei den Rüstungs-ausgaben für das Heer wurde durch sie eingeschränkt, aber das Ziel der Haushaltssanierung nicht aufgegeben.

 

Mit der Heeresvorlage 1913 nahm v. Bethmann Hollweg einen Kurswechsel vor. Die militärische Lage erforderte eine Heeresverstärkung, und zu diesem Zweck mußte – was bis dahin ein absolutes Tabu gewesen war - eine neue Steuer eingeführt werden. Die Staatseinnahmen mußten sich nach dem militärischen Bedarf richten und nicht umgekehrt wie bisher. Der äußere Anlaß waren die Balkankriege, welche die militärische Lage der Mittel-mächte in dramatischer Weise verschlechtert hatten. Eine militärische Antwort auf diese Verschlechterung war die Heeresvorlage jedoch nicht. Es ging allein um die Sicherung der Reichsgrenzen und den Abbau des Investitionsstaus. Das wurde der Öffentlichkeit gegenüber nicht ausgesprochen.

 

v. Bethmann Hollweg brachte die Heeresvorlage am 7. April 1913 in den Reichstag ein. Seine Begründungsrede war in sich schlüssig. In den militärischen Ausführungen differenzierte er zwischen den möglichen Gegnern in einem zukünftigen Krieg:

 

- 52 -

 

17.1

Was die militärische Lage gegenüber Frankreich anging, so legte der Reichskanzler die französische Sichtweise dar:

 

"Man glaubt uns, wenn nicht überlegen, so doch zum mindesten gewachsen zu sein im Vertrauen auf das Bündnis mit Russland, vielleicht auch in der Hoffnung auf England...

... jenseits der Vogesen ist eine chauvinistische Literatur entstanden, die, wenn sie mit berechtigtem Stolz von der Armee spricht, es tut, um im Vergleich mit der deutschen Armee unsere Unterlegenheit in einem Zukunftskriege darzutun. Man pocht auf die Überlegenheit der französischen Artillerie, auf den Vorsprung der französischen Fliegerkunst, auf die bessere Ausbildung des französischen Feld-soldaten, und man sieht dabei schon im voraus die Massen russischer Kavallerie und russischer Infanterie unser Land überschwemmen..."

 

Inwieweit die französische Sichtweise tatsächlich zutraf, ließ der Reichsanzler offen. Auf die Stärke des deutschen Heeres ging er nicht ein. Eine Deutung seiner Ausführungen dahingehend, dass Frankreich eine militärische Überlegenheit besaß, war möglich. Daran zu denken, dass dies zutraf, wagten im Deutschen Reich nur wenige.

 

Was den Ausgang eines künftigen Krieges anging, hielt sich der Reichskanzler bedeckt. Er sagte:

 

„Die Chancen eines Zukunftskrieges, in dem Millionenheere, ausgerüstet mit den modernsten Waffen, gegeneinander geführt werden, sind jetzt noch schwerer vorauszusehen als früher…“

 

Zahlen für die militärischen Kräfteverhältnisse sollte  der Kriegsminister vor der Budget-kommission des Reichstages nennen.

                                                                                                              

17.2

Was Russland anging, so war die Sachlage für den Reichskanzler eindeutig:

 

"Mit unserem russischen Nachbarn können wir überhaupt nicht um die Wette rüsten. Der russische Zar wird immer sehr viel mehr Soldaten aufstellen können als wir."

 

Das war allgemeine Überzeugung, auch die des Generalstabs. Damit war aber die Frage nicht beantwortet, wie man militärisch der wachsenden Macht Russlands begegnen wollte.

 

Unausgesprochen gingen Reichskanzler und Generalstabchef davon aus, dass ein russischer Angriff gegen beide Mittelmächte, Deutschland und das ihm verbündete Österreich-Ungarn, gerichtet sein würde. Die Hauptmasse der russischen Streitkräfte war gegen Österreich-Ungarn zu erwarten.

 

Der Aufmarsch des k.u.k. Feldheeres in Südpolen und Galizien deckte Oberschlesien, das zum Deutschen Reich gehörte, vor einem russischen Angriff. Das oberschlesische Industriegebiet, hart an der Reichsgrenze, mit seinen Bergwerken war für Deutschland (über-) lebenswichtig. Solange das k.u.k. Feldheer gegen die zu erwartende russische Übermacht standhielt, war Oberschlesien gesichert.

 

- 53 -

 

Ging man von einem Standhalten des k.u.k. Feldheeres aus, so war es Deutschland möglich, sich auf die Verteidigung der Provinzen Ost- und Westpreußen sowie Posen zu beschränken. Selbst dafür standen nur schwache Kräfte zur Verfügung. Es war eine mindestens doppelte russische Übermacht zu erwarten. Die Provinzen konnten - aus Vorkriegssicht! –  nur erfolgreich verteidigt werden, wenn die eigenen Kräfte einen Rückhalt an starken Festungen hatten - die darum ausgebaut werden sollten.

 

Das war freilich nur ein Kampf um Zeit. Die Hoffnung - mehr als eine Hoffnung war es nicht - war, man werde im Westen bald in der Lage sein, Truppen abzuziehen und nach dem Osten zu schicken. Sobald im Osten eine genügende Truppenstärke vorhanden gewesen wäre, konnte man zum Gegenangriff übergehen - so die Denkweise. Deutschland und Österreich-Ungarn zusammengenommen sollten Russland militärisch gewachsen sein.

 

Das Deutsche Reich konnte sich zwischen den europäischen Flügel-mächten nur dann als selbständige Macht behaupten, wenn es Bundesgenossen in Gestalt des Dreibunds hatte. Er war unverzichtbar.

 

17.3

Die Rede des Reichskanzlers bietet auch ein Jahrhundert später, nachdem sie gehalten wurde, keinen Anlass zur Kritik. Die militärische und politische Bedrohungslage wurde zutreffend dargestellt. Der französische Generalstab war im Jahr 1911 von einer Defensivstrategie zu einer Offensivstrategie übergegangen. Frankreich fühlte sich stark genug, um es mit dem Deutschen Reich aufzunehmen. v. Bethmann Hollweg vermied es jedoch sorgfältig, in politischer Hinsicht Öl ins Feuer zu gießen. Über Frankreich sagte er:

 

„Unsere Beziehungen zu der französischen Regierung sind gut. Bismarck hat in seiner großen Rede vom 11. Januar 1887 das Verhältnis von Deutschland zu Frankreich geschildert… Bismarck sagte damals: „Wenn die Franzosen so lange Frieden halten wollen, bis wir sie angreifen, wenn wir dessen sicher wären, dann wäre der Friede ja für immer gesichert.“ Daran hat sich nichts geändert…

Ich habe allen Grund, zu glauben, dass die gegenwärtige französische Regierung in nachbarlichen Frieden mit uns zu leben wünscht…“

 

Was Russland angeht, sprach v. Bethmann Hollweg von „freundschaftlichen Beziehungen“. Den konservativen Abgeordneten im Reichstag war dies ein Herzensanliegen.                                                                           

 

An einer Verbesserung der Beziehungen zu England arbeitete v. Bethmann Hollweg und auch darin fand er die volle Zustimmung des Reichstags.

 

Chauvinistischen Neigungen war von Bethmann Hollweg entschieden abgeneigt. Das hatte er oftmals unter Beweis gestellt. Auch hierin hatte er den Reichstag auf seiner Seite.

 

 

18. Kriegsminister v. Heeringen (1909-1913)

       Hier: Begründung der Heeresvorlage 1913

http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k13_bsb00003385_00063.html

 

Es war Sache des Kriegsministers, die Heeresvorlage militärisch zu erläutern und zu begründen. Um es vorwegzunehmen: Es wurde eine Enttäuschung für die Abgeordneten. Die Begründung beschränkte sich auf einige wenige Sätze. Im Übrigen referierte der Kriegsminister den Inhalt der Heeresvorlage, wie er in der Gesetzesbegründung stand.

 

- 54 -

18.1

       Die zentrale Aussage des Kriegsministers lautete:

      

„Bei Einbringung des Gesetzes 1912 betonte ich, dass die Überlegenheit unserer Armee gegenüber etwaigen Gegnern nicht gesucht werden könnte, im Überbieten an Zahl gegenüber allen etwaigen Gegnern, sondern in der guten Disziplin, Organisation, Ausbildung und Führung. Aber die eifrige und sachgemäße Arbeit in den Heeren unserer Nachbarn und die sehr bedeutenden Mittel, die dort auf deren Vervollkommnung verwandt werden, lassen einen Vorsprung der deutschen Armee auf diesen Gebieten immer mehr verschwinden.

 

Umso größere Bedeutung gewinnt nunmehr der ziffernmäßige Vergleich unserer Wehrkräfte gegenüber denen der anderen Staaten.

(Hervorhebung durch den Aufsatzverfasser)

 

Erschien die Verstärkung, die durch das Friedenspräsenzgesetz des Jahres 1912 dem Heer zuwachsen sollte, unter den damaligen Verhältnissen ausreichend, so ist es unter den seitdem eingetretenen und in den heute in der Entwicklung begriffenen Verhältnissen nicht mehr der Fall…

Werden die Gesetzentwürfe einer Kommission überwiesen, so wird ihnen dort das einzelne auseinandergesetzt werden.“

 

Welche Verhältnisse das waren, dazu sagte v. Heeringen nichts. Das war in hohem Maße unbefriedigend. Zwar konnte man nicht erwarten, dass der dass der Kriegsminister die militärischen Kräfteverhältnisse im Einzelnen offenlegte. Aber eine Erläuterung seiner grundsätzlichen Sichtweise auf die Lage des Reiches in Europa hätten die Abgeordneten erwarten dürfen. Es ging um eine Milliardenvorlage, wie sie es bisher nicht gegeben hatte. Verständlich wird die Haltung v. Heeringens nur, weil er nicht zugeben konnte, dass das deutsche Heer seinen potentiellen Gegnern im Westen zahlenmäßig unterlegen war.

 

Es gab Abgeordnete, welche in der dürftigen Begründung eine Mißachtung des Reichstages sahen.

 

18.2

Ein ziffernmäßiger Vergleich der eigenen Wehrkräfte mit denen der Nachbarstaaten im Jahr 1913 ergab, dass im Jahr 1912 keine ausreichende Verstärkung des Heeres eingetreten war – das war der Sinn der Ausführungen des Kriegsministers.

 

Die Folgerung daraus musste sein, die eigenen Wehrkräfte ausreichend zu verstärken. Am 22. April 1912 hatte v. Heeringen vor dem Reichstag ausgeführt:

                                                                                                  

"Erwägt man aber das Für und Wider eines etwaigen Feldzuges, so bietet die Gegenüberstellung der beiderseitigen Streitkräfte die einzige wirklich positive Unterlage. In den ... Wechselfällen des Krieges spielt die Zahl eine wichtige Rolle. Es muß daher sehr vorsichtig abgewogen werden, inwieweit man den Rüstungen anderer Staaten mit den eigenen Friedensvorbereitungen folgen muss..."

 

Das war es, was der Abteilungsleiter im Generalstab, Oberst Ludendorff, in den von ihm durchzuführenden „Kriegsspielen“ getan hatte. Das Ergebnis war sein Entwurf eines Rüstungsprogramms in der Denkschrift des Generalstabchefs vom 21. Dezember 1912 und die Feststellung, dass eine positive Prognose für den Ausgang eines künftigen Krieges nicht möglich war. Generalstabchef und Kriegsminister sprachen von "Zuversicht". Das war ein subjektives Empfinden, das sich nicht auf Realitäten stützte.

 

- 55 -

 

In der Rede des Kriegsministers v. Heeringen besteht ein logischer Bruch. Wenn der ziffernmäßige Vergleich der Streitkräfte größere Bedeutung gewann, so mußte die Anzahl der Kriegsformationen des Heeres erhöht werden. Diese Folgerung zog v. Heeringen aber nicht. Stattdessen sagte er:

 

„Deutschland darf …. heute nicht zögern, seine Rüstung erheblich zu verbessern, wenn diese geeignet sein soll, in den Frieden zu sichern oder uns im Falle eines Krieges den Sieg zu verbürgen….“

 

Damit ist man wieder bei den „Meliorationen“, die v. Heeringen am 9. Dezember 1910 als den Zweck des Heeresgesetzes 1911 bezeichnet hatte. Darüber wollte er nicht hinausgehen (siehe dazu bereits vorstehenden Abschnitt 14.4) Eine ziffernmäßige Verstärkung des Heeres an Formationen für den Kriegsfall lehnte v. Heeringen unerschütterlich ab. Er sagte jetzt, am 7. April 1913:

 

„Es handelt sich … weniger um eine akute Gefahr, die heute bereits Deutschland drohen könnte. Kriegerischen Verwicklungen in der Gegenwart würde das deutsche Heer heute auch mit Zuversicht entgegen sehen können.“

 

Nicht einmal anderthalb Jahre später erwies sich diese Behauptung als eine Fehlprognose. Das stellte sich innerhalb der ersten sieben Kriegswochen heraus. v. Heeringens Militärpolitik war gescheitert - und mit ihr das Deutsche Reich.

 

18.3

Kriegsminister v. Heeringen behauptete, es sei ein altbewährter Grundsatz: "Im Felde entscheidet die innere Güte der Truppen".

 

Dem war entgegen zu halten, dass der Krieg von 1870 nicht durch diese - unbestritten vorhandene - Güte, sondern durch die zahlenmäßige Überlegenheit der deutschen Truppen entschieden worden war. Die verbündeten deutschen Heere waren bei Kriegsbeginn ihrem französischen Gegner bei der Infanterie um 105 Bataillone und bei der Artillerie um 600 Geschütze überlegen. Dem damaligen preußischen Generalstabchef v. Moltke gelang es mit Hilfe dieser Überlegenheit, den Gegner auszumanövrieren, sodaß ihm nur die Kapitulation übrig blieb. Ansonsten wäre er von den deutschen Geschützen bereits aus der Entfernung zusammengeschossen worden. Den französischen Soldaten hätte ihre Tapferkeit nichts genutzt.

 

Sowohl Reichskanzler v. Caprivi als auch Generalstabchef v. Schlieffen waren davon ausgegangen, dass man von der Güte des Heeres nicht zu viel verlangen dürfe.

                                                                                                                                             

In einem künftigen Krieg lagen die Verhältnisse bei der Infanterie umgekehrt wie 1870. Bei der Artillerie sah der deutsche Generalstab vor 1914 eine deutsche Überlegenheit durch die schweren Feldhaubitzen. Ob diese dazu ausreichen würde, die eigene Unterlegenheit an Infanterie auszugleichen, war fraglich. Bei der Feldartillerie wußte man, dass der französische Generalstab eine französische Überlegenheit sah. Die französische Luftüberlegenheit war unbestritten. Es lag kein Grund vor, warum das deutsche Heer trotz seiner zahlenmäßigen Unterlegenheit an Formationen dem französischen Heer überlegen oder gewachsen sein sollte.

 

"Innere Güte" war kein Ersatz für eine ausreichende Anzahl an Divisionen mit voller Kriegs-ausrüstung.

 

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18.4

Wie das Deutsche Reich es fertig brachte, Frankreich gegenüber zahlenmäßig unterlegen zu sein, ist nicht einsichtig. Das gilt selbst dann, wenn man berücksichtigt, dass mehr als ein Zehntel des deutschen Heeres im Osten gegen Russland gebunden war.

 

Die Einwohnerzahl Frankreichs wurde damals mit 40 Millionen angegeben. Im Deutschen Reich hatte im Jahr 1910 eine Volkszählung eine Einwohnerzahl von 65 Millionen ergeben. Warum war es dem Deutschen Reich nicht möglich gewesen, gegenüber den Gegnern im Westen eine gleiche Truppenzahl zu erreichen? Warum wurde dieses Ziel nicht angestrebt?

 

Die militärisch-politische Führung des Reiches sah das eigene Heer als etwas Gegebenes an. Es bedurfte der Verbesserung, aber keiner Weiterentwicklung seiner Organisation. Einer Ergänzung bedurfte die Rüstung hinsichtlich der Schaffung einer Schlachtflotte. In dieser Beschränkung des eigenen Gesichtskreises einerseits und ihrer Erweiterung andererseits liegt eine der tieferen Ursachen für die Niederlage von 1914. Es waren nicht, oder zumindest nicht allein, äußere Umstände, die in die Katastrophe führten.

 

 

19.  Kriegsminister v. Heeringen (1909-1913)

 

19.  Kriegsminister v. Heeringen (1909-1913)

       Hier: Informationspolitik gegenüber dem Reichstag

 

Zur Informationspolitik des Kriegsministers v. Heeringen gegenüber dem Reichstag paßt ein Wort des Max Piccolomini aus Schillers "Wallenstein" (Wallensteins Tod, Zweiter Aufzug, Siebenter Auftritt):

 

"Wahrhaftigkeit, die reine, hätt uns alle,

die welterhaltende, gerettet."

 

Die Kriegsminister v. Einem und v. Heeringen vermittelten dem Plenum des Reichstags kein wirklichkeitsgetreues Bild von dem Zustand des Heeres und der militärischen Lage des Reiches in Europa. Sie sahen ihre Aufgabe nicht darin, dies zu tun. Ihr Auftreten in der Öffentlichkeit vermittelte den Eindruck, mit dem Heer sei alles in Ordnung, von einigen notwendigen Ergänzungen abgesehen. Der Reichstag sah keinen Anlaß, eine Initiative zu ergreifen und über eine Heeresverstärkung nachzudenken. Die Mehrheit der Abgeordneten setzte ihr Vertrauen in den Kriegsminister, der fordern werde, was erforderlich sei. Das war seine Aufgabe. Warum sollten die Abgeordneten mehr fordern?

 

Mit der Heeresvorlage 1911 erhob sich Kritik in der Öffentlichkeit. Es war offensichtlich, dass diese Vorlage völlig ungenügend war. Im Jahr 1912 kam es zur Gründung des Deutschen Wehrvereins. Auslöser war die zweite Marokkokrise im Herbst 1911, die zu der Flottennovelle und Heeresverstärkung von 1912 geführt hatte, siehe Abschnitt 9 dieses Aufsatzes. Im Gegensatz zum Flottenverein diente der Wehrverein nicht der Reichsleitung als Werbemittel für eine Heeresrüstung. In deren Hand wäre ein solches Werbemittel geeignet gewesen, sachlich berechtigte Rüstungsforderungen der Öffentlichkeit mitzuteilen und nationalen Überschwang zu domestizieren. Reichskanzler v. Bethmann Hollweg sah indessen – durchaus zutreffend - im Wehrverein einen Angriff auf seine Politik und war keineswegs bereit, sich von außen in diese hineinreden zu lassen.

 

Als Ergebnis ist festzuhalten, dass die Öffentlichkeit in Deutschland, trotz der Agitation des Wehrvereins, zu Unrecht auf die Stärke des deutschen Heeres vertraute und mit diesem Vertrauen in den Krieg zog. Aus dieser Sichtweise heraus war die Niederlage unbegreiflich.

 

19.1

Die amtliche Begründung des Heeresgesetzes 1911 widersprach den militärischen Tatsachen. Dort wurde behauptet:

 

„Zwar ist der Rahmen des Heeres, wie er durch das Gesetz vom 25. März 1899, betreffend Änderungen des Reichsmilitärgesetzes, festgelegt wurde, auch heute noch als ausreichend anzusehen; es bedarf zur Zeit keiner Errichtung neuer größerer Verbände…“

Reichstagsprotokolle 12. Legislaturperiode 1911,15

Anlage Nr. 553 vom 26. November 1910

http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k12_bsb00003344_00210.html

 

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Das war eine politische Sichtweise, wie man aus der Denkschrift des Abteilungsleiters Franz Wandel im Kriegsministerium vom 29. November 1911 weiß (Reichsarchiv, Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, I. Anlagenband, Erster Teil A. Dokument Nr. 41). Darin heißt es:

 

„Als sicheren Gegner hatten wir damals (bei der Einbringung des Heeresgesetzes 1911 in den Reichstag im Dezember 1910, der Aufsatzverfasser) nur Frankreich zu erwarten. Rußland war allerdings ihm verbündet, doch konnte man … annehmen, dass es, wenn überhaupt, nur mit halbem Herzen an einem deutsch-französischen Kriege teilnehmen würde. Die Entente mit England schien mehr auf dessen moralische Unterstützung, als auf eine tatsächliche Mitwirkung von Heer und Flotte berechnet. Zog man in Betracht, dass … Italien wenigstens einen gewissen Teil des franz. Heeres fesseln würde, so konnte Deutschland mit Vertrauen einem Kriege entgegensehen….“

 

Man malte sich im Kriegsministerium die Welt so, wie man sie haben wollte, voller politischer Illusionen, und nicht nach dem militärischen Bedarf. Geht man nach dem Wortlaut des Textes, so brauchte Deutschland selbst für einen Krieg allein gegen Frankreich die Unterstützung Italiens. Das hätte man den Abgeordneten des Reichstags sagen müssen! Es wurde gegenüber der Öffentlichkeit ein falscher Eindruck erweckt.

 

19.2

Bei der Erörterung der Heeresvorlage 1911 (welche die Planungsziele der Militärverwaltung für den Zeitraum vom 1.4.1911 bis 31.3.1916 festschreiben sollte) waren im Reichstag und außerhalb des Reichstags Bedenken geäußert worden, ob diese ausreichend sei? Erwähnt wird unter anderem eine Kritik im Deutschen Offiziersblatt Nr. 3 vom 19. Januar 1911, wonach bei der Heeresvorlage

 

"die finanziellen Erwägungen den Vorrang vor denen der Staatsnotwendigkeit davon-getragen haben".

 

In der Budgetkommission des Reichstags hatte v. Heeringen auf diese Kritik hin

 

"auf das bestimmteste"

erklärt,

"daß er die Verantwortung dafür übernehme, dass das, was für die nächsten fünf Jahre gefordert wird, dem Bedürfnis genügt."

                                                                                                                                                                                

So sagte es der Abgeordnete Speck (Zentrum), der als erster Redner nach dem Berichterstatter der Budgetkommission das Wort ergriff, am 23. Februar 1911 vor dem Reichstag.

 

Daraufhin, so der Abgeordnete Speck, seien in der Kommission die Bedenken sofort verstummt.

http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k12_bsb00003330_00356.html

 

Vielleicht hätten die Abgeordneten der Kommission den Bedenken der Offiziere  nachgehen sollen? Stattdessen sprach der Abgeordnete Speck der Heeresverwaltung Anerkennung dafür aus, "dass sie sich auf das notwendigste bei dieser Vorlage beschränkt hat, und zwar aus Rücksicht auf unsere finanzielle Lage".

 

Die Kritik des Deutschen Offiziersblattes stellte den Sachverhalt zutreffend dar. Kriegsminister v. Heeringen handelte wider besseres Wissen. Um  das Verhalten der Politiker zu erklären, sei gesagt, dass im Januar 1912 Reichstagswahlen bevorstanden und bereits im Dezember 1910 Wahlkampf herrschte.

 

- 58 -

 

19.3

Die Beweggründe für die Heeresvorlage 1912 lagen im politischen Bereich; die militärische Notwendigkeit war vorhanden, spielte jedoch eine untergeordnete Rolle. Die Vorlage erfolgte auf Drängen der Reichsleitung und entsprechend dem Willen des Kaisers. Es sollte eine Demonstration sein, wozu das Reich in der Lage war. Die Gesetzesbegründung nennt als Inhalt der Vorlage:

 

Maßnahmen, die für die Jahre 1914 und 1915 vorgesehen waren, sollten zeitlich vorgezogen werden. Das Heeresgesetz 1911 müsse schneller durchgeführt werden als ein Jahr zuvor notwendig erschien.

Darüber hinaus erfordere die militärische Lage weitere Maßnahmen.

(Auf die Ausführungen in den vorstehenden Abschnitten 9 und 10 wird verwiesen, der Aufsatzverfasser).

Reichstagsprotokolle 13. Legislaturperiode 1912/14,17

Anlage Nr. 352 vom 15. April 1912

http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k13_bsb00003395_00009.html

 

Die Heeresvorlage sollte dem deutschen Heere eine ausreichende Verstärkung bringen und seine Schlagfertigkeit innerlich noch mehr festigen - so Kriegsminister v. Heeringen vor dem Reichstag am 22. April 1912. Seit 1910 sei eine Verschiebung der militärischen Lage Deutschlands in der Entwicklung begriffen.

http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k13_bsb00003351_00555.html

 

Von einer ausreichenden Verstärkung konnte aber nicht die Rede sein.

 

Die Kriegsstärke des Heeres war nicht erhöht worden. Die zahlenmäßige Überlegenheit Frankreichs an Formationen im Falle eines Zweifrontenkrieges bestand unverändert fort. Dies war dem Kriegsminister bekannt. In seinem Schreiben an den Reichskanzler vom 2. Dezember 1912 (Reichsarchiv, Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, I. Anlagenband Teil I A. Dokument  Nr. 51) heißt es:

 

"Gewiß wurde die Heeresvorlage 1912 unter dem Gesichtspunkt eines Krieges Deutsch-lands und Österreichs gegen Frankreich, Rußland und England vom Chef des General-stabes der Armee und mir bemessen. Wir waren uns aber klar, dass wir rein ziffernmäßig ... nicht unsere voraussichtlichen Gegner, ja nicht einmal Frankreich allein erreichen würden..."

 

- 59  -

 

Wie konnte v. Heeringen die Heeresverstärkung 1912 dann vor dem Reichstag als ausreichend bezeichnen? War es die Rücksichtnahme auf die Kriegsmarine, die ihn dazu veranlaßte? Hätten die Abgeordneten der Flottennovelle 1912 auch dann zugestimmt, wenn ihnen die wirkliche militärische Lage des Reiches bekannt gegeben worden wäre?

                                                                                                                                             

In dem Verzicht darauf, Frankreich militärisch an Formationen erreichen zu wollen, liegt die Ursache für die Niederlage von 1914. Es fehlte am Willen, objektive Schwierigkeiten waren nicht ausschlag-gebend. Warum einigten sich Kriegsminister und Generalstabchef nicht auf dieses Ziel und versuchten gemeinsam, Reichskanzler und Kaiser dafür zu gewinnen?

 

19.4

Die Heeresvorlage 1913 war für die deutsche Öffentlichkeit wie für die Abgeordneten des Reichstags ein Schock. Es war die dritte Heeresvorlage innerhalb von 3 Jahren. Das hatte es noch nie gegeben – wie konnte das sein? Als der Reichskanzler am 7. April 1913 die Heeresvorlage in den Reichstag einbrachte, gaben einzelne Abgeordnete ihrer Verwunderung über das Verhalten des Kriegsministers v. Heeringen Ausdruck.

 

Der Abgeordnete Haase (Königsberg, Sozialdemokraten) führte aus:

 

„… der Herr Kriegsminister hat eben … von Herzen diese Vorlage nicht vertreten können, weil sie einen völligen Bruch mit dem Programm darstellt, dass er hier im Reichstag noch am 23. Februar 1911 verkündet hat. Damals sagte er:

"Militärvorlagen wachsen nicht aus dem Belieben, aus den Bedürfnissen des Augenblicks,

(hört! hört! bei den Sozialdemokraten)

sondern sie sind ein Niederschlag von jahrelanger Arbeit,

(stürmische Rufe: hört! hört!)

von jahrelangem aufmerksamen Beobachten der dabei in Betracht kommenden Verhältnisse unserer Nachbarn.“

http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k13_bsb00003385_00065.html

 

Die Heeresvorlage 1913 war im Kriegsministerium in weniger als drei Monaten entstanden. Daraus zog der Abgeordnete den Schluss, dass der Kriegsminister sie nicht wollte und die Vorlage überflüssig sei.

 

Als die Debatte am 8. Februar 1913 fortgesetzt wurde, führte der Abgeordnete Bassermann (Nationalliberale) unter anderem aus:

 

„Es ist nicht zu leugnen, dass starke Kontraste vorliegen, Kontraste zwischen heute, wo diese großzügige Verstärkung der deutschen Armee gefordert wird, und den Erklärungen der Kriegsverwaltung zu den Vorlagen des Quinquennats des Jahres 1911 und der Vorlage des Jahres 1912. … wir hatten schon damals den Eindruck, dass Lücken in unserer Rüstung vorhanden sind. … Ich habe den Eindruck, dass diese jetzige Vorlage nicht allein aus der veränderten politischen Lage sich erklärt, sondern dass sie bestrebt ist, nachzuholen die man besser schon früher gefordert hätte.“

http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k13_bsb00003385_00092.html

 

- 60 -

 

Der Abgeordnete Dr. Müller (Meiningen, Fortschrittliche Volkspartei) führte aus:

 

„… es ist kein Honiglecken, sich selbst in solcher Weise desavouieren zu müssen,

(Heiterkeit und sehr gut! links)

sich sagen zu lassen: Entweder du hast voriges Jahr und im Jahre 1911 deine Pflicht nicht getan, oder es wird jetzt eine Politik ad hoc gemacht, es wird die Not und Gefahr zu arg unterstrichen, um diese Vorlage unter allen Umständen durchzusetzen.

… Aber das kann doch niemand bestreiten, dass die Haupttatsachen, die staunenswerte Neuorganisation Russlands, von der gestern der Herr Reichskanzler sprach, das Kadergesetz Frankreichs vom Jahre 1912, die Slawisierung Österreichs, die Folgen der Tripolisexpedition im Frühjahr 1912 bereits vollkommen bekannt waren

(sehr richtig! links)

und bei den Verhandlungen in der Budgetkommission, wie ich selbst als Zeuge sagen kann, eine sehr große Rolle gespielt haben.“

http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k13_bsb00003385_0099.html

 

19.5

Die Glaubwürdigkeit des Kriegsministers v. Heeringen hatte Schaden gelitten. Das hinderte ihn aber nicht daran, die deutsche Öffentlichkeit und den Reichstag ein weiteres Mal hinter das Licht zu führen. Er scheute vor Lüge nicht zurück. Am Ende seiner Begründungsrede vor dem Reichstag zählte er eine Reihe von Voraussetzungen auf, die gegeben sein sollten:

 

ausreichende Ausstattung des Heeres mit materiellen Streitmitteln,

Ausbau des Festungssystems,

Ausbildung der Truppe auf der Höhe, ein leistungsfähiges, zuverlässiges Offizierskorps, ein zuverlässiges Unteroffizierskorps

 

und schloss mit den Worten,  dass unter diesen Voraussetzungen

 

„nach der pflichtmäßigen Überzeugung von allen dafür verantwortlichen Stellen die Gewähr für ein allen Anforderungen der Zukunft gewachsenes Heer gegeben“ (ist).

 

Die gegenteilige Meinung des Generalstabchefs v. Moltke blendete v. Heeringen aus. Von einem pflichtgemäßen Verhalten seinerseits kann nicht die Rede sein. Es ist zu wiederholen: Die Prioritäten der Heeresvorlage 1913 waren falsch gesetzt worden. Die Verwirklichung der allgemeinen Wehrpflicht hätte in der gegebenen militärischen Lage Nachrang gegenüber der Aufstellung neuer Divisionen haben müssen.

 

19.6

Mit der Heeresvermehrung 1913 glaubte die Mehrheit der Abgeordneten im Reichstag, alles getan zu haben, was zur Herstellung der militärischen Macht des Reiches erforderlich sei. Die Öffentlichkeit wurde in dieser Auffassung durch die Begründung der Heeresvorlage 1913 bestärkt. Darin hieß es:

 

"Die allgemeine Wehrpflicht ist ... die bewährteste Unterlage für Deutschland Stärke. Nur wenn sie verwirklicht bleibt, können wir der Zukunft mit dem sicheren Gefühl erfüllter Pflicht und festen Vertrauens entgegensehen..."

 

- 61 -

 

Mit diesen Ausführungen ebenso wie mit seiner Begründungsrede führte der Kriegsminister die Öffentlichkeit auf eine falsche Spur. Was sollte es bringen, die Anzahl der Wehr-pflichtigen zu erhöhen, wenn keine neuen Formationen für den Kriegsfall aufgestellt wurden? Das Ungleichgewicht der Kräfte in Europa wurde nicht beseitigt. Zu einer Beseitigung bedurfte es der Aufstellung neuer Divisionen. Das wußten alle verantwortlichen Entscheidungsträger - der preußische Kriegsminister ebenso wie der Reichskanzler und der Kaiser. Die deutsche Öffentlichkeit (einschließlich der Bevölkerungsteile, die keine deutsche Mutterzunge hatten) wußte es nicht.

 

Die Soldaten des deutschen Heeres (einschließlich derjenigen, die nicht deutsch als Muttersprache hatten - und das waren nicht wenige) zogen 1914 voller Vertrauen in ihre militärische Führung und ihren Kaiser in den Krieg. Dieses Vertrauen war fehl am Platze. Das konnten die Soldaten nicht wissen.

 

 

20. Annahme der Heeresvorlage 1913 im Reichstag

 

Heeresvorlage:

Reichstagsprotokolle 13. Legislatur-Periode 1912/14,19

- Anlage Nr. 869 vom 28. März 1913 -

http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k13_bsb00003397_00367.html

 

Der parlamentarische Weg der Heeresvorlage 1913 zog sich im Reichstag vom 7. April 1913 bis zum 30. Juni 1913 hin. Parallel dazu wurde über einen Nachtrag zum Reichshaushaltsetat 1913 beraten, der Heeresverstärkungen einschließlich der Umsetzung der Heeresvorlage für das Jahr 1913 zum Inhalt hatte, und außerdem über einen Wehrbeitrag und ein Besitzsteuergesetz. Das war ein außergewöhnliches Arbeitspensum.

 

20.1

Im Folgenden werden einige Redebeiträge aus der 1. Lesung der Heeresvorlage (7. bis 9. April 1913) im Reichstag mitgeteilt oder wiedergegeben. Bereits im vorstehenden Abschnitt 18.4 wurde aus den Reden einiger Abgeordneter zitiert.

http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k13_bsb00003385_00059.html bis _00158.html

 

Eine Mehrheit für die Heeresvorlage zeichnete sich ab, unter dem Vorbehalt, dass der Kriegsminister in der Budgetkommission die Notwendigkeit nachweisen werde. Die Abgeordneten waren in ihren Redebeiträgen auf eigene Erkenntnisse angewiesen; eine Orientierung hatte der Kriegsminster in seiner Begründungsrede nicht gegeben. Vorweg sei gesagt, dass von einem Hurrapatriotismus nichts zu spüren war. Die Besorgnis, es könne zu einem Krieg, ja sogar zu einem Weltkrieg kommen, klang bei den meisten Rednern durch.

 

- 62 -

 

Die Abgeordneten legten ihre Sicht auf die militärpolitische Lage des Reiches inmitten von Europa dar. Ein zentrales Thema waren die Kriege auf dem Balkan vom Herbst 1912. Die Türkei, bei der man auf eine deutschfreundliche Haltung baute, war als militärischer Machtfaktor ausgeschaltet und, was ihr Territorium anging,  fast vollständig aus Europa verdrängt worden. An ihre Stelle traten die siegreichen slawischen Balkanstaaten, allen voran Serbien. Die Möglichkeit zu Konflikten mit Österreich-Ungarn bestand. Die Lage war unsicher, ja sogar unberechenbar geworden. Eine militärische Festlegung Österreich-Ungarns an seiner südöstlichen Grenze war als Dauerzustand zu erwarten. Das schwächte seine militärische Position gegenüber Rußland, und dies hatte Rückwirkungen auf Deutschland. Diese Sichtweise entsprach der des Generalstabchefs v. Moltke.

 

Deutschlands westlicher Nachbar Frankreich bot, was seine militärische Stärke anging,  Anlaß zu Besorgnis. Frankreich war im dreißigjährigen Krieg (1618 – 1648) zur beherrschenden Macht auf dem europäischen Festland emporgestiegen. Der Krieg von 1870 mit der in ihm vollzogenen deutschen Einigung hatte ihm diese Stellung genommen. Mit den im Frieden von Frankfurt 10. Mai 1871 festgelegten Gebietsabtretungen hatte sich das politische Frankreich zu keiner Zeit abgefunden. Durch eine massive Aufrüstung suchte es mit dem Deutschen Reich militärisch gleichzuziehen und sogar an ihm vorbeizuziehen. Das gelang ihm auch. Für das Deutsche Reich ist jedenfalls in den Jahren von 1904 bis 1911 nicht davon zu sprechen, dass es an einem Rüstungswettlauf zu Lande teilgenommen hätte.

 

Mit dem britischen Empire hoffte man im Reichstag auf eine Verständigung. Es hatte im Jahr 1904 seine Politik des Gleichgewichts auf dem europäischen Kontinent aufgegeben. Eine germanozentrische Weltsicht sieht die Ursache dafür in der deutschen Aufrüstung zur See. Es ist in diesem Aufsatz nicht der Ort, die britische Weltsicht darzulegen, aber das Empire war eine weltumspannende Macht mit globalen Interessen. Diese hatte die britische Politik im Auge. Dass die deutsche Aufrüstung zur See einen objektiven Interessengegensatz zum britischen Empire herbeiführte, wurde im Deutschen Reichstag nicht so gesehen. In der zweiten Marokkokrise 1911 hatte sich das Empire auf die Seite Frankreichs gestellt. In den Balkankriegen hatte es an einer Einhegung der Konflikte mitgearbeitet.

 

Rußland hatte in den letzten Jahren, von 1913 aus gesehen, seine Streitkräfte in einer für die Mittelmächte bedrohlichen Weise verstärkt. Während seines Krieges mit Japan in den Jahren 1904 und 1905 war es keine militärische Bedrohung für das Deutsche Reich gewesen. Nach seiner Niederlage machte sich im Deutschen Reich eine Sorglosigkeit breit. Von Rußland gehe auf lange Zeit keine Gefahr für das Deutsche Reich aus. Dass Rußland nach seiner Zurückweisung im Fernen Osten sein Augenmerk verstärkt dem Westen zuwandte, sah man nicht. Dazu gehörte, dass Rußland die slawischen Völker auf dem Balkan in ihrem Streben nach Selbständigkeit unterstützte. Der Panslawismus war ein politischer Faktor. Über seine Bedeutung gingen in Deutschland die Meinungen auseinander.

 

Damit sind in Kürze die Themen skizziert, mit denen sich die Abgeordneten des Reichstags auseinandersetzten. Hinzu trat das Thema Imperialismus.

 

20.1.1

Für die sozialdemokratische Fraktion erklärte der Abgeordnete Haase (Königsberg) die Ablehnung der Heeresvorlage. Die äußere Lage, die Verschiebung der Machtverhältnisse infolge des Orientkrieges könne in keiner Weise die Heeresvorlage rechtfertigen.  Die Beziehungen zu England seien, wie der Reichskanzler vorgetragen habe, sehr gute. Es sei eine Entspannung eingetreten. Damit sei ein den Frieden störendes und beunruhigendes Moment weggefallen.

 

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Eine Machtverschiebung in Europa durch die Ereignisse auf dem Balkan sei nicht eingetreten. „Allen Prophezeiungen, dass die Balkanvölker zusammen mit den anderen Slawen gegen uns auftreten könnten, stehen (die Sozialdemokraten) skeptisch gegenüber“. Es liege an Österreich, die Beziehungen zu Serbien so zu gestalten, dass die Furcht vor ernsten Verwicklungen unbegründet sei. Die überwältigende Mehrheit des deutschen Volkes lehne es ab, „für die Torheiten und Machtgelüste österreichischer Politiker, für österreichische Prestigepolitik“ in den Krieg zu ziehen.

 

Was Frankreich angehe, sei die Situation, zu einer Annäherung zu gelangen, niemals so günstig gewesen wie gegenwärtig. Chauvinisten gebe es nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland, und denen solle der Reichskanzler entgegentreten.

 

Von Russland drohe kein Angriff. Die russische Bevölkerung denke nicht an Krieg. Den Panslawismus in Russland habe der Reichskanzler übertrieben dargestellt. Die sozialdemokratische Partei und die Arbeiter-organisationen in Russland stünden panslawistischen Strömungen entgegen.

 

Mit der Heeresvorlage solle Ellbogenfreiheit für eine imperialistische Weltpolitik geschaffen werden. Es handele sich nicht um den Schutz "unserer Grenzen, sondern um Einschüchterung der anderen, die, ebenso wie unsere Imperialisten, Eroberungspolitik treiben." Im Inneren wolle man das Heer als Instrument zur „Niederhaltung der aufwärts und vorwärts strebenden Massen“ verstärken. Eine Herabsetzung der Dienstzeit im Heere zum Übergang auf ein Milizsystem sei erforderlich, um die allgemeine Wehrpflicht durchzuführen und eine Volkswehr zu schaffen.

 

Der Aufsatzverfasser bemerkt hierzu, dass die Argumente des Abgeordneten Haase von den Abgeordneten der anderen Fraktionen ernst genommen wurden und zur Widerlegung auf sie im Einzelnen eingegangen wurde.

 

20.1.2

Der Abgeordnete Dr. Spahn der Zentrumsfraktion schloss sich im Wesentlichen der politisch-militärischen Lagebeurteilung des Reichskanzlers in Europa an. Eine militärische Begründung der Heeresvorlage stehe jedoch noch aus.

 

„Sind die Veränderungen, die auf dem europäischen Theater sich vollzogen haben, so schwerwiegend, wie der Herr Reichskanzler es uns dargelegt hat, dann müssen wir dafür sorgen, daß wir in der Lage bleiben, die Güter, die unser Vaterland birgt, gegen ein Eindringen des Feindes zu schützen.“ Dr. Spahn wies auf die Belastungen hin, welche die Heeresvorlage für die Bevölkerung mit sich brachte. Dem stellte er die Opfer gegenüber, die ein Krieg mit sich bringen würde. Der Frieden habe in 42 Jahren „immer ein klirrendes Eisengewand getragen und er muss es weiter tragen.“  Der Kriegsminister sei verantwortlich, für einen Zweifrontenkrieg gerüstet zu sein.

 

Der Aufsatzverfasser bemerkt hierzu: So, wie die Mehrheitsverhältnisse im Reichstag lagen, kam es ausschlaggebend auf die Haltung der Zentrumsfraktion an. Mit der Rede des Abgeordneten Dr. Spahn stand zu vermuten, dass die Heeresvorlage im Reichstag eine Mehrheit finden werde. Im Jahr 1893 hatte die Mehrheit der Zentrumsfraktion gegen die Heeresvorlage des Reichskanzlers v. Caprivi gestimmt. Eine Kursänderung des Zentrums deutete sich an.

 

- 64 -

 

20.1.3

Für die Reichs- und Freikonservative Partei sprach der Abgeordnete v. Liebert, der Berufssoldat und im Alldeutschen Verband tätig war. Er beglückwünschte Reichskanzler und Heeresverwaltung zu der Heeresvorlage und bedauerte, dass sie nicht bereits anderthalb Jahre früher erfolgte. Dann hätte man in der Marokkokrise 1911 und in der Balkankrise 1912 besser abgeschnitten. Den Kern der Schwierigkeiten sah er in dem Aufgeben des Rückversicherungs-vertrags mit Russland. Die Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht bringe sehr erfreuliche Resultate, namentlich die Verjüngung der Armee. v. Liebert betonte die Wichtigkeit der Étaterhöhungen. Am meisten habe bisher die Feldartillerie über ihren kleinen, eigentlich unbrauchbaren État zu klagen…

 

Das Protokoll vermerkt:

 

„Zuruf von den Sozialdemokraten: Dann war es bisher also eine liederliche Wirtschaft!“

 

Hierzu verweist der Aufsatzverfasser auf die Ausführungen in Abschnitt 10 des Aufsatzes. Danach ist die Berechtigung des Zurufes nicht von der Hand zu weisen.

 

v. Liebert kündigte an: „Wir wollen das bewilligen, was zur Rüstung unseres Volkes notwendig ist.“

 

 

20.1.4

Für die nationalliberale Fraktion untersuchte der Abgeordnete Bassermann in seinem Redebeitrag am 08. April 1913, ob sich die internationale politische Lage verschlechtert habe. Dies bejahte er.

 

„Die Gründe (dafür) liegen weit zurück hinter dem Balkankrieg… vor allen Dingen zurück auf den Tag, wo der Wunsch Rußlands, den bekannten Rückversicherungs-vertrag zu erneuern, nicht erfüllt wurde. Die Verschlechterung der Politik begann in dem Augenblick, in dem die Annäherung von Russland und Frankreich erfolgt ist…“

 

Mit dem nach Bassermanns Ansicht notwendigen Flottenbau blieben Verstimmungen gegenüber England nicht aus und das Ergebnis war die Triple-Entente.

 

„Wir haben in unserem früheren politischen Kalkül für den Fall großer kriegerischer Verwicklungen auf die Türkei rechnen müssen. Die Türkei ist heute als militärischer Faktor ausgeschaltet... An ihre Stelle treten slawische Staaten, die in glänzender Offensive die türkischen Truppen über den Haufen warfen und mit gewachsenem Selbstbewusstsein, in ganz anderer Weise als zuvor, in die politische Geschichte eingreifen werden… Das trifft zunächst natürlich nicht uns, aber wohl das uns befreundete Österreich, wo die Möglichkeit von Konflikten verstärkt vorliegt...“

 

Bassermann untersuchte mögliche weitere Konfliktherde:

 

"Vor allem Kleinasien! Hier sind die deutschen Interessen unmittelbar beteiligt durch gewaltige Kapitalinvestitionen, die wir in Anatolien und Kleinasien vorgenommen haben... Man muss sich erinnern, dass dort kein einheitliches Völkergebilde, sondern ein Völkergemisch vorhanden ist und damit auch die Möglichkeit politischer Reibungen. Gerade in Kleinasien ist das starke arabische Element nicht durchweg den Türken freundlich gesinnt. .. in Armenien ist seit Jahrzehnten Russlands Einfluß vorzudringen bestrebt,; an der Küste des Meeres, in Syrien und am Libanon aber französischer und englischer Einfluss in Arabien...

 

- 65 -

 

Anmerkung des Aufsatzverfassers: Damit nimmt Bassermann das Sykes/Picot-Abkommen von 1915 übr die Aufteilung des Osmanischen Reiches vorweg.

 

Zum Thema "Panslawismus" sagte Bassermann:

 

„Wenn wir die Presse verfolgen, lesen wir da und dort von Vorgängen, die von einem starken Vordrängen des panslawistischen Elementes in der russischen Politik und auch von der Unzufriedenheit dieser panslawistischen Kreise mit der derzeitigen Politik des russischen Kabinetts Zeugnis geben…“

 

Zu Frankreich sagte Bassermann:

 

„Erstaunt haben mich die Ausführungen des Herrn Abgeordneten Haase über Frankreich. Er hat die chauvinistisch-nationalistische Bewegung in Frankreich leichter Hand beiseitegeschoben… Ich habe im Laufe der Jahre oft die „France Militaire“ zugeschickt bekommen; das ist das Organ, das beim französischen Offizierskorps am meisten verbreitet ist…

 

In der „France Militaire“ stand jüngst wieder die Aufforderung zum Kriege: „Die Stunde naht; der Krieg wird kurz sein; denn Deutschland wird schon beim mit dem ersten Schlage zerschmettert werden usw.“ Diese und andere Ausführungen erweisen die Richtigkeit dessen, was der Herr Reichskanzler uns dargelegt hat, wie in Frankreich die Zuversicht in die Leistungsfähigkeit und den Sieg der französischen Armee von Jahr zu Jahr wächst…“

 

Zum Thema "Imperialismus" sagte Bassermann:

 

„Ein Grund der Verschlechterung der internationalen Lage liegt in dem Imperialismus. Mit der Wende des Jahrhunderts setzt diese Bewegung in den Völkern besonders stark ein. Wirtschaftliche Gründe, in vielen Ländern die starke Bevölkerungszunahme drängen dazu, Betätigung auf überseeischem Gebiet zu suchen, und da dieser imperialistische Zug unserer Zeit gleichzeitig bei vielen Völkern auftritt, gibt er der Zeit die Signatur. Dass diese imperialistischen Bewegungen nichts zu tun haben mit dynastischen Interessen, Cäsarenwahn und mit dem Ehrgeiz und Wunsch der Herrscher, ihr Gebiet zu erweitern, ist erwiesen…“

 

„Wenn Sie sich die Entwicklung der deutschen Politik ansehen, so hat man auch gegen uns - Herr Kollege Haase hat das gestern getan – den Vorwurf des Imperialismus erhoben. Wir haben als verhältnismäßig junger Staat in diesem Wettlauf um die noch freien Gebiete schlecht abgeschnitten; unsere Bilanz ist keine aktive. Bei uns sind die Neuerwerbungen nur mäßig gewachsen…. Gewachsen sind bei uns weit über die kühnsten Erwartungen hinaus die Konten für Soldaten und Steuern,

 

(sehr richtig! links)

 

und dann sind wir besonders stark in die imperialistische Bewegung hineingezogen worden. Ich meine: auch hierin liegt ja ein Konfliktstoff; auch hierin liegt ein Moment, dass wir nicht übersehen dürfen…“

 

Bassermann zog die Schlussfolgerung:

 

„Als Schlussresultat müssen wir feststellen, dass die auswärtige Lage für Deutschland sich durch diese Balkanveränderungen schwieriger gestaltet hat, dass mit der Möglichkeit inter-nationaler Verwicklungen und eines Weltkrieges gerechnet werden muss; ein vorsichtiger Hausvater wird seine Politik auf solche Möglichkeiten einstellen.

 

- 66 -


 

(Lebhafte Zustimmung bei den Nationalliberalen und rechts.)

 

Denn das muss jeder bedenken: die Folgen eines unglücklichen Krieges für Deutschland sind nicht auszudenken, und mit Recht gilt der alte Satz, dass unglückliche Kriege die Sünden des Friedens sind. Aus diesem Gesichtspunkte heraus sind meine politischen Freunde bereit, Verstärkungen der deutschen Armee zu bewilligen.“

 

 

20.1.5

Für die deutschkonservative Fraktion bezeichnete der Abgeordnete Hans Graf v. Kanitz die Heeresvorlage als eine "bittere Notwendigkeit". In Frankreich ertöne der Ruf „à Berlin!“ „Tun wir das unsere, um (die Franzosen) nicht nach Berlin gelangen zu lassen!“

 

"… glauben Sie nicht, dass die internationale Sozialdemokratie den Ausbruch eines Krieges verhindern wird…"

 

„Glauben Sie nicht, dass wir leichten Herzens an diese Vorlage herangehen, daß wir die riesigen Lasten leichten Herzens auf uns nehmen. Von Hurrastimmung ist wahrhaftig nicht die Rede… schon seit Jahren besteht meiner Überzeugung nach wenigstens die Notwen-digkeit,  auf eine angemessene Verstärkung unseres Grenzschutzes Bedacht zu nehmen, und diese Notwendigkeit ist lediglich und ganz allein durch die übermäßigen Rüstungen und die mit immer größerer Dreistigkeit zu Tage tretenden Kriegsgelüste Frankreichs herbeigeführt worden... Wir dürfen uns in keine leichtfertige Sicherheit wiegen. Deshalb müssen wir dem Herrn Reichskanzler dankbar sein, daß er diese Vorlage eingebracht hat, die ein Friedenswerk sein soll…

 

Wir tragen uns wahrhaftig nicht mit irgendwelchen Angriffsgelüsten. Dafür bürgt uns die fünf-undzwanzigjährige Friedenspolitik unseres Kaisers. Wir verlangen nach keinem Kriege. Wir haben in einem künftigen Kriege nichts zu gewinnen, sondern nur zu verlieren.

 

(Sehr richtig! Rechts.- Hört! hört! bei den Sozialdemokraten)

 

Wir wollen kein Dorf erobern, wir haben überall klare Grenzen. Also an unserer Friedensliebe ist wahrhaftig nicht zu zweifeln…

 

ich habe es mit Bedauern gelesen … daß gewisse Veränderungen in der Dislokation der englischen Flotte geplant sind oder geplant waren. Es war die Rede davon – und diese Nachricht ging durch alle Zeitungen -, daß die englische Regierung beabsichtige, ihre Nordseeflotte zu verstärken, mindestens einen großen Teil ihrer Mittelmeerflotte nach den nördlichen Gewässern zu ziehen. Das würde für uns wahrhaftig kein Vorteil und kein Glück gewesen sein…

 

Jede kriegerische Verwicklung zwischen zwei europäischen Großmächten ... aber muss, wie die Dinge heute liegen, den Riesenbrand eines Weltkriegs zur Folge haben.“

 

(sehr richtig! rechts)

 

Wir müssen unsere Wehrmacht verstärken, um jedem feindlichen Angriff zuversichtlich entgegensehen zu können.“

 

- 67 -

 

20.1.6

Der Abgeordnete Erzberger der Zentrumsfraktion sah die internationale Lage als hoch gespannt und die Gefahr eines Weltkrieges als gegeben an.

 

Durch die Bindung Italiens in Nordafrika sei eine Schwächung des Dreibundgenossen eingetreten...

In einem Ernstfall könne das verbündete Österreich-Ungarn uns seine ganze Stoßkraft nicht mehr so zur Verfügung stellen, als wenn die Türkei in ihrem alten Umfang noch aufrechterhalten geblieben wäre…

 

Die Begründung der Militärvorlage sei lediglich zu suchen „in dem Verhalten unseres östlichen und unseres westlichen Nachbarn. Es wird niemand, der die französischen Volksstimmungen irgendwie kennt, in Abrede stellen wollen, dass im Lauf der letzten Jahre in den breitesten Volkskreisen der chauvinistische Geist ganz gewaltig angewachsen und empor gepeitscht worden ist. Es lässt sich namentlich nicht leugnen, dass seit 1905 der Respekt vor der deutschen Wehrmacht in unserem westlichen Nachbarlande gewaltig gesunken ist.“

 

„Ganz dasselbe trifft auf das Anwachsen der militaristischen Strömungen in England zu…“

 

„An allen diesen Erscheinungen können wir im Deutschen Reiche nicht achtlos vorübergehen.

Glauben Sie aber, dass für uns in einem neuen Weltkrieg nur die beiden Provinzen Elsass und Lothringen in Frage ständen? Nein, ein für uns unglücklicher Krieg würde die Zertrümmerung des Deutschen Reiches im Gefolge haben – darüber ist sich jeder vollkommen klar, der die Presse aller uns umgebenden Mächte genau liest.“

 

„Die denkbar friedliebendsten Kollegen, die wir unter uns hatten, haben zum Ausdruck gebracht, dass Russland uns in späteren Jahren viel mehr zu schaffen geben wird, mehr als jemand anders. Es war der alte Liebknecht und der alte Bebel, die schon vor 22 Jahren, im Jahre 1890 und 1893, dies offen ausgesprochen haben…“

 

„Würde Deutschland noch das ackerbautreibende Volk des Jahres 1860 sein, dann hätten wir die ganze Heervorlage in dem Umfange nicht nötig. Aber die Entwicklung hat uns in die Weltpolitik hineingetrieben. Das liegt nicht an dem Willen eines Menschen, sondern die Ernährung von den 65 Millionen Köpfen auf eigenem deutschen Grund und Boden zwang zur Weltpolitik…“

 

„Wenn ich das alles überblicke, lässt sich nicht in Abrede stellen, dass eine ganze Menge von Gründen der veränderten internationalen politischen Situation vorliegen, zu einer Prüfung der Frage zwingen, ob unsere Rüstung noch dem entspricht, was das deutsche Volk von einer guten Politik wünscht…“

 

„Unser deutsches Volk hat keinen anderen Wunsch auf diesem militärpolitischen Gebiet, als den einen: die Erhaltung des ehrenhaften Frieden für das deutsche Vaterland, und den zweiten: alle Vorbereitungen zu einem raschen siegreichen Krieg der deutschen Armee zu treffen.“

 

Zur Durchführung der „allgemeinen Wehrpflicht nach dem Stande der Bevölkerung“ sagte Erzberger, der Reichstag habe früher einen ganz anderen Standpunkt auf diesem Gebiet eingenommen:

 

„Der Herr Abgeordnete Haase hat bereits daran erinnert, dass die Resolution Windthorst vom Jahre 1890 bis 1912 leitender Gesichtspunkt aller Militärvorlagen gewesen ist. Die Resolution Windthorst lautet:

 

- 68 -

 

… die Erwartung auszusprechen dass die verbündeten Regierungen Abstand nehmen von der Verfolgung von Plänen, durch welche die Heranziehung aller wehrfähigen Mannschaften zum aktiven Dienst durch geführt werden soll, indem dadurch dem Deutschen Reiche geradezu unerschwingliche Kosten erwachsen müssten.

 

An dieser Resolution Windthorst hat der ganze Reichstag seit 1890 festgehalten.“

 

Der Aufsatzverfasser bemerkt hierzu:

 

Die Resolution Windthorst vom 26. Juni 1890 findet man unter

http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt3_k8_bsb00018664_00721.html

 

Indem der Reichstag jetzt einer weitgehenden Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht zustimmte, nahm er eine Kursänderung vor, wie bereits bei der Würdigung der Haltung der Zentrumsfraktion ausgeführt.

 

Legt man die Ausführungen des Abgeordneten Erzberger zugrunde, so trifft den Reichstag eine Mitverantwortung für die desaströse militärische Lage des Reiches. Denn er hat nach 1890 an allen Heeres-vorlagen der Reichskanzler Abstriche vorgenommen.

 

Paradox muss man es nennen, dass 10 Jahre nach der Resolution Windthorst der Reichstag dem Bau einer Schlachtflotte zustimmte, durch den in der Tat dem Deutschen Reiche unerschwingliche Kosten erwuchsen, gleichwohl aber der Heeresausbau weiterhin für nicht finanzierbar gehalten wurde.

 

20.1.7

Der Abgeordnete Caspar Haeusler der Zentrumsfraktion, königlich bayerischer Generalmajor a.D.,  sprach am 09. April 1913. Er sah eine vollständige Bankrotterklärung (der) bisherigen Septennats- und Quin-quennatswirtschaft.

 

„Gerade durch diese Quinquennatswirtschaft ist die gesunde, organisatorische Entwicklung unserer Armee unterbunden und in den letzten Jahren auch eine ganz bedenkliche Rückständigkeit in technischer Hinsicht herbeigeführt worden. Ich erinnere nur an die Schwierigkeiten im Maschinengewehr- und Fliegerwesen. Und was hat es schließlich für einen Zweck, überhaupt ein solches Quinquennatsgesetz zu machen, wenn es in jedem Jahr durch neue, große Militärvorlagen umgestoßen wird?“

 

„Die ganz bedeutende Vermehrung der Kavallerie, welche in dieser Vorlage gefordert wird, beweist ein gänzliches Verkennen der wirtschaftlichen und auch der militärischen Erfordernisse unserer Zeit, nachdem durch die Ausgestaltung des Fliegerwesens in der bisherigen Aufgabe der Kavallerie, nämlich das Auge und Ohr der Armee zu sein, eine so gewaltige Verschiebung eingetreten ist.“

 

„Will man sich aber absolut nicht zu einer Herabsetzung der Dienstzeit verstehen, dann gab es noch einen anderen Weg, um unsere Volkskraft ohne Überspannung der Finanzkraft unseres Landes vollständig auszunützen: das war die schon wiederholt angeregte Ausbildung der Ersatzreserve. Diese Maßnahme hätte … vor allem den Vorteil gehabt, dass sie vollkommen geräuschlos ins Werk gesetzt werden konnte, und dass dadurch der damit verbundene unsinnige Rüstungswettlauf und die daraus hervorgehende Gefährdung des Friedens vermieden worden wäre…“

 

Der Aufsatzverfasser bemerkt hierzu:

 

- 69 -

 

Die Ausführungen des Abgeordneten Haeusler waren die schwerwiegendste Kritik an der Heeresverwaltung, die im Reichstag geäußert wurde. Die Kritik war militärisch fundiert und traf den springenden Punkt.

 

Das Denken der Kriegsminister und ihres Ministeriums in Fünfjahreszeiträumen (Quinquennaten) war verderblich, weil es die Weiterentwicklung des Heeres blockierte. Zum technischen Rückstand des Heeres, den der Abgeordnete zutreffend beschrieb, wird in Abschnitt 22 des Aufsatzes Stellung genommen. Hervorzuheben ist weiterhin, dass der Weg einer Ausbildung von Ersatzreservisten selbst für die Sozialdemokratie annehmbar gewesen wäre und zu einer innenpolitischen Befriedung hätte beitragen können.

 

Die Heeresvorlage wurde am 9. April 1913 der Budgetkommission zur weiteren Beratung überwiesen.

 

 

20.2

Die Beratungen der Budgetkommsission begannen Ende April 1913 und zogen sich über den Monat Mai hin. Zu Beginn war die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Das war insoweit gerechtfertigt, als der Kriegsminister vertrauliche militärische Dinge offenlegte, z. B. über die Mobilmachung des Heeres. Man darf vermuten, dass auch die Kräfteverhältnisse in Europa offen gelegt wurden. Anders wäre eine Zustimmung der Abgeordneten nicht zu erreichen gewesen. Unwahrscheinlich hingegen ist es, dass der Kriegsminister die Forderung des Generalstabchefs nach neuen Armeekorps offen legte.

 

Die Budgetkommission erstattete dem Reichstag einen mündlichen Bericht (Datum vom 28. Mai 1913). Die Kommission beantragte:

 

"Der Reichstag wolle beschließen:

I. den vorbezeichneten Gesetzentwurf mit den aus der nachstehenden Zusammenstellung ersichtlchen Änderungen zu bewilligen:....

II. folgende Resolutionen anzunehmen:.....

III. Petitionen."

Reichstagsprotokolle 13. Legislatur-Periode

1912/14,20 - Anlage Nr. 1031 vom 28. Mai 1913 -

http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k13_bsb00003398_00397.html

 

zu I. Der Gesetzentwurf der Reichsleitung umfaßte 4 Artikel. Hier von Bedeutung ist lediglich  Artikel I, der Gesetzentwurf über die Friedenspräsenzstärke des deutschen Heeres. Die begehrten Änderungen betrafen die Streichung von 3 Kavallerieregimentern und die dadurch verminderte Friedenspräsenzstärke. Zusätzlich sollte eine neue Bestimmung in das Heeres-gesetz eingefügt werden. Sie lautete wie folgt:

 

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„Die Mannschaften des Beurlaubtenstandes werden, soweit militärische und wirt-schaftliche Gründe es gestatten, nur in den Wintermonaten zu Übungen einberufen.“

 

zu II. Die Kommission sah die Aufgabe des Reichstags nicht in einer passiven Rolle, die sich auf die Zustimmung zur Heeresvorlage beschränkte. Vielmehr sollte der Reichstag durch Resolutionen aktiv gestaltend auf das Heer einwirken. Dafür schlug die Kommission dem Reichstag 24 Resolutionen vor. Adressat war der Reichskanzler, inhaltlich richteten sich die Resolutionen meist an die Heeresverwaltung bzw. den Kriegsminister. Sie betrafen unterschiedliche Gegenstände. Hervorzuheben sind ihre sozialen und humanen Anliegen. Die Belastungen, die der Bevölkerung durch zusätzliche Wehrpflichtige entstanden, sollten sozial abgefedert werden.

 

Einige Beispiele seien genannt:

 

Resolution 2.

Es sollten nur Volltaugliche eingestellt werden. Die Erfahrung zeigte, dass körperliches Unvermögen von Rekruten eine Quelle von Mißhandlungen durch die Ausbilder war. Deren Bekämpfung war ein Dauer-Anliegen des Reichstages. Den Angaben des Kriegsministeriums, es seien jährlich 338.000 ungediente Wehrpflichtige verfügbar, stand der Reichstag skeptisch gegenüber.

 

Resolution 3.

Die Befreiung vom aktiven Heeresdienst infolge bürgerlicher Verhältnisse (einziger Ernährer hilfloser Familien usw.) sollte in der bisherigen rücksichtsvollen Weise auch in Zukunft Anwendung finden.

 

Resolution 4.

Die Soldaten sollten mindestens durchschnittlich jährlich vier Wochen Urlaub erhalten, und dieser sollte tunlichst in der Erntezeit stattfinden, soweit die Soldaten aus der Landwirtschaft stammten. Für die berittenen Waffen sollte Urlaub in erhöhtem Umfange gewährt werden.

 

Resolutionen 11. bis 15.

Eine Modernisierung des Militärstrafgesetzbuches und der Militärstrafgerichtsordnung wurde gefordert. In formaler Hinsicht ging es um die Öffentlichkeit des Verfahrens und die Beschränkung der Zuständigkeit der Militärgerichte. Resolution 12 a) lautete:

 

den Herrn Reichskanzler zu ersuchen, Sorge zu tragen, daß die Militärstrafgerichtsordnung … revidiert werde, insbesondere

die Bestimmungen über die Öffentlichkeit des Verfahrens so gestaltet werden, daß nicht unter dem Titel „Gefährdung der Disziplin“ die willkürlichste tatsächliche Beseitigung der gesetzlich garantierten öffentlichen Hauptverhandlung eintritt

 

Anmerkung des Aufsatzverfassers: Die Öffentlichkeit der Hauptverhandlung war zum 1. Oktober 1900 eingeführt worden, gegen den Widerstand des Kaisers. Sie wurde von den Militärs, welche die Gerichtsbarkeit ausübten, unterlaufen. Eine unabhängige Rechtspflege war nur für das oberste Militärgericht erreicht worden.

 

In materieller Hinsicht ging es um die Herabsetzung des Strafmaßes, insbesondere um Einführung von Strafmilderungsgründen (Resolution 11). Die härteste Disziplinarstrafe im Heer, der strenge Arrest, sollte beseitigt werden (Resolution 14).

 

- 71 -

 

Weitere Resolutionen wurden als Anträge zu den Beschlußvorlagen der Budgetkommission sowie zu einzelnen Kapiteln bzw. Titeln im Nachtragshaushalt 1913 formuliert.

 

Kriegsminister und Reichskanzler sahen in einigen Resolutionen einen Angriff auf die Kommandogewalt des Kaisers bzw. des Königs von Preußen. Ihr Verständnis orientierte sich  an der absoluten Monarchie des 18. Jahrhunderts, in der das Heer ein persönlicher Besitz des Monarchen war. Im Reichstag formulierte der Abgeordnete Müller (Meiningen, Fortschrittliche Volkspartei) den Wunsch nach einer rechtlichen Regelung der Verhältnisse im Heer, um der bisherigen Willkürherrschaft entgegenzutreten. Die Reaktion des Reichs-kanzlers war eine schroffe Ablehnung, die des Kriegsministers fiel gemäßigter aus. Letzten Endes mußten Reichskanzler und Kriegsminister jedoch dem Reichstag entgegenkommen, wollten sie nicht die Annahme der Heeresvorlage gefährden.

 

20.3

Die zweite Lesung der Heeresvorlage fand vom 10. Juni bis zum 24. Juni 1913 statt.

http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k13_bsb00003386_00212.html bis 00544.html

 

Gegenstand der Lesung waren die Beschlussanträge der Kommission, siehe vorstehend Abschnitt 20.2. Die Abgeordneten stellten zahlreiche Änderungs- sowie Resolutionsanträge. Darüber wurde im Plenum des Reichstags jeweils einzeln beraten und abgestimmt.

 

Neue Gesichtspunkte erbrachte die Lesung nicht. Dem Kriegsminister war es offenbar in der Budgetkommission gelungen, die Abgeordneten der bürgerlichen Parteien von der Not-wendigkeit der Heeresvorlage, namentlich eines verstärkten Grenzschutzes, zu überzeugen. Weitere Schwerpunkte waren die technischen Einheiten des Heeres, darunter die Luftfahrt, und der Ausbau der Ostfestungen. Sie dürften weitgehend unumstritten gewesen sein. Nicht gelang es dem Kriegsminister, die Mehrheit der Abgeordneten von der Notwendigkeit dreier neuer Kavallerieregimenter zu überzeugen.

 

Die sozialdemokratische Fraktion blieb dabei, die Heeresvorlage abzulehnen. Die Sprecher der bürgerlichen Parteien – namentlich Zentrum, Nationalliberale, Fortschrittliche Volks-partei, Deutschkonservative, Reichs- und Freikonservative, Deutsch-Hannoversche Partei – erklärten die Zustimmung zur Heeresvorlage, meistens ohne die von der Kommission gestrichenen drei Kavallerieregimenter.

 

Bei einigen Resolutionen kam es zu langwierigen und kontroversen Debatten. Wohl am heftigsten umstritten war die Existenz des Gardekorps und die von einigen Rednern gesehene Bevorzugung des Adels, die mit der preußischen Verfassung unvereinbar war. Die meisten Resolutionen wurden in den Reichstagssitzungen vom 13. und 18. Juni 1913 angenommen. Die Resolutionen über die Militärjustiz wurden in der Reichstagssitzung vom 24. Juni 1913 angenommen. Im Verlaufe dieser Sitzung stellte dann der amtierende Vizepräsident Dr. Paasche fest:

 

„Damit sind die Abstimmungen zu den Heeresvorlagen erledigt.“

http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k13_bsb00003386_00549.html

 

 

- 72 -

 

20.4

Die 3. Lesung fand am 28. und am 30. Juni 1913 (mit der Gesamtabstimmung über die Heeresvorlage) statt.

http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k13_bsb00003386_00702.html
http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k13_bsb00003386_00731.html         

 

Es wurden von Abgeordneten zweier Fraktionen zwei identische Anträge gestellt, die gestrichenen drei Kavallerieregimenter wieder zu bewilligen und so den ursprünglichen Gesetzentwurf der Reichsleitung wiederherzustellen.

 

Reichstagsprotokolle 13. Legislatur-Periode

1912/14,20 - Anlagen Nr. 1080 und Nr. 1081 vom 24. Juni 1913 -

http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k13_bsb00003398_00730.html           

 

Die Anträge fanden eine Mehrheit. Für die Kavallerieregimenter hatten sich vor allem Abgeordnete aus Ostpreußen und Oberschlesien eingesetzt, jeweils mit dem Hinweis auf die starken russischen Kavallerieeinheiten jenseits der Reichsgrenze.     

               

Das übliche Abstimmungsverfahren bestand darin, dass sich die zustimmenden Abgeordneten von ihren Plätzen erhoben. Es wurde auch bei der Gesamtabstimmung über die Heeresvorlage angewandt und ergab für sie eine große Mehrheit (Feststellung des Vizepräsidenten Dr. Paasche).

 

Damit war die Vorlage Gesetz geworden.

 

 

 

24. Finanzierung der Heeresvorlage 1913

Für den zuständigen Staatssekretär im Reichsschatzamt, Hermann Kühn, kam eine Finanzierung der Rüstungsausgaben nur über zusätzliche Steuern in Betracht. Eine Finanzierung über  Kredite lehnte er ab. Es war ein Kernelement der Haushaltssanierung, die seit 1909 von der Reichsleitung betrieben wurde, einen weiteren Zuwachs der überbordenden Staats-schulden zu vermeiden. Daran sollte festgehalten werden.

 

Ansprache Staatssekretär Kühn am 9. April 1913 vor dem Reichstag

Reichstagsprotokolle 13. Legislaturperiode, 1912/14,7 Seite 4611

http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k13_bsb00003385_00159.html

 

Staatssekretär Kühn stellte mehrere Arten von Steuern vor. Dieser Aufsatz verlangt eine Beschränkung auf die wesentlichste Steuer, den Wehrbeitrag.

 

   24.1

Indirekte Steuern wie Einfuhrzölle und Verbrauchsteuern erschienen nicht möglich. Sie waren die Haupteinnahmequellen des Reiches und hatten in der Vergangenheit zu einer Verteuerung von Grundnahrungsmitteln und von Genussmitteln geführt. Im Jahr 1909 hatte der Gesetzgeber weitere Verbrauchsteuern eingeführt und eine Anhebung bestehender Verbrauchsteuern vorgenommen. Das traf die unteren sozialen Schichten der Bevölkerung ungleich härter als die einkommensstarke und besitzende finanzielle Oberschicht (die "besitzenden Klassen"). Eine weitere Steigerung der Belastung hätte zu einem Generalstreik und zu einer weiteren Stärkung der Sozialdemokratie führen können. Sie war aus der Reichstagswahl im Januar 1912 als Sieger hervorgegangen. Mit 110 von 397 Abgeordneten stellte sie nunmehr die stärkste Fraktion im Reichstag.

 

   24.2

Die Staatsausgaben, an der Spitze die Rüstungsausgaben, ließen sich dauerhaft nur über Reichssteuern vom Einkommen und/oder Vermögen (direkte Steuern) finanzieren. Dieser Weg hatte sich in der Vergangenheit als politisch nicht durchsetzbar erwiesen. Zwar stand die rechtliche Zulässigkeit nach der Reichsverfassung 1871 außer Frage. Aber bisher stand ihrer Einführung eine Blockierung durch den Bundesrat entgegen. Die Bundesstaaten hatten zumeist eigene Einkommensteuern eingeführt, z.B. Sachsen im Jahr 1878 und Preußen im Jahr 1891. Sie setzten sich gegen jeden Zugriff, den das Reich auf diese Steuerquellen hätte unternehmen wollen, zur Wehr.

 

Der Widerstand war grundsätzlicher Natur, da die Bundesstaaten die direkten Steuern für sich reservieren wollten. Das erklärten sie in der Begründung, die dem

 

Gesetzentwurf, betreffend Änderungen im Finanzwesen

Reichstagsprotokolle 12. Legislaturperiode 1907/09,22

- Anlage Nr. 992 vom 3. November 1908 -

http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k12_bsb00002928_00294.html

 

gegeben wurde, ausdrücklich. In der Theorie wollten sie 1913 daran weiterhin festhalten. Die Bundesstaaten sahen darin ein Unterpfand ihrer Staatlichkeit. Das Deutsche Reich von 1871 war ein Staatenbund, kein Bundesstaat. Jeder der  Bundesstaaten regelte seine inneren Verhältnisse selbst.

 

- 73 -

 

 

Mit dem Ziel der Reichsverfassung von 1871, das Reich durch Erhebung eigener Steuern finanziell auf eigene Füße zu stellen, war die Blockadehaltung des Bundesrates unvereinbar. Wer eine klare Ausdrucksweise liebt, kann sagen: es war eine reichsfeindliche Haltung, und sie ging zu Lasten des Heeres. Denn ihm wurden die erforderlichen Geldmittel für seine Weiterentwicklung vorenthalten. Wenn den Bundesstaaten so viel an ihrer Staatlichkeit lag, so wäre es besser gewesen, das Reich wieder aufzulösen und den Zustand vor der Reichs-gründung wiederherzustellen. Militärisch wäre das kein Schaden gewesen. Dann hätte jeder Bundesstaat seine Armee selbst finanzieren müssen. Das wäre zu Lasten von Preußen gegangen, das sein Heereskontingent ungenügend ausgebaut hatte, im Gegensatz zu den anderen Bundesstaaten. Preußen hätte dann mehr tun müssen, und dies auf eigene Kosten.

 

24.3

Von den Auswirkungen her, die eine Einkommen- oder Vermögensteuer auf Reichsebene für die Finanzen der Bundesstaaten gehabt haben würde, war ihr Widerstand nicht zu recht-fertigen. Sicherlich war im Laufe der Jahre auf der Ebene der Bundesstaaten eine Steigerung der steuerlichen Belastung, insbesondere bei der von den meisten Bundesstaaten erhobenen Einkommensteuer, eingetreten. Dass aber eine zusätzliche Reichssteuer auf den Besitz und/oder das Einkommen mit 200 bis 300 Millionen Mark Jahresertrag die Bundesstaaten außerstande gesetzt hätte, ihren kulturellen und sozialen Aufgaben nachzukommen, war eine maßlose Übertreibung. 

 

- 74 -

 

Die zu erwartende zusätzliche Belastung für die Steuerzahler hätte sich in Grenzen gehalten. Der benötigte Betrag an Einnahmen hätte sich von der finanziellen Oberschicht des Reiches mühelos zusätzlich zu ihrer bereits vorhandenen steuerlichen Belastung aufbringen lassen. Dass die möglichen Betroffenen dies anders sahen und alle Register zogen, um es zu verhindern, versteht sich von selbst. Aber ohne eine Erhöhung der Steuerlast auch bei den direkten Steuern ließen sich die Erhöhungen der Staatsausgaben, welche die Regierungen der Bundesstaaten ja selbst veranlaßt hatten, nicht finanzieren.

 

Bei einer Einführung direkter Steuern auf Reichsebene hätten im Gegenzug die Matrikular-beiträge, die von den Bundesstaaten an das Reich zu entrichten waren, wegfallen können. Insoweit wäre eine Entlastung der Bundesstaaten eingetreten. Die Bundesstaaten hatten entsprechend ihrer Einwohnerzahl jährlich einen bestimmten Geldbetrag an das Reich abzuführen. Seit 1909 waren dies 0,80 Mark je Einwohner. Es war eine ungerechte Regelung, welche die Bundesstaaten mit schwacher Finanz- und Wirtschaftskraft über Gebühr belastete. Deren Entlastung war wünschenswert.

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 24.4

Auch im Reichstag fand sich lange Zeit keine Mehrheit für eine Erhebung direkter Steuern durch das Reich. Es gab zwar einzelne Abgeordnete, die für direkte Reichssteuern eintraten. Von den Fraktionen aber hätte vermutlich nur die Sozialdemokratie geschlossen für direkte Steuern gestimmt. Was im Deutschen Reiche ungelöst blieb, war nicht vor-rangig die „soziale Frage“. Es ging um eine elementare Steuergerechtigkeit, und gegen deren Verletzung reagierten die unteren sozialen Schichten in besonders empfindlicher Weise.

 

Einige Stimmen aus Reichstagssitzungen im Dezember 1904 seien hier angeführt (Reichstagsprotokolle 11. Legislaturperiode, 1903/05,5):

 

Der sozialdemokratische Abgeordnete August Bebel sagte am 5. Dezember 1904:

(Zitat)

… zweifellos ist, daß Mehreinnahmen geschaffen werden müssen…

…. Ich hoffe, daß dann das Zentrum seiner Resolution vom Jahre 1900 eingedenk sein wird, wonach es keinerlei Erhöhung oder Neueinführung von Abgaben auf Massen- konsumartikel zulassen wird…

Wenn Sie aber … diejenigen heranziehen wollen, die … zweifellos von dem Reiche und seinen Institutionen, der Heeres-, Marine- und Kolonialpolitik die größten Vorteile haben, die also auch am schärfsten zu Steuern herangezogen werden müßten, wenn Sie   d i e s e   wirklich treffen wollen, so können Sie das … nicht anders erreichen als durch Einführung einer Einkommens- und Vermögensteuer.

(Sehr richtig bei den Sozialdemokraten.)

Anders geht es nicht; nur so treffen Sie die Leute, die Sie treffen wollen, nur so treffen Sie z.B. die Bankiers und Großindustriellen des rheinisch-westfälischen Industrie-reviers!

… es ist die „Rheinisch-westfälische Zeitung“, jenes Interessenorgan der reichsten Leute im Deutschen Reiche, einer Clique von Leuten, die buchstäblich in ihrem Reich-tum ersticken, die nicht mehr wissen, wo sie mit den ungeheuren Vermögen, die sie Jahr für Jahr aufspeichern, hin sollen, - es ist, sage ich, die „Rheinisch-westfälische Zeitung“, die vor ein paar Tagen aussprach, ihre Partei, die nationalliberale, müsse im Reichstag darauf dringen, daß der Kriegsminister mehr fordere, als er bisher gefordert hat.

(Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.)

Aber daß diese Herren, die ihrem sogenannten Patriotismus für Heeres- und Marine-rüstungen gar nicht genug tun können, die aber im Überflusse schwimmen, die in den letzten zwanzig Jahren Vermögen angehäuft haben, die an amerikanische Verhältnisse erinnern, - daß diese Leute sich verpflichtet fühlen, auch nur einmal ein paar Groschen auf dem Altar des Vaterlandes zu opfern, das fällt ihnen nicht ein.

(Sehr wahr! Sehr richtig! Bei den Sozialdemokraten.)

Das ist ein so trauriges Zeichen ihres sogenannten Patriotismus, daß man ihn sich erbärmlicher gar nicht vorstellen kann.

(Sehr richtig! Bei den Sozialdemokraten.)“

(Zitat Ende)

http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k11_bsb00002811_00130.html

 

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Der sozialdemokratische Abgeordnete v. Vollmar erklärte am 9. Dezember 1904:

 

„... wenn die Herren wirklich die Absicht haben sollten, einmal eine gründliche Ordnung in das jetzige Finanzchaos zu bringen, ohne dabei wieder ausschließlich die Minder-bemittelten zu belasten, wie es bisher ja jedesmal gegangen ist -, dann wird Ihnen nichts anderes übrig bleiben, als endlich eine direkte Einkommen-, Vermögens- oder Erbschafts-steuer einzuführen, deren Schaffung wir schon so und so oft vergeblich gefordert haben, gegen die Sie aus angeblich föderativen Gründen waren, während der wahre Grund wohl der ist, daß unsere besitzenden, herrschenden Klassen zwar recht gern Ausgaben bewilligen, die Ehre des Bezahlens aber lieber der Masse der Minderbemittelten überlassen…

http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k11_bsb00002811_00207.html


 

Der bayerische Zentrums-Abgeordnete Dr. Heim erklärte am 10. Dezember 1904 für seine Person - aber eben nur für diese:

 

"... ich stehe auf dem Standpunkt, dass man gegen die Reichs-Einkommensteuer und –Ver-mögensteuer ein Bedenken hat, das auf die Dauer nicht aufrechterhalten werden kann…"

http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k11_bsb00002811_00238.html

 

Der nationalliberale Abgeordnete Dr. Paasche erklärte am 10. Dezember 1904 :

 

"Meine politischen Freunde haben sich nie ablehnend dagegen verhalten, dass wir zur Deckung der wirklichen Bedürfnisse des Reichs auch direkte Steuern heranziehen können..."

http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k11_bsb00002811_00245.html

 

 

- 75 -

 

 

24.5

Reichssteuern vom Einkommen und Vermögen waren somit ein politisches Tabuthema. Dennoch erreichte Reichskanzler v. Bülow (1900 - 1909) im Jahre 1906 die Einführung einer Reichserbschaftsteuer. Sie war Teil eines steuerlichen Gesamtpakets, mit dem er die Schuldenwirtschaft des Reiches in den Griff bekommen wollte. Es gelang ihm aber nicht. Unter anderem erwies sich das Aufkommen aus der Reichserbschaftsteuer als zu gering.

           

Im Jahre 1909 unternahm Reichskanzler v. Bülow einen neuen Anlauf, um die Haushalts-defizite der Vergangenheit abzutragen. Die Entscheidung fiel zugunsten von Steuern auf den Massenverbrauch. Es sollte aber auch eine Beteiligung der finanziellen Oberschicht des Reiches an der Abtragung der Defizite erfolgen. Zu diesem Zweck sollten die Einnahmen aus der Reichserbschaftsteuer durch eine Gesetzesänderung um das Dreifache gesteigert werden. Das Gesetz von 1906 erfaßte nur eine Minderheit der möglichen Steuerfälle, da Kinder und Ehegatten befreit waren. Diese Steuerbefreiungen wollte v. Bülow im Jahr 1909 aufheben lassen.  Dafür fand er aber keine Mehrheit im Reichstag. Sein Rücktritt, der ohnehin bereits im Raume stand, wurde dadurch unvermeidbar. Es gelang v. Bülow jedoch zuvor, auf andere Weise die entstandene Finanzierungslücke zu stopfen. Die Alternative wäre eine Auflösung des Reichstages mit anschließenden Neuwahlen gewesen.

 

Die Finanzreform von 1909 verschaffte dem Reich keine ausreichenden Einnahmen für die Zukunft. Vielmehr wurden von 1909 bis 1911 die Ausgaben für das Heer abgesenkt und dadurch ein Beitrag geleistet, die Staatsfinanzen zu sanieren. Die Frage nach der Einführung direkter Steuern war mit dem Scheitern von Reichskanzler v. Bülow nicht aus der Welt geschafft, sondern ein weiteres Mal vertagt worden. Niemand wollte das heiße Eisen anfassen - im Januar 1912 stand eine Reichstagswahl an. Die Sozialdemokratie gestaltete diese zu einer Volksabstimmung über die Finanzreform 1909 - und errang einen Erdrutsch-Sieg.

 

24.6

Nach den Reichstagswahlen im Januar 1912 wurde die Frage einer Heeres- und Marine-verstärkung aktuell. Der Staatssekretär im Reichsschatzamt, Adolf Wermuth, forderte dafür eine Erhöhung der Erbschaftsteuer, wie sie 1909 beabsichtigt und gescheitert war. Der Reichskanzler lehnte ab; die Bundesstaaten wollten es nicht. Wermuth trat im März 1912 aus Protest von seinem Amt zurück. Sein Amtsnachfolger Hermann Kühn bekannte sich weiterhin zu dem Grundsatz „Keine Ausgabe ohne Deckung“ des Reichsschatzamtes. Er und der Reichskanzler vermochten jedoch nicht, die Abgeordneten der Budgetkommission des Reichstages davon zu überzeugen, dass die Finanzierung der Militärvorlagen 1912 durch ihre Vorschläge gesichert war. 

 

- 76 -

 

Der Reichstag unternahm gesetzgeberische Initiativen, um die Finanzierung der Rüstungs-mehrausgaben 1912 für die Zukunft zu erreichen. Es gab zwei Vorschläge bzw. Anträge:

 

  • durch die Abgeordneten Bassermann (Nationalliberale) und Erzberger (Zentrum).  Jeder für sich stellte einen Antrag, wobei die Anträge inhaltlich nichts miteinander zu tun hatten. Die Anträge wurden zu einem einzigen kombiniert, weil nur auf diese Weise eine parlamentarische Mehrheit zu erreichen war. Gibt man den kombinierten Antrag (Antrag a) sinngemäß wieder, so kann man wie folgt formulieren:

 

Die gesetzlich im Jahr 1909 beschlossene Ermäßigung der Zuckersteuer

tritt  6 Monate nach

Einführung einer allgemeinen, den verschiedenen Besitzformen

gerecht werdenden  Besitzsteuer

spätestens aber zum 1. Oktober 1916 in Kraft.

Der Gesetzentwurf über die Besitzsteuer ist dem Reichstag bis zum 30. April 1913 vorzulegen.

              

  • durch Abgeordnete der Fortschrittlichen Volkspartei. Sinngemäß lautete der Antrag (Antrag b):

 

Der Bundesrat wird aufgefordert, den im Jahr 1909 von ihm dem Reichstag vorgelegten Gesetzentwurf,  Steuerbefreiungen bei der Erbschaftsteuer aufzuheben, der damals im Reichstag scheiterte, erneut dem Reichstag zur Beschlußfassung vorzulegen, und zwar so rechtzeitig, dass er mit dem 1. April 1913 in Kraft treten kann.

 

Beide Anträge fanden im Reichstag eine Mehrheit.

 

Der Bundesrat stimmte dem ersten Beschluss des Reichstags - Beschluss a) - zur Einführung einer Besitzsteuer zu. Dadurch erlangte dieser Gesetzeskraft. Es handelt sich um das hier bereits in Abschnitt 9.5 erwähnte

 

"Gesetz über die Deckung der Kosten der Verstärkung von Heer und Flotte" vom 14. Juni 1912, Reichsgesetzblatt 1912 Seite 393.

 

In der Bezeichnung als „Lex Bassermann Erzberger“ kommt zum Ausdruck, dass es sich um die Kombination zweier unterschiedlicher Anträge handelt.

 

Mit ihrer Zustimmung zu Antrag a) erkannte die Mehrheit der Bundesstaaten an, dass die besitzenden Bevölkerungsklassen des Reiches über eine direkte Besitzsteuer zu den Rüstungsaufwendungen mit herangezogen werden sollten. Das war ein politischer Durch-bruch. Der  Abgeordnete Bassermann hatte sein Ziel, Reichstag und Bundesrat in einer rechtlich verpflichtenden Form auf die Einführung einer Besitzsteuer festzulegen, erreicht.

 

Die unlösbar erscheinende Streitfrage einer allgemeinen Besitzsteuer wurde in zwei Teile aufgespalten: einen Grundsatzbeschluss, der für alle zustimmungsfähig war, weil ihn ein jeder in seinem Sinne  auslegen konnte, und die zukünftig zu entscheidende Frage über ein Einzelsteuergesetz. Weder der Bundesrat noch der Reichstag hatten sich  festgelegt, was den Inhalt des künftigen Besitzsteuergesetzes anging - und doch war ein entscheidender Schritt nach vorwärts zu einer Einigung gelungen.

 

- 77 -

 

Die 1909 im Reichstag gescheiterten Änderungen der Erbschaftsteuer – der Antrag b) - scheiterten nunmehr im Bundesrat, sodaß es nicht zu einer erneuten Abstimmung über die Gesetzesänderungen im Reichstag kam. Damit vergab der Bundesrat – und das heißt in erster Linie das Königreich Preußen – die Chance, kurzfristig eine Besserung der Staatsfinanzen zur Finanzierung von Rüstungsausgaben herbeizuführen.

 

24.7

Die Notwendigkeit einer Heeresvorlage 1913 zwang die Bundesstaaten zu Zugeständnissen, die sie jahrelang abgelehnt hatten. Sie führte zu einem einmaligen außerordentlichen Wehrbeitrag (Reichsgesetzblatt 1913 Seite 505 ff.).  Von der Reichsleitung wurde er, entsprechend dem Willen der Bundesstaaten, als eine einmalige Zweckabgabe für die Heeresvorlage 1913 definiert, nicht als eine Steuer, die den Reichshaushalt zu finanzieren hatte. Die Steuerzahler sollten versichert sein, dass sich eine solche Abgabe nie, wirklich niemals wiederholen werde. Inhaltlich handelte es sich um eine Steuer. Die „besitzenden Klassen“ wurden erstmals direkt zur Finanzierung von Rüstungsausgaben herangezogen. Die Fürsten des Reichs erklärten sich bereit, ihren Anteil am Wehrbeitrag aufzubringen. Damit waren sie gut beraten. Außerdem wurde eine Besitzsteuer beschlossen, wie sie 1912 in der Lex Bassermann-Erzberger gefordert worden war. Sie sollte jetzt der Finanzierung der fort-dauernden Kosten der Heeresvermehrung 1913 dienen.

 

Der Reichstag stimmte mit der Reichsleitung darin überein, dass eine Kreditfinanzierung der Heeresvorlage 1913 nicht in Betracht kam. Das trat bereits in der ersten Lesung des Gesetz-entwurfs im Plenum des Reichstags als allgemeine Meinung zutage. Ebenso trat aber zutage, dass der Reichstag mit dem Inhalt der vorgeschlagenen Zweckabgabe keineswegs ein-verstanden war. Er entwickelte eine eigene Steuerkonzeption und setzte diese gegen die Bundesstaaten und die Reichsleitung durch. Die Annahme der Heeresvorlage machte der Reichstag davon abhängig, dass gleichzeitig Einvernehmen über den Wehrbeitrag und das Besitzsteuergesetz hergestellt wurde. Er ließ sich nicht unter Zeitdruck setzen, sondern setzte umgekehrt die Regierungen der Bundesstaaten unter Zeitdruck, den von ihm begehrten Änderungen zuzustimmen. Die Gesamtabstimmungen über das Heeresgesetz und den Wehrbeitrag fanden im Reichstag sämtlich am letzten möglichen Termin, dem 30. Juni 1913, statt. Es war ein politisches Kräftemessen zwischen der Reichsleitung bzw. den Bundesstaaten einerseits und dem Reichstag andererseits, was hier stattfand.

 

24.8                                                                                                                                 

Der Gesetzentwurf der Reichsleitung

 

Reichstagsprotokolle 13. Legislaturperiode 1912/14,19

Anlage Nr. 871 vom 28. März 1913

http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k13_bsb00003397_00398.html

 

sah eine einzige Steuer, nämlich eine einmalige Vermögensabgabe, vor. Sie sollte 0,5 % des Vermögens betragen, soweit dieses über 10.000 Mark lag. Als Korrektiv war vorgesehen, dass der Wehrbeitrag bei Einkommen von 50.000 Mark und darüber mindestens 2 % des Einkommens betragen sollte. Bei diesen Einkommen war eine Vergleichs-berechnung vorzunehmen: Wie hoch war das Vermögen, wieviel waren 0,5 % des Vermögens, wie hoch war das Einkommen, wieviel waren 2 % des Einkommens? Der jeweils höhere Betrag war als Wehrbeitrag geschuldet.

 

- 78 -

 

Der Reichstag änderte den Gesetzentwurf der Reichsleitung bzw. der Bundesstaaten ab. Er hielt die vorgeschlagene alleinige steuerliche Belastung des Vermögens nicht für angebracht. Die vorgesehene Korrektur über das Einkommen erschien willkürlich. Stattdessen sollte als Richtschnur die Leistungsfähigkeit der Steuerzahler dienen. Als Maßstab dafür hatte das laufende Einkommen zu gelten. Statt einer einzigen Vermögens-abgabe sollten unter dem Oberbegriff "Wehrbeitrag" zwei neue Abgaben unabhängig voneinander erhoben werden, eine einmalige Vermögensabgabe und eine einmalige Einkommensabgabe. Um deren Ausgestaltung ging die Diskussion.

 

Es kam zum Ausdruck, dass es eine absolute Steuergerechtigkeit nicht gibt. Es waren Kompromisse zu schließen.

 

Die beiden neuen Abgaben wurden unterschiedlich geregelt:

 

Vermögensabgabe: es galt ein Stufentarif.

Das steuerfreie Vermögen betrug 10.000 Mark. Bis zu Vermögen von 50.000 Mark und bei größeren Vermögen für die ersten 50.000 Mark betrug der Steuersatz 0,15 %. In den nächsten Stufen stieg der Steuersatz immer weiter an. Jeder Steuerpflichtige unterlag für sein Vermögen auf derselben Stufe demselben Steuersatz. Die höchste Steuerstufe wurde bei Vermögen über 5.000.000 Mark erreicht. Der Steuersatz für das Vermögen über diesem Betrag betrug 1,5 %. Stichtag für die Wertermittlung war der 31.12.1913.

              

Einkommensabgabe: es galt ein progressiver Tarif.

Das steuerfreie (Jahres-) Einkommen betrug 5.000 Mark. Bei einem (steuer-pflichtigen Jahres-) Einkommen bis zu 10.000 Mark waren 1 % des Einkommens zu entrichten. Der Steuersatz stieg dann in Sprüngen progressiv an. Bei (Jahres-) Einkommen von mehr als 500.000 Mark wurde der Spitzen-Steuersatz mit 8 % des Einkommens erreicht, der dann für alle höheren Einkommen unverändert blieb. Um die Tarifsprünge abzumildern, gab es eine Härteregelung. Maßgebend war das zuletzt oder gleichzeitig mit der Veranlagung des Wehrbeitrags festgestellte steuerpflichtige Einkommen.

 

Bei der Betrachtung der Steuersätze muss man berücksichtigen, dass die Steuererhebung auf drei Jahre verteilt wurde. Das nimmt der Spitzenstufe und dem Spitzensteuersatz ihre Schrecken.

 

Der Reichstag nahm damit eine Verlagerung der beabsichtigten Steuerlast weg von der einmaligen Vermögensabgabe im Entwurf der Reichsleitung hin zu einer einmaligen Einkommensabgabe vor. Der Vermögensabgabe wurde nur eine ergänzende Rolle zuerkannt. Es war eine mittelstandsfreundliche Regelung mit sozialen Komponenten. Die aus dem Heeresgesetz zu erwartenden Gewinne der Rüstungsindustrie wurden teilweise steuerlich abgeschöpft.

 

24.9

Bei der Erarbeitung der Steuerkonzeption des Reichstages arbeiteten Abgeordnete der bürgerlichen  Fraktionen auf der Suche nach einer mehrheitsfähigen Lösung in konstruktiver Weise zusammen. Sie wollten eine Mehrheit ohne die sozialdemokratischen Abgeordneten zustande bringen. In der Budgetkommission beschlossen die Abgeordneten 2 Lesungen. Das Ergebnis der 1. Lesung gefiel den Regierungen der Bundesstaaten nicht. Sie forderten Änderungen. Über sie äußerte sich Staatssekretär Kühn vom Reichsschatzamt am 25. Juni 1913 vor dem Reichstag wie folgt:

 

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„Nach den Beschlüssen der ersten Lesung wurden die Einkommen bis über 14 %, ja bis zu 18 % belastet. Diese Belastung erklärten die Regierungen (der Bundesstaaten, der Aufsatzverfasser) für zu hoch, und es ist auch ihrerseits darauf hingewirkt worden, dass der höchste Beitragssatz herabgesetzt wurde. In der zweiten Lesung hat sich demgemäß die Kommission dahin geeinigt, dass man bei einem Satze von 8 % Halt machen müsse…“

http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k13_bsb00003386_00606.html

 

Die Regierungen der Bundesstaaten hatten dem auf sie ausgeübten Druck „der Wirtschaft“  nachgegeben. Einzelne Abgeordnete zitierten Stellungnahmen von Wirtschaftsverbänden, in denen erbitterter Widerstand erhoben, ja sogar der wirtschaftliche Ruin des Reiches vorhergesagt wurde. Die Stellungnahmen werfen ein Schlaglicht auf die  politischen Machtverhältnisse im damaligen Deutschen Reich. Von einer Einsicht in die Notwendigkeit einer Reichs-Einkommensteuer zur Heeresfinanzierung war in „der Wirtschaft“ keine Rede.

 

Verhindern konnten die Bundesstaaten die Einkommensabgabe nicht - die militärische Lage zwang zu Zugeständnissen, die man  mehr als 40 Jahre hindurch strikt abgelehnt hatte. Der König von Sachsen reiste eigens nach Berlin, um den Wehrbeitrag zu verhindern, jedoch erfolglos. Aber einen Teilerfolg konnten die Bundesstaaten verbuchen:

 

Die Steuersätze für die „großen“ Einkommen wurden, wie von Staatssekretär Kühn dargelegt,  in der zweiten Lesung der Budgetkommission reduziert, mit steigender Reduzierungs-Tendenz nach „oben“. Am deutlichsten kam das in der Reduzierung des Spitzen-steuersatzes auf nur 8 % zum Ausdruck. Zum Ausgleich mußten die unteren Einkommens-segmente stärker belastet werden. Hierüber wurde im Reichstag gestritten.

 

Bei der Steuererhebung erwiesen sich die Steuersätze für die „großen“ Einkommen  als zu niedrig. Das Steueraufkommen blieb erheblich hinter den vom Reichsschatzamt geschätzten Voranschlägen zurück:

 

„Das Ergebnis der ersten Rate des Wehrbeitrags belief sich … auf etwa 315 Millionen Mark gegenüber einem Voranschlage des Reichsschatzamtes von etwa 417 Millionen Mark“.

Reichsarchiv; Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, Textband Seite 475

                                                                                                                                 

Der Voranschlag war eine grobe Fehlschätzung vermutlich aus politischen Motiven gewesen. Die Heeresverstärkung 1913 war unterfinanziert. Die Verantwortung dafür liegt bei den Bundesstaaten.

 

24.10

Über die Paragraphen des Wehrbeitrags-Gesetzes wurde im Plenum des Reichstags einzeln abgestimmt und zuguterletzt eine Gesamtabstimmung über den geänderten Gesetzentwurf herbeigeführt. Einen Fraktionszwang gab es nicht. Die Mehrheit stimmte zu, indem sich die jeweils zustimmenden Abgeordneten von ihren Plätzen erhoben.  Das Abstimmungsverhalten der einzelnen Abgeordneten ist daher nicht nachvollziehbar. Für den Wehrbeitrag stimmte, soweit ersichtlich, auch die sozialdemokratische Fraktion.  Sie betrachtete die in ihm liegende Einführung direkter Reichssteuern als ein Ergebnis der Reichstagswahl vom Januar 1912, die sie zur stärksten Fraktion im Reichstag gemacht hatte. Anscheinend stimmte auch die Mehrheit der Zentrumsfraktion zu. Bei den Konservativen ist eine weitgehende Ablehnung zu vermuten.

 

 

- 80 -

 

Der Beschluss des Reichstages wurde mit der Zustimmung des Bundesrates Gesetz. Sie war eine Formsache, da bereits vor der Gesamtabstimmung im Reichstag Ein-vernehmen hergestellt worden war.

 

Der Wehrbeitrag bewies, dass die Behauptungen der Kriegsminister v. Einem und v. Heeringen, die Finanzkraft des Reiches sei beschränkt, politische Zweck-propaganda waren. Die Behauptungen standen im Widerspruch zu dem in Teilen der Bevölkerung vorhandenen Wohlstand und der Wirtschaftskraft des Reiches. Die Masse der Bevölkerung wurde vom Wehrbeitrag nicht betroffen. Sie konnte von einem Jahreseinkommen von 5000 Mark allenfalls träumen.

 

24.11

Die Heeresvermehrung 1913 führte in der Zukunft zu einer Erhöhung der fortdauernden jährlichen Militärausgaben. Diese Erhöhung sollte unter anderem durch eine Besitzsteuer finanziert werden. Streitig war, ob die Besitzsteuer zentral durch eine Reichssteuer oder dezentral durch Besitzsteuern der einzelnen Bundesstaaten eingeführt werden sollte, wie es der Entwurf der Reichsleitung vorsah. Die konservative Fraktion im Reichstag machte daraus eine Grundsatzfrage. Die anderen Fraktionen lehnten diese Haltung ab und orientierten sich an der praktischen Handhabung des künftigen Gesetzes. Sie sprach für eine Reichssteuer.

 

Das im Reichstag verabschiedete Besitzsteuergesetz vom 3. Juli 1913 (Reichsgesetzblatt 1913 Seite 524 folgende) entschied zugunsten der Reichs-Besitzsteuer. Sie sollte erstmalig zum 1. April 1917 erhoben werden und sodann regelmäßig in dreijährigen Abständen. Als Steuergegenstand war der Vermögenszuwachs innerhalb eines Dreijahreszeitraumes zu erfassen. Ausgangsgröße war das Vermögen, das zum 31.12.1913 dem Wehrbeitrag unterworfen worden war. Nach Ablauf von 3 Jahren, zum 1.1.1917, sollte die Höhe des Vermögens erneut steuerlich erfaßt und festgestellt werden, ob ein Vermögenszuwachs stattgefunden hatte. Dieser war dann zu versteuern.

 

Es wurde namentlich abgestimmt. Die Mehrheit zugunsten des Besitzsteuergesetzes war überwältigend. Ohne die Stimmen der Sozialdemokraten wäre sie zweifelhaft gewesen.

 

24.12

Die Heeresvermehrung 1913 bedurfte einer Zwischenfinanzierung, bis die neuen Steuergesetze ab dem Jahr 10914 umgesetzt werden konnten. Zu diesem Zweck wurde der Reichskanzler ermächtigt, "zur vorübergehenden Verstärkung der ordentlichen Betriebsmittel der Reichshauptkasse nach Bedarf" Schatzanweisungen bis zu 600 Millionen Mark zu begeben.

 

 

22.  Mängel des deutschen Heeres von 1914

 

Kriegsminister v. Heeringen baute auf die "innere Güte" der eigenen Truppen. Versteht man darunter die Qualität des Heeres im weitesten Sinne, so handelte es sich um eine Illusion. Sie bestand darin, zu glauben, das Heer befinde sich hinsichtlich seiner Ausrüstung „auf der Höhe moderner Anforderungen“. So formulierte es der pensionierte General Friedrich v. Bernhardi in:

 

Das Heerwesen in Deutschland unter Kaiser Wilhelm II., zitiert aus

https://de.wikisource.org/wiki/Das_Heerwesen_(1914), Heeres-Vorlage 1912, am Ende

 

Das traf nicht zu.

 

- 81 -

 

Das deutsche Heer von 1914 war noch zu stark vom 19. Jahrhundert geprägt. Der Übergang ins technische Zeitalter des 20. Jahrhunderts war nur in unvollkommener Weise gelungen.  Zutreffend war die Beurteilung des Reichstagsabgeordneten Caspar Haeusler gewesen. In seiner Rede vor dem Reichstag am 9. April 1913 (siehe Abschnitt 20.1.7) sprach er zutreffend von einer "ganz bedenklichen Rückständigkeit (unserer Armee) in technischer Hinsicht". Einige Stichworte sollen hier gegeben werden.

 

22.1

Die Nachrichtenübermittlung in der Armee von 1914 wurde den militärischen Bedürfnissen nicht gerecht. Die damaligen technischen Möglichkeiten wurden nicht ausgeschöpft.

 

Die Kriegsminister v. Einem und v. Heeringen hatten gemeint, es genüge, ab und an ein weiteres Telegraphen-Bataillon zu schaffen. Hingegen hatte die Inspektion der Verkehrs-truppen bereits im Jahre 1901 hervorgehoben, "dass eine erfolgreiche Führung der heutigen Massenheere nur bei raschester und zuverlässigster Befehls- und Nachrichtenübermittlung" denkbar sei (Reichsarchiv, Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, I. Anlagenband, Zweiter Teil Seite 409).

 

Erforderlich war eine das ganze Heer umfassende Nachrichtentruppe. Dieses Ziel wurde erst mit der Heeresverstärkung 1913 ins Auge gefaßt. Zu diesem Zweck  wurden zum 1. Oktober 1913 drei oder vier neue Telegraphenbataillone sowie zusätzliche Funkerkompanien errichtet (siehe Abschnitt 14.3).  Eine Neu-organisation und eine teilweise Erneuerung der Materialausstattung waren beabsichtigt. Funkenstationen besaßen nur die Armeeoberkommandos und die Kavallerie-divisionen, nicht jedoch die Armeekorps. Die Motorisierung der Funkenstationen war bei Kriegsbeginn in Vorbereitung. Der Zustand war bei Kriegsausbruch 1914 nicht zufriedenstellend.

 

Die Etappentelegraphie steckte noch in den ersten Anfängen. Das Reichsarchiv schreibt (Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, I. Anlagenband, Zweiter Teil, Seite 438/439):

 

„Die Etappentelegraphie, die den Übergang von der auf dem Kriegsschauplatz tätigen Feldtelegraphie zur Reichstelegraphie zu vermitteln … hatte, stand unter Etappen-Telegraphen-Direktionen. … (sie) waren nicht in der Lage, ihrer Bestimmung entsprechend die Verbindungen einer Armee mit dem Großen Hauptquartier und der Heimat aufrechtzuerhalten…“

 

Kurz gesagt: Es fehlte an allem, was für eine Etappentelegraphie notwendig war. Die Organisation des Nachschubs konnte so nicht gelingen.

 

Ein Fiasko erlebte die Führung der Armeen durch den Generalstabchef v. Moltke im Großen Hauptquartier (seit Ende August 1914 in Luxemburg), weil die unmittelbare Kommunikation mit mehreren Armeeober-befehlshabern des rechten Heeresflügels in Nordfrankreich fehlte. Es wurde auch kein Versuch unternommen, eine solche herzustellen.

 

- 82 -

 

22.2

Das Ingenieur- und  Pionierkorps war personell unzureichend ausgestattet.

 

Colmar v.d. Goltz hatte bereits im Jahr 1900 - unter anderem - einen Ausbau der Pioniere gefordert. Im russisch-japanischen Krieg 1904/1905 hatte sich die Notwendigkeit des Ausbaus bestätigt, da Japan aufgrund seiner Pioniere gegenüber Russland im Vorteil war. Die Kriegsminister v. Einem und v. Heeringen glaubten, mit der Aufstellung einzelner neuer Bataillone den zukünftigen Anforderungen gerecht zu werden. Das war ein Irrtum. Das Reichsarchiv schreibt (Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, I. Anlagenband, Zweiter Teil, Seite 407):

 

„…(eine) Denkschrift des Ingenieur-Komitees vom 18. Februar 1910 kam zu dem Schluß, daß die Pioniere wegen ihrer geringen Stärke, wie mit Sicherheit vorauszusagen sei, … den Anforderungen der neuzeitlichen Kriegführung im Ernstfalle nicht würden Genüge leisten können.“ 

 

Erst mit dem Heeresgesetz 1913 wurde mit einem Ausbau begonnen, der den Forderungen von Colmar v.d. Goltz Rechnung tragen sollte.

 

22.3

Bei der Entwicklung und der Anschaffung von Flugzeugen sowie der Ausbildung von Flugzeugführern war Frankreich Deutschland zeitlich um zwei Jahre voraus. Es besaß eine erdrückende Luftüberlegenheit. Das preußische Kriegsministerium stand der Verwendung von Flugzeugen jahrelang ablehnend gegenüber. Im Jahr 1911 errichtete es eine Versuchs-abteilung; die Notwendigkeit einer Fliegertruppe sah man nicht als gegeben an. Deren Aufstellung erfolgte erst im Laufe des Jahres 1912, und auch nur in bescheidenstem Rahmen. Vorangetrieben wurde die Schaffung einer Fliegertruppe vom Generalinspekteur der Verkehrstruppen, Alfred von Lyncker (1907 bis Jan. 1913), und vom Generalstab.

                                                                                                                                             

Für den Obersten Ludendorff, den Leiter der 2. Deutschen Abteilung im Generalstab (Frühjahr 1908 bis 27.1.1913), war das Flugzeug das Aufklärungsmittel der Zukunft und für die Truppenführung durch den Generalstab unentbehrlich. Zwischen ihm und dem Kriegs-ministerium kam es im Jahr 1912 zu Auseinandersetzungen über die Anzahl der Flugzeuge, die sofort und sodann bis zum 31. März 1916 angeschafft werden sollten.

 

Ludendorffs Forderungen sind im Schreiben des Generalstabchefs an das Kriegsministerium vom 26.9.1912 enthalten (Dokument 17 in „Urkunden der Obersten Heeresleitung“ Heraus-geber Ludendorff, wiedergegeben als Anlage zu Aufsatz 9). Ludendorff ließ sich bei seinen Forderungen und Stellungnahmen von technischen Fachleuten beraten. Dies war ihm möglich, weil der Generalstab seit 1907 über eine technische Sektion verfügte, die der 2. Deutschen Abteilung angegliedert wurde. Sektionschef war Hermann Thomsen, der auch unter dem vollen Familiennamen von der Lieth-Thomsen bekannt ist. Er befaßte sich frühzeitig mit dem Flugzeugbau. Hinter den Stellungnahmen des Generalstabs darf man Thomsen vermuten. Später im 1. Weltkrieg  wude Thomsen eine zentrale Stellung im Fliegerwesen zugewiesen. Er gilt als Mitbegründer der Deutschen Luftstreitkräfte.

 

Im Jahr 1913 wurde die im Rüstungsprogramm des Generalstabchefs geforderte Erwei-terung der Flieger-organisation des Jahres 1912 in Angriff genommen.  Vorgesehen wurden neue Luftschiffer- und Flieger-Bataillone und die Errichtung einer Flugzeug-Mutterstation für  50 Flugzeuge in Berlin. Das deckte nicht einmal den dringendsten Bedarf ab. Ludendorffs Foderungen wurden nur zum Teil erfüllt.

 

Für jedes der 8 Armeeoberkommandos hatte der Generalstab 16 Flugzeuge gefordert; 6 Flugzeuge bewilligte der Kriegsminister. Das war Dummheit - ein anderes Wort ist nicht möglich. Die 14 Reservekorps erhielten keine Fliegerabteilungen. Eine erfolgreiche Feindaufklärung war dem Heere nur eingeschränkt möglich. Die Flugzeug-Mutterstation konnte vor dem Krieg nicht mehr gebaut werden.

 

Der deutsche Rückstand bei den Fliegern wurde bis Kriegsbeginn nicht ausgeglichen. 

 

 

- 83 -

 

22.4

Zu einer zweckmäßigen, zukunftsgerichteten Organisation für die Fliegertruppen vermochte sich das Kriegsministerium nicht zu entschließen. Der Generalstab (hier ist man wieder beim Obersten Ludendorff) und der General-Inspekteur des Militär-Verkehrswesens (meistens kurz Verkehrstruppen genannt), Alfred v. Lyncker, hatten im Jahr 1912 vorge-schlagen, die Fliegertruppen aus den Verkehrs-truppen herauszulösen und sie organisatorisch zu verselbständigen. Dabei wurde auf die zukünftig steigende Bedeutung des Flieger-wesens hingewiesen. Dem folgte das Kriegsministerium nicht. Es schuf eine

 

"Inspektion des Militär-Luft- und Kraft-Fahrwesens",

 

die der General-Inspektion des Militär-Verkehrswesens unterstellt blieb. Das war eine Fehlentscheidung. Was Flugzeuge und Kraftfahrzeuge gemeinsam  haben sollten, blieb das Geheimnis des Kriegsministeriums.  Von Alfred v. Lyncker behauptet sein Biograph Graf Seherr-Thoß (www.deutsche-biographie.de), er habe seinen Abschied vom Dienst im Januar 1913 deshalb genommen, weil er die Maßnahme nicht akzeptierte. Eine derartige Behauptung fand am 08. April 1913 über den Redebeitrag des Abgeordneten Müller (Meiningen) ihren Weg in den Reichstag. Kriegsminister v. Heeringen sprach von „Klatsch“.

 

http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k13_bsb00003385_00102.html

http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k13_bsb00003385_00110.html

 

Die General-Inspektion des Militär-Verkehrswesens mit der oben genannten Inspektion des Militär-Luft- und Kraft-Fahrwesens verblieb bei Kriegsbeginn in Berlin. Es stellte sich als unmöglich heraus, von dort aus die Fliegertruppe und ihr Nachschubwesen zu leiten. Die Nachteile waren schwerwiegend. Von einem organisatorischen Chaos bei den Fliegern ist die Rede. Ab März 1915 wurde beim Heer im Großen Hauptquartier die Stelle eines Chefs des Feldflugwesens eingerichtet und mit Hermann Thomsen als Leiter besetzt. Eine befriedigende Lösung war dies nicht.

 

Im Oktober 1916 setzte die Oberste Heeresleitung (Ludendorff war am 29.08.1916 General-quartiermeister geworden) die Schaffung der Position eines Kommandierenden Generals der Luftstreitkräfte durch. Ihm wurde Hermann Thomsen als Stabschef beigegeben (General durfte er anscheinend nicht werden!). Mit dem Kommandierenden General wurden die Luft-streitkräfte  zu einer selbständigen Teil-Streitmacht.

 

22.5

Frankreich hatte vor dem Krieg behauptet, bei der Feldartillerie überlegen zu sein. Im 1. Weltkrieg zeigte sich dann, dass diese Überlegenheit keine Illusion gewesen war. Sie beruhte vor allem auf dem Einsatz von Flugzeugen zur Feuerleitung und auf der Berücksichtigung von Witterungsbedingungen bei der Flugbahnberechnung. Im deutschen Heer war nur ein Teil der schweren Artillerie so ausgerüstet, dass er Witterungsbedingungen berücksichtigen konnte.

 

Mit der Aufgabe, ein indirektes Feuer unter Einsatz von Flugzeugen zu entwickeln, stand die deutsche Artillerie vor einer gänzlich neuen Herausforderung. Im Jahr 1912 war man  im Versuchsstadium. Die Zahl der  Flugzeuge für die Versuche war indessen zu gering. In einem Schreiben des Generalstabchefs an das Kriegsministerium vom 3.12.1912 (Dokument 19 in „Urkunden der Obersten Heeresleitung“ Herausgeber Ludendorff) heißt es:

 

 

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„Aus den mir zur Zeit vorliegenden Jahresberichten der General-Inspektion der Fuß-artillerie … und der Inspektion der Feldartillerie … geht übereinstimmend die Überzeugung hervor, hervor, dass die Feuerleitung der Artillerie in der Zielerkundung und Feuerbeobachtung aus Flugzeugen ein sehr wertvolles und für das Wirkungsschießen gegen völlig verdeckte Ziele durch andere Vorrichtungen nicht zu ersetzendes Hilfsmittel finden wird….“

 

Die Generalinspektion der Fußartillerie und die Inspektion der Feldartillerie beantragten daher eine dauernde Zuweisung von Fliegerabteilungen zu den Artillerie-Schießplätzen. Ob dem im Jahr 1913 entsprochen wurde und inwieweit 1914 der Artillerie überhaupt Flugzeuge zur Verfügung standen, ist dem Aufsatzverfasser nicht bekannt.

 

In der Ausstattung des Feldheeres mit schwerer Artillerie war das deutsche Heer allen anderen Armeen überlegen. Die leichten Feldhaubitzen des deutschen Heeres sollten eine qualitative Überlegenheit bei der Feldartillerie herbeiführen. Die erhofften Trumpfkarten stachen im Krieg aber nicht, weil es an Munition fehlte und die Feuerleitung nicht auf der technisch möglichen Höhe war.

 

Eine Gebirgsartillerie gab es im deutschen Heere nicht. Man hätte sie von Österreich-Ungarn beziehen können. Auf diese Idee kam aber niemand. In den Vogesen hätte eine Gebirgs-artillerie von Nutzen sein können.

                                                                                                                                             

22.6

Der militärische Einsatz von Lastkraftwagen (LKWs) für den Nachschub wurde frühzeitig erwogen. Der Generalstab schrieb unter dem Datum vom 12. April 1907 an das Kriegs-ministerium (Entwurf Hermann Stein, Reichsarchiv, Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, I. Anlagenband, Erster Teil A. Dokument Nr. 33):

 

„Die Schwerfälligkeit, die durch die Zahl der Mannschaften, Pferde und Fahrzeuge, durch Marschlängen und  Marschgeschwindigkeit bedingt ist, läßt sich nur durch Einführung zeitgemäßer Transportmittel mit Eigenbewegung beseitigen.“

 

Der General-Inspekteur der Verkehrstruppen, Alfred v. Lyncker (1907 – Anfang 1913), wies die Eignung von LKWs als Transportmittel nach.

 

Die Anschaffung von Kraftfahrzeugen durch das Heer galt als zu kostspielig. Man fand eine Ersatzlösung. Alfred v. Lyncker legte ein Heeres-Subventionsprogramm für den Kauf und den Unterhalt von LKWs durch Privatpersonen auf. Als Gegenleistung mußten sich die Subventionsempfänger verpflichten, im Kriegsfall dem Heer ihre LKWs zur Verfügung zu stellen. Das Subventionsprogramm wurde ein Erfolg; die Anzahl der LKWs im Deutschen Reich stieg an.

 

Im Jahre 1913 wäre es an der Zeit gewesen, für das Heer eigene LKWs zu beschaffen. Einige Tausend neue Lastkraftwagen wären dringender gewesen als neue Eskadrons Kavallerie. Der Generalstab legte im Jahr 1914 eigene Vorschläge für den Einsatz von LKWs vor. Aber so weit war man im Kriegsministerium nicht.

 

Das Kriegsministerium schuf für die General-Inspektion des Militär-Verkehrswesens in den Jahren ab 1911 ein Kraftfahr-Bataillon, das bis 1914 das einzige blieb. Man hoffte, bis in etwa 10 bis 15 Jahren (!) einen ausreichenden Bestand an geschultem Kraftfahr-Personal für den Kriegsfall heranbilden zu können (Reichsarchiv, Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, I. Anlagenband, Zweiter Teil Seite 415).

 

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Die Frage einer engeren Verbindung zwischen Train und Kraftfahrtruppe hielt das Kriegs-ministerium – wen wundert es? – „vorläufig noch nicht für spruchreif. Immerhin wurde in Aussicht genommen, in absehbarer Zeit auch den Train vereinzelt mit Lastkraftwagen auszustatten“. So schreibt es das Reichsarchiv (Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, I. Anlagenband, Zweiter Teil Seite 444). Worauf das Kriegsministerium wartete, ist rätselhaft.

 

Die Versorgungsschwierigkeiten des Heeres bei seinem Vormarsch im Westen in den ersten Kriegswochen hätten sich durch den Einsatz von LKWs vermindern lassen.

                                                                                        

22.7

Wenn sich Kriegsminister v. Heeringen auf die „Güte“ des deutschen Heeres verlassen wollte, so war dies eine Fehleinschätzung. Die Tapferkeit der Soldaten allein verbürgte keinen Sieg. v. Heeringen hatte dem Reichstag gegenüber selbst zugegeben, dass der von ihm gesehene deutsche Vorsprung im Schwinden war.

 

Ein qualitativ hochwertiges Heer war 1914 nur durch eine Nutzung aller technischen Möglichkeiten zu erhalten. Im preußischen Kriegsministerium wollte man aber abwarten, um zu sehen, wohin der Hase läuft. Fehlentwicklungen und Fehlinvestitionen sollten vermieden werden. Die Folge war eine technische Rückständigkeit des deutschen Heeres.

 

Es fehlte an der Einsicht, dass für die Ausrüstung des Heeres als Folge der technischen Entwicklung ungleich höhere Geldmittel aufgebracht werden mußten als zehn Jahre zuvor. Dies hätte politische Konsequenzen haben müssen, vor denen man zurückschreckte.

 

 

 

23. Kräftevergleich Dreibund – Triple-Entente

       (Anlage der Denkschrift des Generalstabchefs vom 21. Dezember 1912)

(Reichsarchiv, Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, I. Anlagenband, Erster Teil A. zu Dokument Nr 54)

 

Angesichts der bestehenden Bündnissysteme in Europa - Dreibund einerseits, Triple-Entente andererseits - ging Generalstabchef v. Moltke davon aus, dass sich aus einem militärischen Zusammenstoß zweier europäischer Großmächte zwangsläufig ein allgemeiner Krieg der beiden Bündnissysteme gegeneinander entwickeln werde. Für das Deutsche Reich bedeutete das einen Zweifrontenkrieg. Die Überlegenheit der Gegner bzw. die eigene Unterlegenheit in einem solchen waren durch eine Gegenüberstellung der beiderseitigen Streitkräfte zu ermitteln. Sie führte zu dem Ergebnis, dass

 

im Westen gegenüber Frankreich und britischem Expeditionskorps eine Unterlegenheit von 124 Infanteriebataillonen (ggf. zuzüglich  belgische Armee mit 68 Bataillonen) - das entsprach 10 Divisionen -

und

im Osten gegenüber Russland ohne Sibirien, das deutsche Heer und das Heer Öster-reich-Ungarns zusammengenommen, eine Unterlegenheit von 374 Infanterie-bataillonen  - das entsprach 31 Divisionen -

 

bestand. Das ergaben die „Kriegsspiele“, die der zuständige Leiter der 2. Deutschen Abteilung im Generalstab, der Oberst Ludendorff, durchzuführen hatte. Dabei wurde angenommen, dass das französische Alpenkorps durch die italienische Armee gebunden sein würde. Im Osten wurde davon ausgegangen, dass Rumänien auf der Seite der Mittelmächte in den Krieg eintreten werde; ferner wurde unterstellt, dass in Rußland einige Armeekorps im Inneren des Reiches zurückgehalten werden würden. Ein Kriegseintritt Englands als Mitglied der Triple-Entente wurde ohne weiteres unterstellt. Davon ging auch das Kriegsministerium aus (seit 1912).

 

- 86 -

 

Die Erfolgsaussichten des vom Generalstabchef im Westen, gegen Frankreich, beabsichtigten Feldzugsplanes lagen theoretisch, vom Schreibtisch im Generalstabsgebäude in Berlin aus betrachtet,  bei 50 %. Für die zu erwartende Wirklichkeit des Krieges mußte man davon Abstriche machen. Eine positive Erfolgsprognose ergab sich nur, wenn mindestens 3 neue Armeekorps aufgestellt wurden. Eine zahlenmäßige Überlegenheit der Gegner im Westen hätte auch dann weiterhin bestanden, aber sie wäre geringer ausgefallen.

 

Zur Klarstellung wird bemerkt, dass die Angaben über die französische und die russische Armee von den zuständigen anderen Abteilungen des Generalstabs stammten. Sie wurden der deutschen Abteilung zur Verfügung gestellt und von ihr übernommen.

 

Der preußische Kriegsminister v. Heeringen unternahm nichts, um die zahlenmäßige Überlegenheit der voraussichtlichen Gegner des deutschen Heeres im Westen wie im Osten zu vermindern. Das war unverantwortlich. Die Bildung zusätzlicher Einheiten hätte auch durch Planungen für den Kriegsfall, also für die Kriegsformation,  geschehen können. So war es mit der Bildung der 41. und 42. Division bzw. des XX. und XXI. Armeekorps gewesen. Sie war seit 1898 in der Kriegsformation des Heeres vorgesehen gewesen, bevor sie 1912 in der Friedensformation durchgeführt wurde.

 

Diese Möglichkeit wurde nicht genutzt, weil man Armeekorps, die bei Kriegsbeginn aufgestellt wurden, keinen Wert beimaß. Nach Kriegsausbruch 1914 mußte daher improvisiert werden. Das war eine schlechtere Lösung.

 

 

 

24. Verschlechterung der militärischen Lage des Reiches ab 1914?

 

Hätte sich die militärische Lage des Reiches, denkt man sich den Kriegsausbruch 1914 hinweg, in den folgenden Jahren verschlechtert?

 

Dies ist zu verneinen.

 

24.1

Frankreich hatte in den letzten Vorkriegsjahren seine militärischen Kräfte in einer extremen Weise gesteigert, die keiner weiteren Erhöhung zugänglich war, mit Ausnahme einer Vermehrung seiner Kolonialtruppen. Auf die Dauer konnte Frankreich das nicht durchhalten. Im Verhältnis zu Frankreich wurde das Deutsche Reich in den kommenden Jahren stärker und nicht schwächer. Das Reich konnte jederzeit neue (Friedens-) Divisionen aufstellen und seine zahlenmäßige Unterlegenheit im Westen vermindern.

 

24.2

Bei der russischen Heeresstärke war eine weitere Steigerung zu erwarten. Dem sollte nach dem Heeresgesetz 1913 durch einen Ausbau der Ostfestungen begegnet werden. Vor 1916 war nicht mit einer wirksamen Verstärkung der Festungen zu rechnen. Das mußte man in jedem Falle abwarten.

 

Notwendig war eine militärische Zusammenarbeit des Reiches mit Österreich-Ungarn. Dieses war von allen europäischen Großmächten diejenige, die 1914 am wenigsten kriegsbereit war. Eine Steigerung seiner Rüstung und Hebung der Qualität seines Heeres ließ sich nur durch eine deutsche Unterstützung erreichen. Sie hätte an die Bedingung eigener Anstrengungen geknüpft werden können. Das hätte der Regierung in Wien innen-politisch geholfen.  

 

- 87 -

 

Die fehlende Vorkriegs-Zusammenarbeit war es, die letztlich zur Niederlage der Monarchien Österreich-Ungarn auf dem Schlachtfeld im September 1914 führte.

 

Die Vielfalt der Völker in der k.u.k. Armee war vorgegeben. Jeweils 22 % der Einwohner der beiden Monarchien bekannten sich zur deutschen bzw. zur ungarischen Zunge. Die Mehrheit der Einwohner entfiel auf slawische Völker. Die notwendige Einheitlichkeit in der Vielfalt der Armee ließ sich nur durch eine Steigerung der Anzahl der Soldaten deutscher Zunge erreichen, also durch Beimengung von Soldaten des deutschen Heeres und/oder deutscher Einheiten. Das Sprachenproblem war ein zentrales Thema dieser Armee. Sie kannte drei Kommando-sprachen: deutsch, serbo-kroatisch und ungarisch. Die sprachliche Verständigung innerhalb der Armee war nicht gewährleistet. Aus eigener Kraft konnte die Armee dies nicht lösen.

 

Die Armee Österreich-Ungarns 1914 war um 20 oder 30 Jahre hinter der Zeit zurück-geblieben. Die Artillerie, einstmals die Stärke der Armee, verfügte über keine neuzeitlichen Geschütze. Über Prototypen war man nicht hinausgekommen. Die Rüstungsindustrie konnte hochwertige Geschütze liefern. Es kam aber nicht dazu. So, wie die Armee beschaffen war, hatte sie keinerlei Erfolgsaussichten gegen Russland, von ihrer zahlenmäßigen Unterlegenheit ganz abgesehen. Und das wussten alle Generalstabchefs in Europa. Ob es auch der deutsche Reichskanzler wußte, ist unklar.

 

24.3

Der kategorische deutsche Imperativ lautete, Österreich-Ungarn solle seine Rüstung verstärken. Dabei wurde ausgeblendet, dass dies aufgrund innenpolitischer Schwierigkeiten nur in eingeschränktestem Umfang möglich war.

 

Das Kaiserreich Österreich hatte in den Schlachten von Solferino 1859 gegen die italienisch-französische Armee und von Königgrätz 1866 gegen die preußische Armee den Todesstoß erhalten. Seither befand es sich in einer Agonie. Das Zeitalter der Nationalstaaten war angebrochen. Die tschechischen Politiker hatten die Bevorzugung Ungarns, das 1867 seine Unabhängigkeit erhielt, niemals akzeptiert und forderten einen eigenen Staat. 1913 kam es im Kaiserreich Österreich zu einer akuten Staats- und Verfassungskrise. Das Kronland Königreich Böhmen war unregierbar geworden. Der Historiker Friedrich Prinz schreibt (Geschichte Böhmens 1848 – 1948 Seite 199):

                                                                                                                                       

„In dieser Lage entschloß sich die Regierung (in Wien, der Aufsatzverfasser) am 25. Juni 1913 zu der psychologisch äußerst ungünstigen Suspendierung der böhmischen Landes-verfassung und der gesamten Landesautonomie…“

 

Ein Dauerzustand konnte das nicht sein. Eine politische Lösung fand die Wiener Regierung aber nicht – wenn es eine solche überhaupt gab. Die Regierung in Berlin stand den Ereignissen hilf- und ratlos gegenüber, obwohl das Deutsche Reich von einem Zerfall des Kaiserreiches Österreich unmittelbar betroffen wurde.

 

24.4

Das deutsche Desinteresse an Galizien und den dort herrschenden katastrophalen hygienischen und sozialen Verhältnissen ist unbegreiflich. Die Bevölkerung Galiziens konnte sich nicht aus eigener Kraft aus ihrer unbeschreiblichen Armut, richtiger: ihrem unbeschreiblichen Elend,  emporarbeiten. Sie bedurfte der Hilfe von außen. Der Gedanke an Oberschlesien und seine Sicherheit hätte ein deutsches Engagement nahelegen müssen. Das hätte sich auch militärisch ausgezahlt. Aus geographischer Sicht bot Galizien die Möglichkeit, einen Verteidigungskrieg gegen Rußland vorwärts der deutschen Grenzen zu führen. Die Herstellung einer tragfähigen Verkehrs-Infrastruktur war wünschenswert.

 

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24.5

Das Deutsche Reich erwartete für die Zukunft eine Stärkung seiner militärischen Kraft. Im Oktober 1914 sollte die Friedensstärke des Heeres um weitere 60.000 Wehrpflichtige erhöht werden. Vom Oktober 1915 an war mit zusätzlichen Reservisten zu rechnen; man hätte in der Zukunft weitere Reservedivisionen bilden können.

 

An einer Verbesserung der Munitionsausstattung wurde gearbeitet und ebenso an einer Verbesserung der militärischen Infrastruktur, die im Kriege erforderlich war. Die Flieger-abteilungen waren zu vermehren. Die Ostfestungen brauchten Zeit zum Ausbau.

 

Aus deutscher Sicht sprach alles dafür, einen Krieg nach Möglichkeit hinauszuschieben.

 

Aus politischer Sicht wäre ein Präventivkrieg unverantwortlich gewesen. Jedermann wußte, dass, so wie die Dinge 1914 lagen, jeder Angriff einen Weltkrieg auslösen würde. Da ging es für das Deutsche Reiich um Sein oder Nichtsein. Das durfte man nicht mutwillig heraufbeschwören.

 

 

25. Kriegsminister Erich v. Falkenhayn (Juli 1913 bis Anfang 1915)

       Hier: Heeresorganisation

 

Dem Reichskanzler wäre zu wünschen gewesen, endlich einen Kriegsminister zu finden, der ihn sachgerecht unterrichtete. Das erfüllte sich nicht. Erich v. Falkenhayn  hatte sich dem Kaiser durch seine Tätigkeit bei den Kaisermanövern empfohlen und verdankte seine Ernennung zum Kriegsminister dessen Vertrauen. Daraus ergab sich seine Befähigung. Die irreführende Informationspolitik seiner Amtsvorgänger fand eine Fortsetzung. Am 8. Juli 1914 richtete v. Falkenhayn ein Schreiben an den Reichskanzler (Reichsarchiv, Kriegs-rüstung und Kriegswirtschaft, I. Anlagenband Nr. 66). Darin heißt es unter anderem:

 

"Die Armee braucht unbedingt noch einige Zeit Ruhe, um sich mit den Folgen der großen Wehrvorlage von 1913 abzufinden... Eine neue Heeresvermehrung käme zur Zeit also einer Verwässerung und Verschlechterung gleich. Sie wäre daher zwecklos...."

 

Es ging um die Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht. Von der Bildung neuer Divisionen war nicht die Rede. Der Kaiser wollte sie nicht. v. Falkenhayn folgte seiner Vorgabe. Eine Erhöhung der Kriegsstärke gehörte nicht zu seinem Programm Der Reichskanzler wird nicht darüber unterrichtet, was er zur Verbesserung der militärischen Lage des Reiches tun kann. Das war ein illoyales Verhalten und eine grobe Pflichtwidrigkeit. 

 

Im Übrigen waren die Behauptungen v. Falkenhayns falsch:

 

  • Mit dem Ausdruck „sich … abfinden“ sollte der Eindruck erweckt werden, als empfinde die Armee die Wehrvorlage als etwas Negatives. Das traf nicht zu. In weiten Kreisen des Heeres herrschte Erleichterung vor, dass endlich etwas Durchgreifendes geschah. Man war froh, endlich sinnvolle Arbeit leisten zu dürfen, anstatt sich Frustrationen über unbefriedigende Zustände hinzugeben.

 

  • In einer weiteren Vermehrung eine "Verwässerung und Verschlechterung" des Heeres sehen zu wollen,  war abenteuerlich. Es war die Fortsetzung der Argumentationsweise des einstigen Kriegsministers v. Einem. Gerhard Tappen, als Leiter der 2. Deutschen Abteilung im Generalstab Ludendorffs Nachfolger ab 28. Januar 1913, sprach von einem "Schlagwort". Er sah es umgekehrt: es mussten alle Kräfte angespannt werden.

 

 

 

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Nur wenige Wochen später sah sich Kriegsminister v. Falkenhayn dazu veranlaßt, neue Formationen zu improvisieren. Sie hatten nur einen geringen Kampfwert. Bei Ypern mußten diese Formationen gegen die britische Berufsarmee kämpfen. Sie bestanden aus ungedienten Wehrpflichtigen, denen in Schnellkursen von einigen Wochen eine notdürftige Ausbildung vermittelt worden war. Deren Überlebenschancen waren gering. Der Volksmund prägte dafür die Bezeichnung "Kanonenfutter". Die britische Armee rühmte sich damals, das beste Kleingewehrfeuer aller Armeen der Welt zu unterhalten. Tausende von jungen Männern starben in diesem Feuer, in einem Unternehmen, das von vornherein kaum Aussicht auf Erfolg hatte. Eine erfolgversprechende Alternative gab es, v. Falkenhayn wollte sie aber nicht beschreiten.

 

Mit der Unterlassung im Frieden, neue Verbände zu bilden, forderte v. Falkenhayn eine Niederlage im Kriegsfall geradezu heraus. Hier wurde in unverantwortlicher Weise mit dem Schicksal von 67 Millionen Menschen gespielt. Denn v. Falkenhayn kannte die militärische Lage des Reiches und wußte genau, was er tat.

 

26. Unvollständige Heeresorganisation bei Kriegsausbruch 1914

       Keine Vollendung der Heeresvermehrung 1893

 

Die Heeresorganisation war bei Kriegsausbruch 1914 unvollständig. Wie in Abschnitt 11 ausgeführt, existierten bei der Infanterie 14 „überzählige“ Regimenter bzw. 5 „überzählige“ Brigaden  (jeweils ohne Garde), die man zur Bildung neuer Divisionen und Armeekorps hätte heranziehen können.  Den Sachstand beschrieb der pensionierte General Friedrich v. Bernhardi damals in zutreffender Weise wie folgt:

 

"... die Gesamtorganisation (des Heeres) kann nicht als abgeschlossen betrachtet werden, da die höheren Verbände für zahlreiche überschießende Truppenteile fehlen..."

        

         Das Heerwesen in Deutschland unter Kaiser Wilhelm II., zitiert aus

https://de.wikisource.org/wiki/Das_Heerwesen_(1914),

Heeres-Vorlage 1913 im letzten Absatz

 

"Überschießende Truppenteile" waren die in diesem Aufsatz aufgeführten überzähligen fünften Brigaden und überzähligen Regimenter. "Höhere Verbände" waren die ihnen überzuordnenden Divisionen und Armeekorps, die neu zu schaffen gewesen wären.

 

Die hier angesprochenen überschießenden Truppenteile existierten schon seit 1897. Warum die Bildung und Ausstattung der höheren Verbände bis zum Kriegsbeginn 1914 nicht durchgeführt wurde, erschließt sich dem rückblickenden Betrachter nicht.

 

Die Heeresvermehrung, die 1893 begonnen hatte, war nicht zu Ende geführt worden. Das Königreich Preußen scheiterte an der Aufgabe der Heeresorganisation und richtete dadurch das von ihm dominierte Deutsche Reich zugrunde.

 

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Teil C Kriegsniederlage

 

gesondert abgespeichert


 

 

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